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Vielleicht waren daran auch seine drei Stellvertreter Müller, Schulze und Meier Schuld. Sie waren eigentlich vollkommen nichtssagende Menschen, sahen alle drei gleich unsympathisch aus, begegneten ihm stets mit einer ausgesprochen unangenehmen Freundlichkeit und machten stets den Eindruck, wieselflink und superschlau zu sein. Obwohl sie alle mindestens zehn Jahre jünger als Hülpenbecker waren, erweckten sie den Anschein, als ob sie schon viel länger in der Bank tätig waren und über alle Vorgänge genauestens Bescheid zu wissen.

Hülpenbecker seufzte. Nein, immer noch war nur der Anrufbeantworter zu erreichen. Es war inzwischen schon kurz nach Acht und er hatte gerade das Ortseingangsschild von Biesenthal hinter sich gelassen. Erstaunlich viel Polizei und andere Blaulichtfahrzeuge waren unterwegs. Er erinnerte sich an den Grund für die weiträumige Umfahrung. Vollsperrung wegen eines Unfalls. Ja, natürlich, sonst müsste man ja schließlich auch nicht am Montagmorgen eine Fernverkehrsstraße sperren.

Er lavierte zwischen den vielen Fahrzeugen durch das Städtchen. Biesenthal war eine langgestreckte Siedlung. Viel Grün war zwischen den einzelnen Ortsteilen. Der eigentliche Ortskern mit dem schönen alten Fachwerkrathaus, der Kirche und dem winzig kleinen Marktplatz lag leicht abseits. Obwohl Biesenthal gerade mal fünftausend Einwohner hatte, gab es zwei große Kirchen. Eine barock anmutende Katholische Kirche und eine schlichte, typisch märkische Evangelische Kirche. Von weitem sah das Städtchen daher immer etwas imposanter aus, als es wirklich war.

Endlich war Hülpenbecker durch das mittlere Verkehrschaos hindurch. Biesenthal lag hinter ihm und nun waren es nur noch ein paar Kilometer bis Gut Lankenhorst. Erleichtert lehnte er sich zurück und gab Gas.

Die Quappendorffs waren für Hülpenbecker eine Art Ersatzfamilie. An einer eigenen Familiengründung hatte er nie so richtig gearbeitet. Die Frauen fanden ihn zwar immer recht zuverlässig und akkurat, aber das war es dann auch schon. Einmal hatte er sich so richtig verliebt. Noch zu Studentenzeiten war das passiert. Er war Student der Betriebswirtschaft, war im Lesesaal, um irgendwelche dicken Wälzer zu konspektieren.

Da saß sie ihm gegenüber, blätterte in einer bunten Illustrierten und schlürfte geräuschvoll Kakaomilch aus einer Tetrapaktüte. Das war Clara-Louise von Quappendorff. Spontan verliebte er sich in die Blondine. Aber er hatte nie den Mut, ihr seine Liebe zu gestehen. Jedes Mal, wenn er sie auf dem Campus sah, hatte er den Impuls, zu ihr hinzugehen und sie auf einen Kaffee einzuladen.

Doch die Angst vor einem Korb war zu groß. Tja, und dann war sie weg. Nach einem halben Jahr verschwand sie plötzlich von der Bildfläche der Uni. Später erfuhr er dann, dass sie in eine andere Stadt gezogen war. Sie hatte sich verlobt und schwanger sei sie auch.

Irgendwann viele Jahre später tauchte sie wieder auf. Aus der blonden Studentin war eine sehenswerte Frau geworden. Sie gehörte zu der Familie seines guten Kunden, Rochus von Quappendorff. Und als der ihn fragte, ob er nicht Lust habe, in seiner Stiftung mit tätig zu sein, musste Hülpenbecker nicht lange überlegen. Er freute sich jedes Mal, wenn der Stiftungsrat tagte und auch Clara-Louise auftauchte.

Seine geheime Leidenschaft für diese Frau verbarg er natürlich. Ihm wäre es furchtbar peinlich, würde diese stille Passion ruchbar.

Die Eichenallee kam in Sicht und Hülpenbecker bog mit seinem Wagen in die kleine Auffahrt ein. Er war da.

Die Weiße Frau

Gehüllt in weiße Witwentracht,

Im weißen Nonnenschleier,

So schreitet sie um Mitternacht

Durch Burg und Schlossgemäuer.

