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Die Stifter

Etwas über Stiftungen

Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahre 2005 hat Erstaunliches über moderne Stifter herausgefunden. Früher waren Stifter bereits tot, wenn ihr Stiftungswerk anfing aktiv zu werden. Heutzutage sind ungefähr achtzig Prozent schon zu Lebzeiten als Stifter tätig. Dies hängt vor allem mit dem veränderten Charakter der Stiftungen zusammen. Viele Stiftungen dienen heute als Rahmen für ein gemeinnütziges Tätigkeitsfeld, in dem sich neben den Stiftern selbst auch viele andere Menschen aktiv mit einbringen können. Sinn und Zweck dieser Stiftungen sind nicht die Gewinne.

Viele der Stifter sind inzwischen auch keine alten Leute mehr, sondern stehen im Vollbesitz ihrer physischen und geistigen Kräfte. Und was ganz wichtig ist: man muss als Stifter nicht mehr vermögend sein! Nur knapp zwanzig Prozent der heutigen Stifter verfügen noch über ein Vermögen über 250.000 Euro. Die meisten kommen mit deutlich weniger als 100.000 Euro aus. Moderne Stifter sind gebildet, viele sind religiös oder stark sozial engagiert.

Trotzdem glauben viele, dass eine Stiftung etwas sehr Ungewöhnliches sei. Argwöhnisch wird vermutet, dass es sich bei einer Stiftung um ein Sammelbecken von Steuerflüchtlingen, Erbschleichern und Geizkragen handle. Nicht wenige Menschen gehen darüber hinaus davon aus, dass Stiftungen Geldwaschanlagen sein könnten. Für misstrauische Mitbürger sind die Stiftungen daher äußerst suspekt und werden nur zum Zwecke des privaten Vergnügens der Stifter betrieben. Dieser Argwohn gegenüber Stiftungen hat sich quer durch alle Bevölkerungsschichten bis in die Gegenwart erhalten.

I

Verkehrsfunk von Antenne-Brandenburg

Montag, 23. Oktober 2006


... und hier eine neue Meldung von unserem Mann über den Wolken, Verkehrsflieger Bodo Glock:

»Also, ich kreise hier gerade über einem Stau auf der Fernverkehrsstraße B 2, kurz hinter Biesenthal. Hier scheint sich ein größerer Unfall ereignet zu haben. Die Straße ist vollständig gesperrt. Bitte umfahren Sie Biesenthal großräumig und nutzen Sie die B 109, um weiter Richtung Norden zu kommen. Für die Pendler nach Berlin empfehle ich die Umfahrung über Wandlitz.«

Ja, liebe Hörer, Sie haben es gehört, was da unser Verkehrsflieger Bodo Glock gerade durch den Äther geschickt hat. Also bitte Vorsicht auf den Straßen Brandenburgs. Denken Sie daran, aufkommender Nebel und nasse Fahrbahnen sind ein Grund mehr, etwas vorsichtiger zu fahren.

II

Lutger von Quappendorff


Etwas genervt von der Störung durch den Verkehrsfunk drehte Lutger von Quappendorff an seinem Autoradio. Er war sowieso schon schlecht gelaunt an diesem trüben Herbstmorgen. Sein Terminplan war zum Bersten gefüllt mit wichtigen Meetings und Besprechungen.

Dieser Tag draußen auf dem alten Gut passte ihm überhaupt nicht, aber er war schon lange geplant. Nach jedem der vierteljährlichen Treffen vereinbarten die fünf Stifter den nächsten Termin. Alle nahmen dabei Rücksicht auf seine Terminplanung, denn die vier übrigen Stifter wussten über seine knappen Wochenplanungen Bescheid.

Dass er an diesem Klamauk teilnahm, war sowieso nur dem guten Zureden seines Onkels zu verdanken. Eigentlich hatte er für solche Projekte gar nichts übrig. Seine Welt war einfach ein paar Nummern größer. Immerhin war er Investment Operator bei einer renommierten, international tätigen Holding und leitete seit kurzem deren Expansionsabteilung »Middle Europe«. Also auf gut deutsch war er für die neuen Geschäftsfelder in Ostdeutschland, Polen und dem Baltikum zuständig. Die Anzahl der Projekte war zwar noch gut überschaubar, aber immerhin ... Er nahm teil an allen wichtigen Vorstandssitzungen, er durfte wichtige Interna einsehen und ihm war gestattet mit einer großen, edlen Limousine als Dienstwagen durch das Land zu kurven.

