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Linthdorf bat Boedefeldt, ihm Kopien von den Akten zu machen und die Fotos, die auch als Dateien auf dem Computer des Polizisten noch einmal vorhanden waren, per Email zu schicken. Er versprach Boedefeldt sein Bestes zu tun, um den oder die Täter dingfest zu machen. Auf der Rückfahrt hatte er Mühe, sich auf den Weg zu konzentrieren. Dicke Nebelschwaden lagen über der Landschaft und schluckten alles Licht und jedes Geräusch. Der Wagen rollte mit geringer Geschwindigkeit gen Berlin. Seine beiden Söhne schliefen auf den Rücksitzen und auch Freddy Krespel döste vor sich hin. Linthdorf war ganz froh, sich jetzt nicht unterhalten zu müssen. Die gerade gezeigten Bilder musste er erst einmal verdauen. Der sinnlose Tod so vieler unschuldiger Geschöpfe ging ihm aufs Gemüt, insbesondere da er diese spezielle Affinität zu den großen Vögeln hatte.

Es war noch dunkel draußen, aber er war hellwach. Er knipste den kleinen Radioempfänger an, der direkt neben dem Bett auf dem kleinen Bücherregal stand. Etwas Ablenkung war jetzt wichtig. Er konnte doch nicht den ganzen Sonntag in tiefem Selbstmitleid zerfließen. Es gab ja schließlich auch noch eine Außenwelt jenseits von Mord und Totschlag.

Ein Schlager aus den Siebzigern verkündete frohe Botschaften. Die beschwingte Melodie ließ Linthdorf die unruhige Nacht etwas vergessen und er schlurfte Richtung Küche. Mit routinierten Bewegungen füllte er gemahlenen Kaffee in eine sorgfältig gekniffene Filtertüte, füllte Wasser in die kleine Kaffeemaschine und steckte drei Schrippen in den Miniofen zum Aufbacken. Der Kühlschrankinhalt war übersichtlich. Linthdorf erfasste dies mit einem Blick. Ein einziges Glas mit Hagebuttenmarmelade stand da in der Mitte, am Rande waren noch zwei Konservendosen mit Thunfisch und eine angefangene Packung mit Edamer-Käsescheiben. Er seufzte. Eigentlich wollte er ja gestern noch einkaufen. Aber der Bericht Boedefeldts hatte ihm jegliche Lust auf den Discounter an der Ecke genommen. Seine beiden Söhne wollten noch zu einem Schulfreund, mit dem sie für ein Computerspiel verabredet waren. Krespel war ebenfalls unterwegs noch ausgestiegen um seine Getränkevorräte aufzufüllen.

Irgendwie hatte sich dann der Abend ereignislos vertan. Linthdorf war bei einer alten Heimatschnulze aus den fünfziger Jahren eingeschlafen, kurz nach Mitternacht aufgewacht und dann ins Bett geschlurft.

Und jetzt saß er an seinem kleinen Küchentisch, biss mit wenig Enthusiasmus in seine frisch aufgebackenen Brötchen und schlürfte dazu den etwas zu stark geratenen Kaffee.

Der gestrige Tag lag ihm quer auf der Seele. Die Ereignisse des letzten Winters hatten sich unbarmherzig konkret in Linthdorfs Gehirn wieder reaktiviert, so als ob das alles erst gerade passiert gewesen wäre.

Dazu dann noch Boedefeldts erschütternder Bericht über das Kranichmassaker. Aber irgendetwas Positives war ja auch hängen geblieben. Es war nur eine kurze Bemerkung des Dorfpolizisten über seine damalige Mitarbeiterin Louise Elverdink. Linthdorfs Gesicht wurde von einem kurzen Lächeln erhellt. Ja, natürlich. Er wollte sie einfach einmal anrufen. Wann, wenn nicht jetzt? Es war Sonntag. Kein Stress, kein Zeitdruck, keine störenden Zwischenrufe und anderweitigen Unterbrechungen. Er nahm noch einen Schluck Kaffee und griff dann das Telefon. Irgendwo im Speicher war ihre Nummer vorhanden.