Christian Graf zu Stolberg-Stolberg

(Deutsch-dänischer Dichter der Romantik, 1748-1821)


Eines der ältesten und bekanntesten Gespenster im märkischen Raum ist wohl die »Weiße Frau«, eine Gestalt, die in wallende, weiße Tücher gehüllt, durch Wände ging, und den Lebenden so einen Schreck einjagte. Vor allem in den alten Schlössern soll sie gespukt haben. Manche Geisterseher gehen davon aus, dass sie bis heute dort noch anzutreffen sei, ja versteigern sich sogar in der Behauptung, die »Weißen Frauen« wären inzwischen ortsungebunden und würden sogar in den Städten und auf dem offenen Lande herum spuken.

Die ältesten Berichte über das Auftreten einer »Weißen Frau« gehen bis ins 15. Jahrhundert zurück. Später dann, im 17. Jahrhundert, wurde die »Weiße Frau« ein ausgesprochen populäres Gespenst.

Der damalige Zeitgeist der Gegenreformation machte aus dem Spuk ein Standesattribut. Keine Adelsfamilie kam ohne eine solche Erscheinung mehr aus, wenn sie wirklich zu den großen und alteingesessenen Häusern gehören wollte.

Am bekanntesten dürfte wohl die »Weiße Frau« der Hohenzollern sein. Früheste Aufzeichnungen haben Kunigunde von Orlamünde als Ursprung für den Spuk in den Hohenzollernschlössern ermittelt.

Dieses Burgfräulein soll ihren beiden Kinder aus erster Ehe erst die Augen ausgestochen und sie dann getötet haben, um so die ersehnte Gattin des damaligen Burggrafen Albrecht von Hohenzollern zu werden. Der verstieß die liebestolle Kunigunde jedoch, als er erfuhr, was sie getan hatte.

Später ward dann der Geist der schönen »Gießerin«, Anna Sydow, zu einer »Weißen Frau«. Die Sydow war die Maitresse des Kurfürsten Joachim II. Bereits 1598 wurde sie im Berliner Stadtschloss erstmals gesichtet. Später erschien sie regelmäßig, wenn ein Hohenzoller starb.

Sogar ein Gastspiel in Thüringen soll sie gegeben haben, als Prinz Louis-Ferdinand gegen die Franzosen bei Jena und Auerstedt in den Krieg zog und fiel. Die »Weiße Frau« war stets ein stummer Geist, der nicht polterte oder den anderen Lebenden etwas Böses antat.

Das ist die Sage: und will Gefahr

Die Hohenzollern umgarnen

Da wird lebendig ein alter Fluch,

Die weiße Frau im Schleiertuch

Zeigt sich, um zu warnen

Sie kommt dreimal, geht um dreimal

Zögernder immer und trüber

Die Wache ruft ihr Halt-Werda nicht mehr,

Sie weiß, den Gast schreckt kein Gewehr;

Der Schatten schreitet vorüber.

»Wangeline von Burgsdorf oder die Weiße Frau«

von Theodor Fontane

Oftmals geht auch in alten Klostergemäuern eine »Weiße Frau« um. Hierbei handelt es sich meist um den Geist einer unglücklich verliebten Nonne, die seufzend und weinend durch die verwaisten Gänge zieht.

Andere märkische Adelshäuser kannten ebenfalls solche »Weiße Frauen«. So die Knesebecks, die Uchtenhagens, die Marwitzens, die Sparrs und die Rochows. Häufig handelt es sich hier bei der »Weißen Frau«, die manchmal auch als »Graue Frau« oder sogar als »Schwarze Frau« auftritt, um den Geist einer weiblichen Urahnin des betreffenden Geschlechts.

Im Allgemeinen ist sie, sofern man ihr nicht zu nahe kommt, nicht böswillig oder gefährlich. Ihr Auftreten löst dennoch oft Furcht und Schrecken aus, da sich durch sie familiäre Katastrophen, insbesondere unerwartete Todesfälle von Familienmitgliedern ankündigen. Die Sagen über die »Weiße Frau« sind bis heute moderne Folklore geworden.

I

Gut Lankenhorst

Sonntagnacht, 22. Oktober 2006

Natürlich, es gab sie. Keine Frage. Gut Lankenhorst hatte sein Gespenst wie es sich für ein altehrwürdiges Gemäuer im märkischen Sand gehörte. Seit Jahrhunderten spukte sie schon hier nächtens durch die Zimmer und im Treppenhaus. Auch im Park wurde sie schon gesichtet.