Lutger trug Designeranzug, band sich jeden Morgen äußerst sorgfältig eine dezent gemusterte Krawatte, benutzte nur die teuersten Duftwässerchen und leistete sich eine Frisur, die mindestens einmal pro Woche nachgebessert werden musste, um perfekt auszusehen. Zweimal wöchentlich besuchte er ein Fitness-Studio, dreimal joggte er durch den Tegeler Forst. Ihm war seine äußere Erscheinung stets sehr wichtig. Mühsam hatte er sich einen federnden Gang angewöhnt, den er einmal bei amerikanischen Schauspielern in einer Serie über Banker und Manager gesehen hatte.

Überhaupt hatte er sein Ideal in den Kreisen des US-amerikanischen Großkapitals gefunden. Hier spürte er die Macht über Geldströme und damit über das Schicksal ganzer Wirtschaftsbranchen, hier konnte er den süßlichen Geruch des Luxus förmlich spüren und hier wurde in einer Sprache gesprochen, die ihm suggerierte, wer hier wirklich Ahnung von den geheimen Strukturen der Welt hatte.

Sein etwas widerborstiges Haar bändigte er mit Unmengen Gel und gab sich so einen smarten, stromlinienförmigen Look. Stets gehörte auch ein Päckchen Chewing Gums, früher auch als Kaugummis bezeichnet, zu seiner Ausrüstung. Lutger wollte immer einen superfrischen Eindruck hinterlassen.

Jetzt war es wieder mal soweit. Die vielen Autos, die ihm den Weg verstopften, nervten. Er spürte förmlich, wie der Ärger in ihm aufstieg und sich als leicht säuerlicher Geschmack auf seiner Zunge manifestierte. Nervös fingerte er in seinen Taschen nach den länglichen Streifchen herum, wovon er sich gleich zwei in den Mund schob. Eine Welle frischen Pfefferminzgeschmacks machte sich in ihm breit und Lutger atmete dreimal heftig durch. Er hatte sich extra aus den USA eine Sorte Chewing Gum per Internet bestellt, die mit ihrer Superfrische und totalen Minzigkeit warb. Nun, die Herstellerfirma hatte nicht übertrieben. Tränen schossen ihm in die Augen und er hatte das Gefühl eine Sauerstoffvergiftung zu bekommen. Nach knapp zwanzig Sekunden konnte er wieder normal atmen und den Verkehr beobachten.

Er stand mit seinem dunklen Audi A 6 in einer Reihe mit Fernlastzügen, Baufahrzeugen, Kastentransportern und Kombis. Die Nobelkarosse stach aus der Blechschlange heraus wie ein außerirdisches Raumschiff. Lutger fluchte leise vor sich hin, wieso an diesem Tag so viele Autos herum schlichen.

Normalerweise war hier kaum Verkehr. Aber ausgerechnet dann, wenn er sowieso schon etwas Zeitdruck hatte, musste es sich hier stauen. Ihm fiel wieder die Meldung aus dem Verkehrsfunk ein. Natürlich, nur so konnte er sich das Desaster erklären. Einer der technisch minder bemittelten Bauerntölpel hatte bestimmt seinen Trecker an den Baum gesetzt und so die Vollsperrung ausgelöst. Die Vorstellung belustigte ihn sichtlich und er fand es schade, dort nicht vorbei fahren zu können.

III

Die Fernverkehrsstraße zwischen Biesenthal und Lankenhorst

Montag, 23. Oktober 2006


Nur noch ein vollkommen deformierter Blechklumpen war von dem Fahrzeug übrig geblieben. Der Aufprall musste bei recht hoher Geschwindigkeit passiert sein. Mindestens hundert Stundenkilometer, vielleicht sogar noch mehr. Der Alleebaum, der von dem Wagen erfasst worden war, wies tiefe Risse in seiner Rinde auf. Auch die Leitplanke an der rechten Seite war vollkommen demoliert. Feuerwehr, Rettungswagen und Polizei standen auf der Straße. Zwischen dem Wrack und den Einsatzfahrzeugen hasteten Uniformierte hin und her. Es herrschte routinierte Unruhe.

Alle wussten, was zu tun war, alle waren konzentriert bei der Sache und man merkte allen die nervliche Anspannung an. Zwei riesige Feuerwehrleute mühten sich mit Schneidbrennern am Wrack.

Aus dem Innern drang ein leises Wimmern. Eine junge Frau in Polizeiuniform sprach beruhigend auf die unbekannte Person ein, die sich da vorsichtig bemerkbar machte.