»Hallo?«

»Ach, Herr Linthdorf! Gut, dass Sie anrufen. Sie wissen also schon ...?«

»Was? Wieso schon?«

»Ab morgen arbeiten wir doch wieder zusammen. Ich freue mich schon.«

»Oooh. Also ..., ja, also ... Ja, ich freue mich auch ... Ja, sehr sogar!«

»Sie wissen noch gar nichts davon?«

»Naja, nicht so ganz detailliert. Nägelein sagte mir etwas von einer neuen interdisziplinären SoKo, die gerade gegründet werden soll und dass er mich dafür ausersehen hat, dort mitzutun ...«

»Ja, es geht um großangelegte Geldwäsche und Steuerbetrug wohl auch. Wir werden uns dann morgen in Potsdam sehen. Ich freue mich.«

»Ja, ich auch ..., also bis morgen.«

So hatte sich Linthdorf das Telefonat zwar nicht vorgestellt, aber die Aussicht Louise Elverdink wiederzusehen, bereitete ihm sichtlich gute Laune. Er erinnerte sich auch wieder an das Gespräch mit Nägelein vom vergangenen Donnerstag.

Der hatte ihn zu sich rufen lassen, sorgfältig die Tür verschlossen und in seiner unnachahmlich betulichen Art ihm eröffnet, dass mal wieder etwas Großes auf die Abteilung zukam. Von ganz oben, also ja, von Ministerbeschlüssen und Staatssekretären mit Sondervollmachten, solle das ausgehen. Die Landeskassen seien nun schon permanent seit Jahren leer und riesige Geldströme würden in undurchsichtige Kanäle fließen und von Steuerbetrug und Hinterziehung war die Rede. Alles ein abgekartetes Spiel. Und jetzt habe man endlich genug von dieser Art Kriminalität.

Das wären ja schließlich keine Bagatellverbrechen oder Kavaliersdelikte und überhaupt, man habe sich geeinigt. Eine Super-Soko solle gegründet werden. Steuerfahnder, Leute aus dem Ressort Wirtschaftskriminalität und Verwaltungsspezialisten seien mit dabei. Und ja, er wurde gefragt, ob er einen Spezialisten habe, der Land und Leute gut kenne, und ja, natürlich fiel ihm da nur einer ein, eben Linthdorf.

Zurzeit sei ja im Bereich Kapitalverbrechen auch nicht so viel zu tun. Und Linthdorf sei ja nun mal eben ein moderater und intelligenter Mensch ...

Jedenfalls, nach knapp einer Stunde Monologisieren war Nägelein dann soweit, und eröffnete ihm, diese neu zu gründende SoKo leiten zu sollen. Linthdorf erbat sich noch ein Wochenende Bedenkzeit, aber er wusste bereits am Donnerstag, dass er keine wirklichen Gegenargumente für diese Aufgabe hatte.

Seit ein paar Wochen hatte es keine größeren Vorkommnisse mehr gegeben, die es galt mit vollem Einsatz zu bearbeiten. Er ackerte sich mühsam durch alte Akten durch, die schon seit langem auf ihren Abschluss warteten. Das war zwar sehr zäh, aber dafür auch nicht sehr nervig.

Also freute sich Linthdorf auf die neue Sonderkommission. Andere Gesichter, andere Aufgaben, eben mal nicht nur Mord und Totschlag.

Gut Lankenhorst

Etwas über die Symbolik der Kraniche

Kraniche, die großen Glücksvögel, haben die Menschen schon seit alters her fasziniert. Ihr eleganter Flug, die federleicht wirkenden Balztänze und ihr melodisches Trompeten hatten die Tiere stets als etwas Besonderes und Einzigartiges erscheinen lassen.

Die alten Griechen haben den Vogel den Göttern Apollo, Demeter und auch dem Götterboten Hermes bei gestellt. Er wurde daher auch immer mit den Eigenschaften dieser Götter belegt: Wachsamkeit, Klugheit und Glückseligkeit. Kraniche waren immer etwas vollkommen Positives. Ihr Auftauchen signalisierte den Menschen, dass die »guten Götter« in ihrer Nähe weilten und das Glück ihnen hold war.

Bei den alten Chinesen waren Kraniche ein beliebtes Motiv der klassischen Malerei. Sie symbolisierten dort Langlebigkeit und Weisheit. Speziell im Verhältnis des Vaters zu seinem Sohn wurden Kranichsymbole benutzt um Harmonie und Klugheit als Ausdruck deren inniger Beziehung zueinander sichtbar zu machen. Im alten Japan wurden Kraniche auch als Friedensbringer angesehen. Aus Papier gefaltete Kraniche symbolisieren dort die Sehnsucht nach Frieden und Harmonie.