Stets war ihr Erscheinen an ein bevorstehendes Unglück gekoppelt. So stolz die Herren von Lankenhorst auf ihre »Weiße Frau« auch waren, so bedrückt waren sie auch jedes Mal durch ihr Erscheinen.

Der alte Quappendorff hielt eigentlich nichts von übersinnlichen Dingen. Zu rational war seine Weltsicht. Aber er erinnerte sich noch oft an diese Nacht in seiner Kindheit, als ihm dieser Spuk das erste Mal erschienen war.

Es war in den letzten Kriegstagen des Jahres 1945. In der Ferne konnte man die Einschläge der Granaten hören und im Dorf waren immer mehr verängstigte Städter zu sehen, die es noch geschafft hatten, dem Hexenkessel zu entkommen. Was sie berichteten, klang erschreckend. Brennende Häuser, überall Tote, marodierende Soldaten und hungrige Flüchtlinge aus dem Osten des kollabierenden Reichs.

Die Familie der Quappendorffs war im Torhaus von Gut Lankenhorst versammelt. Jedenfalls diejenigen, die nicht irgendwo an den Fronten kämpften. Der kleine Rochus und sein Bruder Hektor verstanden damals nicht sehr viel von dem, was sich die Erwachsenen hinter vorgehaltener Hand erzählten. Ihre kleine Schwester lag noch in der Wiege und bekam eigentlich gar nichts mit von den Vorgängen dieses Frühjahrs. Meist spielten die Jungs mit anderen Dorfkindern im Park. Man versteckte sich, mimelte mit kleinen Münzen oder schoss mit dem Flitzebogen auf imaginäre Eindringlinge.

Aber die angespannte Stimmung übertrug sich auf die bisher so unbeschwerte Welt der Kinder. So richtig fröhlich konnten sie nicht mehr spielen. Der Untergang des Reichs war für die Familie eine persönliche Bedrohung. Sie sahen einer ungewissen Zukunft entgegen und wussten nicht so richtig, wie sie mit den neuen Machthabern umgehen sollten. In einer nasskalten Mainacht passierte es denn auch.

Am Tage war im Radio etwas von Kapitulation zu hören gewesen. Die Frauen waren vollkommen verstört und schüttelten nur die Köpfe. Keiner sagte etwas zu den Jungen. Rochus spürte, dass etwas passiert war. Er lag schlaflos in seinem Kinderbett. Der drei Jahre jüngere Hektor, der sein Bett direkt am Fenster hatte, schlief tief und fest. Diese Nacht war irgendwie anders als sonst. Unheimlich still. Sonst konnte er in der Ferne das Wummern der Kanonen und die Motorengeräusche schwerer Fahrzeuge vernehmen. Aber diese Nacht war still. Rochus stand auf. Er wollte in die Küche, da gab es meist etwas zu naschen oder wenigstens stand da immer ein Krug mit Milch. Seine Zunge klebte am Gaumen. Um in die Küche zu kommen, musste der Kleine die große Treppe hinab.

Er kannte den Weg in die Küche gut. Täglich rannte er diesen Weg bestimmt zehnmal hin und zurück. Die Familie nutzte die Küche als Speisezimmer. Das große Wohnzimmer wurde nur genutzt, wenn die Männer auf Heimaturlaub kamen.

Rochus spürte beim Hinabsteigen plötzlich einen Windhauch, der ihn frösteln ließ. Er hielt für einen Moment inne und dann sah er sie. Plötzlich stand sie vor ihm. Eine große, weißgekleidete Dame, die ihn durchdringend ansah.

Sie war einfach so da.

Rochus hatte keine Ahnung woher sie gekommen war. Trotzdem hatte er keine Angst vor ihr. Sie kam ihm seltsam vertraut vor, als ob er sie schon oft gesehen hatte. Die Dame in Weiß nickte ihm kurz zu und verschwand dann wieder so plötzlich, wie sie gekommen war.

Die Begegnung hatte den kleinen Rochus vollkommen verstört. Er schlich zurück in sein Zimmer und verkroch sich unter seiner Bettdecke.