Zwei Weißkittel aus dem Rettungswagen hatten bereits eine Trage und diverse Apparaturen bereitgestellt. Den Feuerwehrleuten rann der Schweiß in kleinen Bächen übers Gesicht. Mühsam nur kamen sie mit ihren Schneidbrennern voran. Endlich erschien eine Hand, die kraftlos aus dem scharfkantigen Blech hing. Einer der beiden Sanitäter schrie kurz auf: »Stopp!«

Die beiden Hünen mit dem Schneidbrenner hielten inne. Ein Mann in Weiß und seiner grell orangefarbenen Weste sprintete herbei. Mit einer Taschenlampe leuchtete er in das dunkle Wrack. Was sich ihm da für ein Anblick bot, ließ ihn kurz zögern.

Er war schon einiges gewöhnt in seinem Job als Unfallsanitäter, aber dies war selbst für ihn etwas zu viel. Dass die Frau überhaupt noch am Leben war, schien ein biologisches Wunder zu sein. Ein trostloses Szenario bot sich dem Betrachter. Das Lenkrad hatte sich tief in den Oberkörper der Frau gepresst. Der Airbag war aus unerfindlichen Gründen nicht aufgegangen. Quer über das Gesichtsfeld zog sich eine tiefe, blutende Wunde. Das linke Auge war nur noch als ein großer, blutiger Krater wahrzunehmen. Aus dem Mund lief ein rotes Rinnsal. Das Armaturenbrett war auf die Oberschenkel gedrückt worden, so dass man nicht sehen konnte, welche Verletzungen im unteren Bereich des Körpers passiert waren. Die Verletzte schien etwas sagen zu wollen. Ein kraftloses Gemurmel bewegte die Lippen der Frau.

Der Rettungssanitäter versuchte sich bemerkbar zu machen: »Hallo, können Sie mich sehen? Hören Sie mich?«

Immer wieder sprach er eindringlich diese kurzen Fragen aus und beobachtete dabei die Gesichtsmimik der Verunglückten. Ein winziges Zucken durchlief plötzlich ihr Gesicht, so als ob aus weiter Ferne etwas an sie herangekommen war. Dem Sanitäter erschien dieses Zucken wie ein angedeutetes Lächeln.

Er winkte die junge Polizistin herbei, die nur wenige Meter neben dem Wrack stand. Gemeinsam leuchteten sie mit ihren Taschenlampen in den dunklen Schacht, der vor wenigen Minuten noch eine behagliche Fahrerkabine war. Die Polizistin starrte auf die sich bewegenden Lippen der schwer verletzten Frau. Irgendetwas schien sie da zu verstehen. Nur wenige Worte. Es klang wie »anderes Auto« und »Geisterfahrer«.

Der Sanitäter schob die junge Polizistin wieder zur Seite. Dabei schüttelte er nur schweigsam den Kopf. Man könne nichts tun im Moment. Nur warten.

Motorengeräusch drang durch den dichten Nebel. Ein weiteres Polizeiauto traf ein. Eine gedrungene Gestalt in Uniform stieg aus. »Morjen! Polizeihauptmeister Roderich Boedefeldt! Wer hat denn hier den Unfall jemeldet?«

Die junge Polizistin drehte sich ihm zu. »Das war ich. Polizeianwärterin Marion Illert.«

»Was ist denn jenau passiert? Jibt et Tote? Verletzte?«

»Tja, so genau kann das keiner im Moment sagen. Es sieht erst einmal so aus, als ob wir hier einen Totalschaden haben. PKW. Ein Insasse. Eine Frau. Alter unbestimmbar im Moment. Schwer verletzt. Nicht transportfähig. Unfallursache unbekannt. Hier ist eine gerade, ziemlich wenig befahrene Allee, trotzdem scheint das Auto von der Fahrbahn abgekommen zu sein und ist dann mit hoher Geschwindigkeit frontal an einen Baum geprallt. Die Wucht des Aufpralls muss so groß gewesen sein, dass sich der Wagen nach dem Aufprall die kleine Böschung hinab überschlug und mehrmals um die eigene Achse drehte. Dass die Insassin noch lebt, grenzt an ein Wunder.«