Im mittelalterlichen Europa wurden Kraniche als Symbole für Vorsicht und Wachsamkeit angesehen. Als heraldisches Signum sieht man Kraniche sehr oft in den Wappen alter Adelshäuser auftauchen.

Später dann, in der höfischen Dichtung tauchen Kraniche als natürliche Protagonisten für das Erhabene, Edle auf. Schiller verwendete das Kranichmotiv in seiner Ballade »Die Kraniche des Ibykus«. In der Romantik wurde das Kranichmotiv von Malern und Dichtern ebenfalls in derselben Deutung genutzt.

I

Das Alte Gutshaus

Sonntag, 22. Oktober 2006


Das Gebäude ähnelte mehr einem etwas in die Jahre gekommenen Schloss als einem klassischen, märkischen Gutshaus. Früher war es einmal ein sehr wohlhabendes Anwesen. Zum Gut gehörte ein großer, verwilderter Park, dessen backsteinerne Umfassungsmauern noch recht intakt waren. Die Einfahrt wurde von einer alten Eichenallee geadelt. Das etwas schmucklose Tor hatte den diskreten Charme volkseigener Bauobjekte und stand in einem eigenartigen Kontrast zu der morbiden Pracht des Gutes.

Zum Gut gehörten auch zwei große Wirtschaftsgebäude – schmucklose, backsteinerne Quader mit Wellblechdach, eine verfallene Brennerei, deren viereckiger Klinkerschornstein wie ein mahnender Zeigefinger in die Höhe ragte und das Torhaus, ein Verwaltungsgebäude gleich hinter der Toreinfahrt, ein trutziger, einstöckiger Bau mit eigenem kleinen Obst- und Gemüsegarten. Im hinteren Teil des Parks blinkte ein kleiner Teich zwischen den Bäumen hervor. Am Ufer des Teichs lugte ein unscheinbarer Pavillon aus dem Röhricht.

Im Gutshaus brannte am Abend dieses nasskalten Oktobertages in allen Räumen Licht. Es schien eine gewisse Unruhe von diesem Lichtschein auszugehen. Ein zufällig vorbeischauender Beobachter würde hinter den Fenstern diverse Schatten herumhuschen sehen. Diese Schatten gehörten zu den Bewohnern des Gutshauses, die in einem heftigen Disput miteinander ihre Außenwelt vollkommen vergessen hatten.

Die einzige Person, die nicht herumlief und in einem alten Ohrensessel zu erstarren drohte, war ein älterer Herr in einer abgewetzten Strickjacke. Spärliche graue Haare, sorgfältig gescheitelt, bedeckten sein Haupt, eine runde Brille thronte auf der bemerkenswerten Charakternase, unter der ein leicht graumelierter Schnauzer wuchs. Die Augen schauten etwas müde durch die Brillengläser auf die unruhig herumschwirrenden Schatten. Diese wurden von drei weiteren Personen und einem riesigen Berner Sennhund erzeugt, die in dem großen, saalartigen Raum hin und her liefen. Zwischen den Personen tapste der Hund schwanzwedelnd herum.

Wortführer war eine robuste Dame, deren perfektes Make Up und strahlend blonde Frisur irritierten, denn sie war schon weit jenseits der Fünfzig angekommen. Eingehüllt in eine starke Duftwolke aus teurem Parfüm hatte der Hund Probleme, wenn er sich ihr näherte. Dennoch war seine Sympathie offensichtlich sehr groß für diese Frau. Stets hatte sie ein paar Leckerbissen bei sich und Streicheleinheiten ließen ihn den starken Parfümgeruch vergessen.

Ihre Gesten erinnerten an den Auftritt einer Diva. Sie war sich dessen bewusst und setzte ihre weiblichen Reize, die unverkennbar noch vorhanden waren, ständig bei ihren Reden mit ein, um ihr Anliegen besser zu vertreten. Mit Augenaufschlag und einer leicht affektierten Pose tänzelte sie um den großen ovalen Tisch.

Am anderen Ende des Tisches stand ein etwas unauffälliger Mann in grauer Joppe und mit graumeliertem Haar. Er trug eine Brille, Modell »John Lennon«. Ihm schien der Auftritt der mächtigen Blondine etwas Unbehagen zu bereiten. Sein Gesichtsausdruck war dementsprechend schwankend zwischen Verstörtheit und totalem Missfallen. Mehrfach versuchte er sich in den großen Monolog der Blondine einzuklinken, um beschwichtigende Worte zu finden. Nach drei kläglichen Versuchen ließ er es bleiben. Seine schwache Stimme wurde einfach ignoriert.