Am nächsten Morgen erzählte er am Frühstückstisch von seiner unheimlichen Begegnung. Es wurde ganz still am Tisch. Die Erwachsenen sahen ihn bestürzt an. Seine Mutter lachte schrill auf, nur ganz kurz und auch nicht sehr lustig. Dieser kurze Lacher verstörte den kleinen Rochus noch mehr. Er schaute zu seiner Tante Amalie und zu seiner Cousine Henny, die bereits eine fünfzehnjährige junge Dame war. Auch diese beiden Frauen schauten ihn betreten an, so als ob er das beste Geschirr gerade auf den Boden geworfen hätte.

Nur die Großmutter seufzte kurz und schickte ihn in den Park zum Spielen. Abends dann erzählte sie ihm von der »Weißen Frau«.

Jedes Mal, wenn sie erschien, starb jemand im Hause. Deshalb war ihr Erscheinen stets ein Unglück für die Familie. Rochus fragte, ob jemand anderes die »Weiße Frau« auch schon mal gesehen habe. Die Großmutter schüttelte den Kopf. Der letzte, dem sie sich gezeigt hatte, war wohl sein Urgroßvater gewesen. Er habe sie durch den Park gehen sehen.

Einen Tag später war er tot.

Schlaganfall.

Das sagten die Ärzte jedenfalls. Er war ja auch schon weit über Siebzig. Aber alle in der Familie wussten es. Es war die Begegnung mit dieser unheimlichen Spukgestalt, die ihm die letzte Lebensenergie entzogen hatte.

Die Großmutter erzählte ihm und seinem kleinen Bruder Hektor, der inzwischen auch begierig der aufregenden Gutenachtgeschichte lauschte, wie es zu dem unheimlichen Spuk gekommen war.

Die Quappendorffs waren lange Jahrhunderte schon hier im märkischen Land beheimatet. In der wüsten Raubritterzeit ritten sie wohl mit den Putlitzens und den Quitzows und bereicherten sich auf unlautere Art und Weise. Der damalige Stammsitz in der Prignitz wurde von den Rittern des Reichsgrafen Friedrich von Hohenzollern überrannt und niedergebrannt.

Die Burgbewohner konnten sich in Sicherheit bringen. Nur die junge Regula, die älteste Tochter des damaligen Burgherren, Ritter Konradin, hatte es nicht mehr geschafft, aus dem brennenden Gebäude zu entkommen. Sie verbrannte bei lebendigem Leibe. Ihre Schreie sollen weithin zu hören gewesen sein. Sie verfluchte ihre Verwandtschaft, weil sie sie im Stich gelassen hatte. Als Konradin auf dem Sterbebett lag, erschien sie das erste Mal. Sie trat wie aus dem Nichts in ein weißes Gewand gekleidet an ihn heran, fasste seine Hand und im selben Moment verschied er. Seither soll sie wohl des Öfteren zu sehen gewesen sein.

Der kleine Rochus schlief nach dieser Erzählung seiner Großmutter tief und fest. Im Traum erschien ihm der Ritter Konradin in einer glänzenden Rüstung und die »Weiße Frau« Regula, die von einem hohen Turme herab ihm zuwinkte.

Auch sein Vater tauchte in diesem Traum auf, allerdings in der Uniform der deutschen Wehrmacht. Er war mit Konradin zusammen auf einem großen schwarzen Pferd unterwegs.

Am nächsten Morgen wollte er seiner Mutter von diesem Traum berichten, aber dazu kam er nicht mehr. Auf dem alten Küchensofa saß die Mutter und weinte. Tante Amalie und Cousine Henny saßen bei ihr und schauten ihn betrübt an.

Henny kam zu ihm, umarmte ihn ganz fest und flüsterte ihm ins Ohr, dass sein Papa nicht mehr wiederkommen würde und er jetzt ganz stark sein müsse.

Kurze Zeit nach dieser Hiobsbotschaft musste die Familie das Torhaus räumen. Soldaten in seltsamen Uniformen, die eine allen Bewohnern unverständliche Sprache sprachen und eigenartig nach starkem Tabak und Maschinenöl rochen, wohnten jetzt im Schloss. Abends machten sie Musik mit einer Ziehharmonika, seltsam schwermütige Lieder. Die Quappendorffs lauschten aus der Ferne diesen Gesängen. Provisorisch war die Familie in der alten Brennerei gleich neben den Scheunen untergebracht worden.

Nur kurze Zeit jedoch durften sie hier bleiben. Fremde Männer kamen und erzählten etwas von Junkerland, was jetzt in Bauernhand gehöre und von einer neuen Weltordnung.