»War ein anderes Auto involviert in den Unfall? Vielleicht Fahrerflucht?«

»Wir konnten bisher keinerlei Anhaltspunkte für ein zweites Auto feststellen. Keine Reifenspuren. Keine Lackspuren am Wrack, die nicht dem Unglückswagen zuzuordnen sind. Vielleicht ergibt eine genauere Untersuchung noch etwas Brauchbares. Wer weiß, vielleicht hat die Frau im dichten Nebel irgendwelche Schatten gesehen und dann in einer Panikreaktion das Lenkrad verrissen. Doch die Insassin ..., die hat etwas gemurmelt von einem anderen Auto. Es klang nach »Geisterfahrer«, was ich da von ihren Lippen ablesen konnte.«

»Wissen wir denn schon, wer die Frau ist, die da im Wrack liegt?«

»Nein. Leider nicht.«

»Die Überprüfung des Kennzeichens hat schon erste Ergebnisse erbracht?«

»Ja. Das Auto ist auf einen Herrn Wolfgang-Adalbert Hopf aus Berlin-Reinickendorf zugelassen. Immobilienmakler bei Hopf & Partner Real Estate.«

»Aber was da im Auto sitzt, ist eindeutig eine Frau, oder?«

»Ja, eindeutig. Wir haben Herrn Hopf bereits telefonisch informiert. Er ist auf dem Weg hierher. Er ließ sich leider nicht davon abhalten ...«

Die junge Polizistin hatte den Satz noch nicht richtig beendet, als ein großer Daimler mit voll aufgeblendeten Lichtern aus südlicher Richtung mit stark überhöhter Geschwindigkeit heranbrauste. Am Steuer saß ein Mittfünfziger mit verkniffenen Gesichtszügen. Er lenkte den Wagen direkt an die Unfallstelle, stieg hastig aus und sagte bloß das kurze Fragewort »Wo?«.

Es war nicht sehr laut ausgesprochen worden, aber alle hatten es vernommen. Einen kurzen Augenblick herrschte Totenstille. Dann räusperte sich Boedefeldt und ging auf den Mann zu. »Kommen Sie.«

Der Mann folgte ihm. »Lebt sie noch?«

»Ja. Aber ihr Zustand ist kritisch.«

Der Mann stand wie erstarrt vor dem Unfallwagen. Ungläubig schaute er auf den Blechhaufen. »Ist sie noch da drin?«

»Ja. Wir können nicht mehr tun, als abzuwarten. Sie ist nicht bei Bewusstsein. Bitte schauen Sie nicht hinein. Behalten Sie Ihre Frau so in Erinnerung, wie sie bis vor kurzem noch aussah.«

Hopf sah Boedefeldt mit einem kritischen Blick an. Was der dicke Polizist da sagte, klang wie aus einem schlechten Heimatfilm. Er war kein zart besaiteter Mensch, konnte auch Negatives ertragen ohne mit der Wimper zu zucken.

Wortlos schob er den Polizisten zur Seite und schaute in das Wrack hinein. Einen Augenblick dauerte es, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Dann sah er sie. Eingequetscht, blutüberströmt, ohne Lebenszeichen. Ihm war in diesem Moment klar geworden, dass er eine bereits aus dem Leben Gegangene sah. Diese nur noch in letzten Energiequanten bebende Biomasse war einmal seine Frau gewesen: Irmingard Hopf von Quappendorff.

IV

Auszug aus dem Unfallprotokoll

B-IHQ 3463 / Hopf, Irmingard

... lässt sich eine Fremdverschuldung ausschließen. Der Wagen der Verunglückten ist mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund eines Fahrfehlers von der Fahrbahn abgewichen und mit überhöhter Geschwindigkeit frontal mit einem Alleebaum zusammen gestoßen. Die Vermessung des Bremswegs lässt auf eine Aufprallgeschwindigkeit von mindestens 120 km/h schließen. Zeugen des Unfallhergangs konnten nicht ermittelt werden.

R. Boedefeldt

Polizeihauptmeister

V

Irmingard Hopf von Quappendorff


Was war das nur für ein unsäglich schlechter Scherz, den sich Wolfgang mit ihr erlaubt hatte! Sie war zu Tode erschreckt von diesem Schabernack.

Beim Treppensteigen hatte plötzlich der alte Mantel am Kleiderhaken angefangen zu leben. Nun, nicht direkt, aber ein Ärmel bewegte sich kurz auf und ab. Zuerst glaubte sie, einer visuellen Irritation erlegen zu sein. Sie trug immerhin eine Gleitsichtbrille. Aber beim zweiten Hinschauen war es wieder zu sehen. Ganz deutlich bewegte sich der Ärmel. Sie stieß einen kurzen Schrei aus. So kurz, dass sie selbst darüber erstaunt war, ihn noch so intensiv zu hören.