Der dritte Mann im Raum war ein ebenfalls schon etwas in die Jahre gekommener Waldschrat in typischer Waldmenschenkluft. Kariertes Hemd, Manchesterhose, Stiefel und eine olivgrüne Anglerweste ließen die Vermutung aufkommen, dass sein Aufgabenfeld vor allem außerhalb der vier Wände zu finden sei.

Die drei Personen, die wie Planeten um den ovalen Tisch mit dem alten Herrn an seiner Spitze kreisten, waren die Mitarbeiter von Baron Rochus Friedrich Achilles Helmfried von Quappendorff, dem Besitzer des Gutes Lankenhorst und der dazugehörigen Immobilien und Ländereien.

Es handelte sich dabei um Gunhild Praskowiak, die neben der Hausverwaltung auch für die Veranstaltungsplanung und Öffentlichkeitsarbeit des Gutes zuständig war. Der unauffällige Herr in Grau war der Archivar und persönliche Sekretär des Barons, Rolf Bertram Leuchtenbein und der Waldschrat, der neben dem wichtigen Posten des Hausmeisters auch gleichzeitig für den Park und den angrenzenden Forst zuständig war, hörte auf den freundlichen Namen Meinrad Zwiebel.

Die Stimmung im Raum war gereizt. Gunhild redete ununterbrochen auf die beiden Männer und den am Tisch sitzenden Baron ein. »Ick reiß mia hier den Arsch auf für den janzen Laden, kenn keinen Urlaub und keinen Feiaamd und seh nicht ein, det alles den Bach runtajehn zu lassen. Nu sachen se doch ooch ma was, Herr Baron ... Mein Jott, mit ihre Beziehungen is doch bestimmt noch wat drinne. Sie ham doch uns alle dafür ranjeholt, damit det Jut wieda een kultivierta Ort wird. Klappt doch ooch allet janz prima, und nu soll allet for die Katz jewesen sein ..., nee!«

Vor ihr hatte sich der große Hund hingesetzt und blickte sie mit seinen braunen Knöpfchenaugen erwartungsvoll an.

»Ach Brutus, ick kann jetzt nich ... Jeh ma zu deinem Herrchen.«

Etwas genervt zeigte sie ihre leeren Hände dem Hund, der diese mit seiner großen Zunge sogleich anfing, abzuschlecken. Zwiebel und Leuchtenbein mussten sich ein Grinsen unterdrücken. Beide wussten über die spezielle Affinität Gunhilds für alle Vierbeiner und speziell für Brutus Bescheid.

Aus dem Sessel des Barons war ein Seufzer zu vernehmen. »Leuchtenbein, was meinen Sie denn?«

Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. »Naja, bis Jahresende kommen wir ja noch hin mit den Geldern. Aber dann wird es knapp. Die Stiftung hat die neuen Gelder noch nicht genehmigt und damit liegen viele der angefangenen Projekte erst mal auf Eis. Das wissen Sie ja auch. Sie sitzen ja im Stiftungsrat.«

»Ist ja schon gut, ich weiß um die Missstände ..., nun ja, also ..., morgen kommen die übrigen Stiftungsleute zum Quartalstreffen hier her. Die Probleme sind bekannt und werden von mir aufs Tapet gebracht. Ich hoffe auf ihre Kooperation, schließlich hängen ja auch ihre Arbeitsplätze mit daran.«

Damit erhob er sich ächzend aus dem Sessel, griff sich seinen mahagonibraunen Gehstock und schlurfte Richtung Tür.

Die drei Mitarbeiter des Barons blieben in dem großen Raum allein zurück. Etwas ratlos schauten sie sich an. Zwiebel grummelte etwas vor sich, was sich wie »Hat ja doch alles keinen Zweck.« anhörte. Leuchtenbein sank etwas verzagt in einen der überdimensionierten Sessel. Nur Gunhild Praskowiak schien sich von der deprimierenden Stimmung nicht anstecken zu lassen. »Nu wartet doch erst einmal ab. Bisher hamse det ja imma noch hinjebogen bekommen. Und wenn die anderen Stifter halbwegs mitmachen, sieht et doch jar nich so übel aus.«

Sie schien sich mit dieser kleinen Ansprache selber Mut machen zu wollen. Tief in ihrem Herzen hatte sie auch so ihre Zweifel am Gelingen des Projekts. Aber so viele Alternativen zu diesem anspruchsvollen Job gab es hier draußen in der tiefsten Mark Brandenburg eben nicht, also musste das Ganze weitergehen.