Mit eilig zusammengeschnürten Kisten und Koffern floh die Familie Richtung Westen. Dort solle es besser sein. Da wären immerhin Amerikaner und Briten und Franzosen, die darauf achteten, dass den Leuten nicht alles weggenommen wurde. So sprach jedenfalls seine Großmutter und die musste es ja wissen. Sie hatte schon einmal einen Krieg erlebt und wusste Bescheid. Damit endete abrupt die Kindheit des jungen Rochus. Im fernen Rheinland angekommen musste sich die Familie anfangs mit Gelegenheitsarbeiten und wenig Geld durchschlagen.

Erst Mitte der fünfziger Jahre gab es eine staatliche Abfindung für den Verlust der alten Heimat. Das Gutshaus gehörte sowieso nicht mehr ihnen. Das hatte schon der Urgroßvater verkaufen müssen.

Aber die Quappendorffs besaßen ein Vorzugswohnrecht für das Torhaus, durften daher dort wohnen bleiben. Als es dann um die Bemessung der Vertriebenenrente ging, unterließ es Rochus’ Mutter, diesen Umstand zu erwähnen. Eine Möglichkeit, die wirklichen Besitzverhältnisse von Gut Lankenhorst zu ermitteln, gab es ja inzwischen nicht mehr. Die Behörden des neugegründeten deutschen Staates im Ostteil Deutschlands waren nicht sehr kooperativ. Neben der Witwenrente gab es also auch noch eine nicht zu knapp bemessene Vertriebenenrente und eine einmalige Ausgleichszahlung für den Verlust von Hab und Gut.

Dies ermöglichte der Familie von Quappendorff eine gutbürgerliche Existenz. Alle Kinder machten ihr Abitur und studierten. Rochus wurde Gymnasiallehrer, sein Bruder Hektor war Kommunalbeamter im höheren Dienst und die kleine Schwester Friederike-Charlotte, von allen nur Friedel genannt, studierte Chemie. Sie zog deshalb sogar wieder zurück in den Osten. Dort wurden Chemiker händeringend gesucht und man gewährte ihr neben einem kostenfreien Studienplatz auch gleich noch eine kleine Wohnung und die Aussicht auf Festanstellung in einem der großen Chemiebetriebe.

Eigentlich hatten die Quappendorffs die Ereignisse des letzten Jahrhunderts recht gut überstanden. Klar, es gab auch Verluste. Sein Vater und sein Onkel waren im Krieg geblieben. Tante Amalie war etwas wirr im Kopfe geworden. Das hing aber mit dem frühen Tod Hennys zusammen. Aber das war eine ganz andere Geschichte.

Immerhin, seine eigene Generation hatte es zu etwas gebracht, ohne dass der alte Adelstitel dafür herhalten musste. Das »von« im Namen ließen daher die Quappendorffs in der neuen Republik weg. Es passte nicht mehr in die Zeit.

Erst als nach der Wende plötzlich wieder die Möglichkeit auftauchte, die alten Güter im Brandenburgischen zu erwerben besannen sich die Geschwister wieder ihrer blaublütigen Herkunft. Insbesondere Hektor geriet bei der Aussicht auf ein altes Schloss mit Park und Ländereien ins Schwärmen. Er steckte mit seinem Enthusiasmus seine beiden Geschwister und die nachfolgende Generation an. Als Verwaltungsbeamter wusste er natürlich, wie und wo man seine Ansprüche geltend machen konnte.

Es war ein langwieriger und mühsamer Kampf. Die neugegründeten Behörden in den Neuen Bundesländern, so wurde dieses Stück Deutschland im offiziellen Sprachgebrauch genannt, erwiesen sich als ausgesprochen amateurhaft und unprofessionell.

Hektor ließ sich also kurzerhand in den Osten versetzen. Amtshilfe wurde das genannt. Viele Beamte aus den Altbundesländern nutzten diese Chance um ihrer Karriere noch einmal etwas Auftrieb zu verleihen. Der »Fahrstuhl« war hier deutlich schneller und meist ging es auf eine »Etage«, die man so in den Altbundesländern nie erreicht hätte.

Hektor suchte sich also eine Wohnung in einem Dörfchen unweit des Gutes Lankenhorst, fügte wieder das »von« in seinen Namen ein und bewarb sich um den Posten des Landrates im Kreis Gransee, der bald im neuen Landkreis Oberhavel aufgehen sollte.