Dann rannte sie die Treppe hinab. Sie spürte ihren Herzschlag überlaut im Brustkasten, fast schon schmerzhaft, pochen. Sie begann zu hyperventilieren. Immer wenn sie sich aufregte, traten diese Symptome in schöner Regelmäßigkeit hintereinander auf. Als nächstes bekam sie große, rote, unregelmäßige Flecken auf den Wangen und Schweißausbrüche. Dazu fühlte sie sich leicht schwindelnd und bekam zum Schluss auch noch weiche Knie. Dann brauchte sie dringend einen Stuhl. Ansonsten fiel sie um, meist theatralisch.

Schon als kleines Mädchen hatte sie mit solchen Panikattacken zu kämpfen. Alle wussten davon. Aber mit der Zeit wurden die Attacken immer heftiger und kamen immer öfter. Ihre Mutter war mit ihr deswegen bei diversen Ärzten vorstellig geworden. Meist schauten diese Halbgötter nur mitleidig zu ihr herab, tätschelten ihr die Wangen und erzählten etwas von frühpubertären Störungen im Hormonhaushalt.

Wolfgang, ihr Mann, machte sich manchmal einen Spaß daraus, sie zu erschrecken. Einmal hatte er in dem großen Sessel im Schlafzimmer gesessen, ohne einen Mucks verlauten zu lassen. Irmi, so wurde sie von Wolfgang meistens genannt, war schlaftrunken ins Zimmer gekommen und wollte sich zu Bett begeben, als plötzlich ein tiefes Röcheln zu vernehmen war. Irmi stand wie ein Stehaufmännchen im Bett und schrie. Wolfgang jedoch lachte nur. Die ganze Nacht konnte sie nicht mehr schlafen. Seitdem sah sie als erstes, wenn sie ins Zimmer kam, nach den Sesseln.

Irmi hatte sich inzwischen wieder im Griff. Heute war schließlich wieder ein Familientreffen auf Gut Lankenhorst angesagt. Sie mochte diese Treffen da draußen auf dem alten Gutshof. Schließlich traf sie ihren Vater und sah auch ihre Schwester, zu der sie ansonsten nur noch wenig Kontakt hatte. Dass ihr etwas aus der Art geratene Cousin Lutger auch erschien, war ihr zwar unangenehm, aber irgendwie schaffte sie es, ihm soweit wie möglich aus dem Weg zu gehen.

Eigentlich hatte Irmi es nicht mehr nötig, irgendwelche Aufgaben zu übernehmen. Ihr Mann hatte ein kleines Vermögen als Immobilienmakler erwirtschaftet. Damit hatte die ganze Familie ausgesorgt. Ihre beiden Kinder waren bereits aus dem Hause, studierten in Amerika und Australien und die große Villa, in der sie lebten, war auch schon abbezahlt.

Aber da war diese Angst vor der Leere, dieses Unbehagen vor dem Nichtgebrauchtwerden. Sie war überglücklich, als sich vor ein paar Jahren ihr Vater bei ihr meldete und von seinen verrückten Plänen berichtete. Natürlich war das Ganze nur ein Spleen eines pensionierten Lehrers.

Wolfgang hatte sich, nachdem der alte Baron seine Pläne von der Übernahme des alten Familiengutes in Lankenhorst offen legte, das Objekt mal angesehen. Also nur so ganz unverbindlich. Wolfgang hatte mit dem Kopf geschüttelt und etwas von »hoffnungsloser Fall« und von »Einöde« und »Millioneninvestitionen für umsonst« gebrabbelt.

So genau verstand sie das sowieso nicht. Sie stand mit Zahlen auf dem Kriegsfuß. Ja, etwas geschmackvoll einrichten und passende Kleidungsstücke entsprechend der aktuellen Mode auswählen, das konnte sie. Darauf legte sie auch stets Wert. Sie war immer chic, aber dezent gekleidet. Ein leichter Hauch eines raffinierten Parfums schwebte jederzeit um sie herum und das war ihr eigentlich wesentlicher als all dieses trockene Zählen und Rechnen.

In dieser Welt hatte es sich Wolfgang eingerichtet. Ohne seinen Laptop war er eigentlich nur ein halber Mensch. Sie staunte noch immer, wie viele Zahlenkombinationen er so einfach im Kopf hatte. Sie wäre schon längst verrückt geworden, wenn sie nur ein Drittel dieses Zahlenwustes meistern müsste.

Irmi hatte schon genug damit zu tun, die Kinder aufzuziehen und den Haushalt zu führen. Ihre Woche war lange Zeit streng geregelt. Neben den klassischen Pflichten, wie etwa Frühstück für die Familie zubereiten, Einkäufe tätigen und Hausaufgaben bei den heranwachsenden Mädchen kontrollieren hatte sie so nach und nach einen recht anspruchsvollen Arbeitskalender füllen können.

Montags brachte sie die Mädchen zum Klavierunterricht und traf sich dann abends mit den Damen vom Kirchenchor. Dienstags fuhr sie Wolfgang zum Tennis und die Mädchen zum Schwimmen. Mittwochs spielte sie Rommé am Nachmittag mit drei befreundeten Damen aus der Nachbarschaft. Donnerstags war Einkaufstag. Das war blanker Stress! Lange Listen, die sie so im Laufe der Woche schrieb, wurden dann abgearbeitet. Eine große Runde mit vielen Stopps wurde von ihr abgefahren. Freitags war wieder etwas erholsamer. Die Mädchen hatten nachmittags immer Sport. Irmi konnte dann zum Friseur oder zur Kosmetikerin.

Tja, und nun diese neue Aufgabe. Stiftungsrat! Mein Gott! Wie wichtig das klang. Sie fühlte sich angenehm wichtig. Was da von Papa besprochen wurde, verstand sie zwar nicht annähernd. Irgendetwas wollte er da draußen auf dem verfallenen Gutshof aufbauen und auch Veranstaltungen waren geplant. Konzerte und Ausstellungen. Sie hatte ihm schon signalisiert, beim Einrichten der Räume aktiv helfen zu wollen und auch bei der Garten- und Parkplanung wollte sie mitmachen. Alles andere interessierte sie nur marginal. Dennoch nahm sie gern an diesen Stiftungsratssitzungen teil. Es war immer ein nettes Geplauder mit den anderen Stiftern möglich. Außerdem hatte sie eine nicht unbeträchtliche Summe zur Verfügung gestellt. Also Wolfgang hatte das ermöglicht. Er hatte etwas von Steuersparmodellen erwähnt und das eine solche Stiftung dafür doch ideal geeignet wäre. Na ja, das waren dann wieder diese unsäglichen Zahlen ...

Irmi hatte sich sorgfältig geschminkt an diesem Morgen und ein besonders edles Parfum ausgewählt: »La Belle de Russe«. Irgendetwas Raffiniertes mit einem Hauch von Magnolienblüten. Üblicherweise blieb sie über Nacht dann auch im Gutshaus. Ihre Tasche war schon gepackt. Für Papa hatte sie außerdem ein kleines Geschenk verpackt. Ein Necessaire mit Edelstahlscherchen, Nagelfeilen und Pinzette. Alles geschmackvoll umhüllt von genopptem Leder im Kroko-Look. Das Etui hatte sie als Giveaway bei einer Werbeaktion für Kosmetikartikel bekommen. Wolfgang konnte sie es nicht schenken. Der hatte schon zwei. Aber Papa ... Nun, der freute sich immer, wenn sie an ihn dachte.

Dieser Morgen wollte überhaupt nicht zum Tag werden. Draußen war ein trüb milchiges Dämmerlicht. Nebel hatte sich breit gemacht. Irmi würde am liebsten zu Hause bleiben. Aber sie hatte telefonisch fest zugesagt. Eigentlich mochte sie es nicht, bei Nebel längere Zeit am Lenkrad zu sitzen. Es war einfach anstrengend, immer in das weiße Nichts zu starren und irgendwo nach möglichen Hindernissen zu spähen. Aber sie vertraute auf ihre Fahrkünste und auf die Nebelscheinwerfer ihres Citroens. Knapp eine dreiviertel Stunde dauerte die Fahrt, wenn sie zügig fuhr. Allerdings, jetzt bei diesen Verhältnissen würde sie wohl eine halbe Stunde mehr einplanen müssen.

Irmi schaute auf ihre mit kleinen Saphiren besetzte Lacroix-Uhr. Es war kurz vor Sieben. Höchste Zeit loszufahren, wenn sie noch halbwegs pünktlich um Neun eintreffen wollte. Etwas hektisch schnappte sie ihre Tasche und rannte die Treppe hinab zur Garage. Ihr dunkelroter Citroen wartete schon auf sie.