Tragisch war nur, dass Hektor, kurz nachdem er Landrat geworden war, an einem Herzinfarkt starb. Das Ganze war doch etwas zu viel für ihn gewesen. Er hinterließ eine gut zwanzig Jahre jüngere Witwe und einen kleinen Sohn. Die junge Witwe sah sich bald nach etwas Trost um und zog dann kurzerhand nach Mallorca. Dort hatte ihr Trost eine niedliche Finca in den Bergen und bot ihr ein Leben in Saus und Braus. Lutger, der kleine Sohn aus ihrer Ehe mit Hektor, kam auf ein Internat in der Schweiz.

Rochus, der damals noch als Studienrat an einem Gymnasium im Rheinland tätig war, hatte seinem Bruder Hektor auf dem Totenbett versprochen, sich um Lutger zu kümmern und die Lebensaufgabe der jetzigen Quappendorffs zu einem positiven Ende zu bringen. Seine eigenen Pläne konnte er ja dabei geschickt integrieren.

Die Quappendorffs waren jetzt alle wieder mit einem »von« im Namen ausgestattet und zogen in die Neuen Bundesländer. Anfangs wohnte Rochus, der inzwischen verwitwet war, noch in Biesenthal, unweit des Gutes, in einer Mietwohnung.

Seine beiden Töchter waren schon flügge, studierten in der weiten Welt und kamen nur noch zu den großen Feiertagen kurzzeitig auf Besuch.

Auch Lutger, der nach der Matura, dem Schweizer Abitur, eine Karriere beim Militär anstrebte, ließ sich häufiger blicken. Mit seiner Mutter hatte er sich gründlich verkracht. Lutger fühlte sich dem Namen verpflichtet und war oft bei Onkel Rochus zu Gast. Seine militärischen Ambitionen musste er schweren Herzens aufgeben. Das schwache Herz, wahrscheinlich ein Erbe seines zu früh verstorbenen Vaters, machte einen Strich durch die Rechnung. Lutger studierte Betriebswirtschaft und begann in einem renommierten Bankhaus eine Karriere als Controller.

All das ging dem alten Mann durch den Kopf, als er in seinem Bett lag und die Ereignisse dieser Herbstnacht noch einmal versuchte einzuordnen. Nicht das er abergläubisch war oder an sonstige metaphysische Dinge glaubte, aber der Spuk in dieser Nacht war doch etwas zu viel des Guten gewesen. Entweder versuchte hier jemand, ihn vollkommen zu verunsichern und aus dieser Verunsicherung heraus Kapital zu schlagen oder es erlaubte sich jemand einen geschmacklosen Scherz.

Beide Varianten waren gleichwohl unangenehm. Mit letzterem jedoch könnte er sich jedenfalls noch eher arrangieren. In Gedanken ging er noch einmal die Personen seines Umfelds durch, die dafür in Frage kämen. Aber keinem war so etwas zuzutrauen.

II

Gut Lankenhorst

Montagmorgen, 23. Oktober 2006


Der neue Tag schien sich zu verspäten. Dichter Nebel machte sich überall breit. Die Bäume im Park waren nur als dunkle Schemen erkennbar. Ein milchig trübes Licht kämpfte sich durch die letzten Dunkelzonen der Nacht.

Am Fenster des rechten Seitenflügels stand der alte Baron und schaute in das große Nichts. Dieses Wetter hier in der Mark Brandenburg machte ihm doch merklich mehr zu schaffen, als er sich eingestehen wollte. Den größten Teil seines Lebens hatte er im freundlichen und vom Klima begünstigten Rheinland mit seinen sanften Hügeln und Weinbergen verbracht. Oft waren dort die Winter ausgefallen und der Herbst war nur ein milder Sommerausklang. Man konnte lange draußen bleiben, die Nächte waren sanft. Doch hier war alles etwas rauer.

Er lebte jetzt schon mehrere Jahre in der Mark. Anfangs hatte er gedacht, dass er sich an das kühlere Klima und die sonnenarmen Tage gewöhnen könnte, aber es fiel ihm zunehmend schwerer, sich mit dem immerwährenden Nebel, dem Regen und den wilden Windböen zu arrangieren. Aus seiner Kindheit hatte er nur sonnige Sommertage in seinem Gedächtnis gespeichert. Die trüben Wintertage und endlosen Herbststürme hatte er ausgeblendet.