Sie war eine gute Fahrerin. Sie liebte es, den Wagen rasant und sportlich durch die Straßen zu bewegen. Wolfgang bewunderte sie dafür. Er fuhr immer sehr bedächtig und vorsichtig mit seinem schweren Daimler. Als ob er den vielen Pferdestärken in seinem Motor nicht so recht vertrauen würde. Sie spottete manchmal, dass sie in ihrem Citroen, der nur einen halb so starken Motor habe, doppelt so schnell unterwegs war wie er.

Aber heute war Nebel. Kein Wetter, um flott voran zu kommen. Sie hasste es, bei Tempo dreißig mit dem Wagen durch die Straßen zu schleichen. Aber vielleicht hob sich der Nebel noch. Irmi gab Gas und fuhr Richtung Norden. Ihr Navigationsgerät war eingeschaltet und suchte automatisch die beste Route durch das Labyrinth der Stadt. Jenseits der Stadtgrenze war dann alles übersichtlicher. Da konnte sie das Navi abschalten. Den Weg kannte sie gut. Oft schon war sie hier auf der Fernverkehrsstraße B 2 Richtung Biesenthal unterwegs.

Entspannt lehnte sie sich zurück. Der Nebel begann sich auch zu lichten. Die Alleebäume waren inzwischen gut erkennbar. Irmi beschleunigte auf der schnurgeraden Strecke. Hier war immer wenig Verkehr. Weit voraus kam ihr ein Auto entgegen. Sie blendete ab. Der andere Wagen fast zeitgleich mit ihr. Irgendetwas stimmte jedoch nicht. Normalerweise war doch der Gegenverkehr auf der linken Spur unterwegs. Doch dieser Wagen fuhr konstant rechts auf ihrer eigenen Spur. Irmi gab nervös Lichthupensignale. Der andere Wagen ebenfalls.

Er musste sie gesehen haben, war aber bestimmt einer dieser sturen Raser, die in Brandenburg so häufig anzutreffen waren. Diese Leute machten sich einen Spaß daraus, andere zu ärgern und ihnen zu zeigen, wer die Herren der Landstraße waren. Irmi hatte schon oft rücksichtslose Fahrer erlebt. Lückenspringer, Überholer, Slalomfahrer, Bremser ..., das ganze Spektrum.

Aber dieser hier schien schon ein sehr hartnäckiger und abgebrühter Typ zu sein. Der Wagen hielt stur auf sie zu. Irmi wurde nervös.

Was sollte das denn?

Hatte der im Nebel die Spur verwechselt?

Aber so dicht war der Nebel nicht mehr. Man konnte die Straße leidlich erkennen. Auch die Alleebäume waren als Schatten gut zu erahnen. Sie schaute kurz auf ihren Tacho. Hundertzehn. Eigentlich keine zu hohe Geschwindigkeit für diese gerade Allee. Es gab hier keine Kurven, nichts, kein Hindernis oder sonst etwas ...

Im Bruchteil einer Sekunde begriff sie: dieser Wagen, der ihr da auf der rechten Spur entgegenkam, hatte es auf sie abgesehen. Er wollte sie abdrängen von der Straße!

Irmi reagierte instinktiv. Sie riss das Lenkrad herum und spürte im selben Moment wie das sonst so sichere und zuverlässige Fahrzeug sich wie ein störrisches Lebewesen aufführte. Ungeahnte Kräfte zogen an ihr. Sie sah plötzlich den Baum, der mit einer überirdischen Geschwindigkeit auf sie zuraste.

Bäume können doch gar nicht rasen!

Das war der letzte klare Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss. Dann hörte sie nur noch ein ohrenbetäubendes Bersten und spürte einen gewaltigen Schmerz, der alles in ihr zu zermalmen schien. Plötzlich war es still.

Eine Minute später fuhr ein dunkler Daimler im Schritttempo an der Unfallstelle vorüber. Wahrscheinlich ein neugieriger Gaffer.

VI

Gernot Hülpenbecker


Die Meldung im Verkehrsfunk hatte Hülpenbecker etwas verstört. Er würde zu spät kommen. Das war ihm peinlich. Er kam stets pünktlich, egal ob beruflich oder privat. Pünktlichkeit war für Gernot Hülpenbecker eine Basistugend.

Weiträumige Umfahrung! Wie sollte man denn hier etwas weiträumig umfahren? So gut kannte er sich nun doch nicht auf den Straßen Brandenburgs aus, um spontan eine weiträumige Umfahrung der B 2 aus dem Ärmel zu schütteln.

Er äugte etwas angestrengt aus dem Fenster. Draußen nebelte es so vor sich hin, nur schemenhafte Schatten waren zu erkennen. Das konnte ja noch heiter werden!

Nervös nestelte Hülpenbecker an seinem Jackett herum. Irgendwo musste doch das blöde Handy stecken. Unbedingt sollte er beim alten Quappendorff Bescheid sagen, dass es etwas später werden könnte. Dabei hatten sie extra noch gestern telefoniert, ob er nicht etwas früher ... Der Baron wollte mit ihm noch ein paar grundsätzlich wichtige Dinge besprechen wegen der Kreditlinie und überhaupt, wie es mit der Stiftung finanziell so weitergehen sollte.

Hülpenbecker wusste um die Sorgen des alten Herrn. Bisher hatte sich dessen Neffe Lutger meist um die Finanzen gekümmert. Lutger war ein seelenloser Technokrat der neuen Schule. Der warf nur so mit Anglizismen um sich, faselte etwas von Break-Even-Points und schneller Kapitalverbrennung, telefonierte dauernd während der Gespräche mit irgendwelchen Leuten und knallte ihm dann solche Sätze um die Ohren wie etwa »Think big!« oder »Future is now!«.

Die aufbereiteten Zahlen, die Lutger jedoch vorlegte, waren meist jedoch nur sehr stümperhaft zusammengetragen und eine Auswertung fehlte auch. Hülpenbecker musste jedes Mal die lose Blattsammlung noch einmal neu zusammenstellen und in ein brauchbares Tableau verwandeln. Als Stiftungsratsmitglied hatte er natürlich auch ein gewisses Interesse, dass dieses Projekt nicht zu einer lächerlichen Posse verkam. Und als Banker musste er das Ganze auch gegenüber seinen Mitarbeitern vertreten können. Speziell seine drei Stellvertreter, Müller, Schulze und Meier – ja, so hießen die nun mal - blickten immer sehr argwöhnisch auf alle seine Aktivitäten.

Und jetzt tuckerte er mit Tempo dreißig auf einer einspurigen Straße durch Dörfer, deren Namen er heute das erste Mal las: Rüdnitz, Danewitz, Melchow. Die Ortschaften gehörten nicht mehr zum Kreis Oberhavel, daher kannte er sie auch nicht.

Nach einer halben Stunde hatte er vollständig die Orientierung verloren. Er bewegte sich durch das tiefste Niemandsland inmitten des Barnim und wusste nicht so recht, wie nun weiter. Entnervt hielt er an einer kleinen Tankstelle.

Eine etwas mollige Dame hinterm Tresen des Verkaufspavillons half ihm dann: »Na hier sindse gaanz falsch! Da müssense wieda zurück, so wiese jekommen sinn... bis Danewitz… un daaa biegense ab nach Biesenthal. Dann findense aleene weita!«

Hülpenbecker tuckerte also wieder zurück. Es war inzwischen schon kurz vor Acht. Eigentlich wollte er jetzt schon auf Gut Lankenhorst sein. Er probierte es noch einmal per Telefon. Sein erster Anruf war auf dem Anrufbeantworter gelandet. Vielleicht war ja inzwischen der Baron erreichbar.

Hülpenbecker sah stets leicht bekümmert aus. Seine Physiognomie schwankte meist zwischen verstört und zerknirscht. Einen optimistischen Blick gab es von dem unscheinbaren Mann, der geschätzt Mitte Vierzig alt zu sein schien, eigentlich gar nicht. Wahrscheinlich waren der dauernde Umgang mit den Zahlen und der permanente Druck, noch mehr Zahlen zu produzieren, Schuld an diesem Zustand.

Dabei hatte sich Hülpenbecker nichts vorzuwerfen. Er hatte eine mustergültige Karriere durchlaufen. Als kleiner Angestellter der Kreissparkasse Oranienburg hatte er sich durch Fleiß und Akribie bis zum Filialleiter der jetzigen Märkischen Bank Oberhavel hochgearbeitet. Stets hatte er die Auflagen, die von der fernen Zentrale in Potsdam kamen, erfüllen können. Sein Ressort stand nicht schlecht da und auch sein Engagement für regionale Kunden wurde als absolut lobenswert erachtet. Dennoch hatte Hülpenbecker immer so ein Gefühl, als ob man ihn argwöhnisch beobachte und tunlichst auf einen Fehler warte, den er vielleicht gemacht haben könnte.

382,08 ₽
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0+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
623 стр. 90 иллюстраций
ISBN:
9783967525113
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