Aber es gab sie. Sie waren präsent und sie wirkten natürlich aufs Gemüt, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte.

Eigentlich war der Baron ein Optimist, ein Idealist oder auch ein positiver Träumer, der seine Träume auch in praxi umgesetzt hatte. Aber die Wiederbelebung von Gut Lankenhorst und die Betreuung all der vielen Projekte, die damit zusammenhingen, kostete ihn mehr Kraft als er je zu ahnen gewagt hätte. Sein Optimismus war inzwischen ausgehöhlt. Zur Schau stellte er immer noch seine Zuversicht, dass alles gut werde. Tief im Innern wusste er jedoch, dass es noch viele Jahre brauchte, um dieses Großprojekt endlich zum Laufen zu bringen. Und ob er selbst es noch sein würde, der die Früchte seines Handelns einfahren könnte, war ungewiss.

Ein Windhauch traf ihn plötzlich. Ihn fröstelte. Er musste an seine beiden Töchter denken, die er heute wieder sehen würde. Sonst freute er sich immer auf diesen Augenblick, aber heute hatte er ein bedrückendes Gefühl. Als ob etwas nicht stimmen würde. Die Ereignisse der letzten Nacht kamen wieder in sein Bewusstsein und er dachte an seinen nächtlichen Spaziergang durch den Park.

Ihm fiel die unheimliche Begegnung mit dem weißen Schatten wieder ein und auch die grausame Entdeckung der toten Vögel direkt vor der großen Treppe. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins an unheimliche Mächte konnte er nicht mehr verdrängen.

Wie ein Wink aus dem Jenseits standen die unheimlichen Spukbilder seiner Kindheit vor ihm. Er schüttelte kurz den Kopf, zog seine Strickjacke zusammen und wandte sich ab. Zwiebel kam in zwanzig Minuten zum Dienst. Er würde mit ihm über diese grässlichen Vogelkadaver sprechen müssen. Noch mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm jedoch im Moment das heutige Treffen des Stiftungsrats.

Bevor er den gesamten Stiftungsrat treffen würde, hatte er noch vor, mit seinem Vertrauten Hülpenbecker über die Finanzierung seiner Projekte in den nächsten Monaten zu sprechen. Die Kreditlinie, die ihm Hülpenbeckers Bankhaus so großzügig gewährt hatte, war ausgereizt. Die Konten waren allesamt am Rande des gewährten Dispokredits und verharrten da seit ein paar Monaten auch hartnäckig. Hülpenbecker hatte bereits telefonisch angedeutet, dass man eine Lösung finden müsse um weiterhin liquide zu bleiben. Dabei hatte er etwas von EU-Geldern erwähnt und auch irgendwelche Bundeshilfen in Aussicht gestellt.

Der Baron überließ solche Sachen gern seinem Neffen Lutger. Der hatte beruflich mit so etwas sowieso zu tun, kannte die entsprechenden Gesetze und wusste, wo es was zu beantragen galt. Lutger hatte da eine gewisse Professionalität im Umgang mit den Beamten, die ihm vollkommen fehlte. Er kam sich stets wie ein armer Bittsteller vor, dem es peinlich war, Fördergelder in Anspruch nehmen zu müssen. Hülpenbecker beruhigte ihn da zwar immer. Keine moderne Investition in solch strukturschwachen Gegenden käme heutzutage ohne entsprechende Förderung seitens des Landes, des Bundes oder der EU mehr aus. Und was er da mache, nun ja, es wäre ja zum Wohle der Allgemeinheit und nicht zu seiner privaten Bereicherung. Also brauchte er auch keine Gewissensbisse zu haben, wenn er solche Fördertöpfe anzapfe.

Hülpenbeckers Einfallsreichtum und finanzielles Geschick hatte bisher stets die Stiftung vor dem finanziellen Aus bewahrt. Die ursprünglich gedachte Geschäftsgrundlage für Gut Lankenhorst hatte sich bisher so nicht realisieren lassen. Auf dem Papier hatte er damals vor vier Jahren mit Hülpenbecker und seinen beiden Töchtern einen kühnen Plan entwickelt.

Gut Lankenhorst sollte schon nach kurzer Zeit so viele Gelder erwirtschaften, dass damit die laufenden Kredite bedient werden könnten und auch die eigenen laufenden Kosten gedeckt wären. Allerdings erwies sich dieser Plan in der Realität doch nicht als so einfach. Zumal die laufenden Kosten sich deutlich höher beliefen als geplant und zum anderen die Erträge aus dem neugegründeten Hofladen und den Veranstaltungen doch deutlich geringer ausgefallen waren als erwartet.

Sein größtes Projekt, das Wiederbeleben der hofeigenen Destillerie, war bisher aus dem Versuchsstadium noch nicht herausgekommen, hatte aber schon sehr viel Geld gekostet. Hinter dem alten Verwaltungsgebäude waren immer noch die vielen alten Obstgehölze, die er schon seit seiner Kindheit kannte. Zusammen mit Zwiebel hatte er die Bäume zurückgeschnitten, verwilderte Hölzer mit ertragreichen Sorten veredelt und inzwischen auch erste, respektable Ernten eingebracht. Davon verstand er etwas. Das hatte er schon viele Jahre in seinem großen Garten im Rheinland praktiziert.

Das Verarbeiten der Äpfel, Birnen und Zwetschgen erwies sich jedoch als ausgesprochen schwierig. Destillieren wollte gelernt sein. Der alte Baron hatte extra einen Kurs bei der Handwerkskammer belegt. Doch das frisch erworbene Wissen war leider nicht so recht tauglich, um ein wirklich hochwertiges Edeltröpfchen zu erzeugen. Anstelle von guten Obstbränden hatte er bisher nur Apfelessig und leidlich gut schmeckende Konfitüren erzeugt.

Die Erträge hierfür blieben natürlich weit hinter den zu erwartenden Umsätzen aus dem Vertrieb edler Brände zurück. In seinem Versuchskeller lagerten inzwischen einige hundert Flaschen missglückter Obstwässer, die eigentlich nur noch zu Anschauungszwecken verwendbar waren. Entweder war kein wirklich gutes Obstaroma zu spüren, so dass der Brand nur wie blanker Sprit im Hals kratzte oder ein unangenehm modriger Beigeschmack machte das Wässerchen völlig ungenießbar.

Der Baron wurde plötzlich aus seinen Überlegungen gerissen. In der Ferne hörte er das langgezogene Tatütata eines Polizeiwagens. Ein Blaulicht schien er auf der Straße durch den Nebel zu erkennen. Dann war wieder Ruhe.

Momente später sah er zwei Autos vorn am Eingangstor parken. Er konnte aus der Entfernung nicht erkennen, um was für Marken es sich handelte. Auf der Eichenallee näherten sich fünf Personen dem Gutshaus. Sie waren ihm allesamt unbekannt. Auch zwei Uniformträger schienen dabei zu sein. Etwas beunruhigt schritt der alte Herr die Treppe hinab um seine morgendlichen Besucher zu empfangen.

Die fünf waren inzwischen im Gutshaus eingetroffen. Sie blickten etwas irritiert auf den Baron, der da korrekt gekleidet vorsichtig die Treppe herab kam. Einer der beiden Uniformierten, Quappendorff hatte ihn schon des Öfteren in der Gegend gesehen und auch schon ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht, trat auf ihn zu, räusperte sich kurz und baute sich vor ihm mit wichtiger Miene auf.

»Herr von Quappendorff?«

»Jaaa, das bin ich. Guten Morgen, die Herrschaften.«

»Guten Morgen ..., ja. Also ..., um es kurz zu machen. Heute früh ereignete sich ein schwerer Verkehrsunfall hinter Biesenthal. Ihre Tochter, Frau Irmingard Hopf von Quappendorff, war leider darin verwickelt. Noch am Unfallort ist sie ihren schweren Verletzungen erlegen ... Also, ja, unser Beileid hiermit ... Mein Gott, ich bin nicht so ein guter Redner, um solche schlimmen Nachrichten ... Ächm, hmm, bitte haben Sie Verständnis.«

Der alte Mann sackte einen kurzen Moment zusammen als ob ihn ein Schlag unerwartet und heftig im Genick getroffen hätte. Dann fasste er sich wieder, straffte seine Körperhaltung, holte mehrfach tief Luft, schaute den Polizisten mit einem sonderbaren Blick direkt in die Augen und fragte dann mit schwacher, tonloser Stimme: »Musste sie noch leiden? Oder war sie gleich ...?«

382,08 ₽
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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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623 стр. 90 иллюстраций
ISBN:
9783967525113
Издатель:
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