Gut Lankenhorst gehörte lange zu den Stiefkindern der Wende. Kein Mensch schien sich für das prächtige Gutshaus und dessen Park wirklich zu interessieren.

Die Familie von Quappendorff, uralter märkischer Adel, der schon vor den Askaniern ins Land gekommen war, hatte hier mehrere Jahrhunderte ihren Sitz. Ihre besten Zeiten lagen jedoch schon lange zurück. Vollkommen verarmt durch die beginnende Industrialisierung, mussten sie in der Gründerzeit ihren Stammsitz veräußern. Bereits nach dem ersten Weltkrieg war das Gut zwangsversteigert worden, als sich der damalige neue Besitzer, ein reicher Berliner Brauereibesitzer, verspekuliert hatte und sein ganzes Vermögen in der Inflation verloren gegangen war.

Ein Bankenkonsortium übernahm das Gut. Im Dritten Reich quartierte man Zwangsarbeiter ein, die in den benachbarten Rüstungsfabriken im Finowtal eingesetzt wurden. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden Umsiedlerfamilien in das Gutshaus gesetzt. Um mehr Zimmer zu bekommen, zog man kurzerhand neue Wände ein und verkleinerte so die eleganten Säle.

Später wurde das Hauptgebäude als Verwaltungssitz und Kulturhaus der ortsansässigen LPG genutzt. Dafür wurden die Wände wieder herausgerissen. Die Außenfassade bekam den DDR-typischen Rauputz verpasst und die Wirtschaftsgebäude wurden in Heu- und Strohlager umgebaut.

Nur der Park blieb erstaunlicherweise von den sozialistischen Umgestaltungen verschont. Er diente als malerisches Ambiente für ein Kinderferienlager, was zwischen den Bäumen eingerichtet worden war. Zehn Bungalows duckten sich im Schatten von Kiefern und Buchen.

Dann kam die Wende und das Gut wurde öffentlich zum Kauf angeboten. Das angrenzende Dörfchen Lankenhorst war viel zu klein, um eine solche finanzielle Last zu stemmen.

Spekulanten gab es in den ersten Jahren nach der Wende in Hülle und Fülle. Sie versprachen der Treuhand, die das Gut nach dem Zusammenbruch der DDR verwaltete, das Blaue vom Himmel. Wellness-Palast, Fünf-Sterne-Hotel mit Golfanlage und eigenem Reiterhof, Schönheitsklinik, Congress-Center ...

Die Bieter überschlugen sich in Fantasien für eine blühende Zukunft des Gutes. Keiner konnte jedoch ernsthafte Ambitionen nachweisen. So verblieb das Anwesen in der Treuhandverwaltung.

Irgendwann jedoch meldeten sich die Nachfahren derer von Quappendorff bei der Treuhand und bekundeten Interesse an dem alten Gut. Als sie erfuhren, was für Altlasten sie dabei mit zu übernehmen hatten, kühlte das Interesse merklich ab. Nur der alte Baron von Quappendorff, ein pensionierter Gymnasiallehrer, der seine frühe Kindheit noch in dem Verwaltungsgebäude von Gut Lankenhorst verlebt hatte und mit seinen Eltern 1945 Richtung Rheinland fliehen musste, brachte wirkliches Interesse für die geschundene Immobilie auf. Für die symbolische Summe von einer D-Mark erwarb er das Gut von der Treuhand.

Allerdings war mit diesem Vorzugskauf eine Klausel verbunden, die aus dem Gut in den nächsten Jahren wieder ein Schmuckstück in der Region werden lassen sollte. Der alte Herr verpflichtete sich in einem Zusatzvertrag mit der Treuhand und den örtlichen Behörden der neugegründeten Kommunalverwaltung zu recht umfangreichen Investitionen. Dabei ging es nicht nur um die Wiederinstandsetzung der Gebäude und des Parks, sondern auch um die nachhaltige Schaffung von Arbeitsplätzen und die Einbindung des Gutes in die kommunalen Strukturen.

Quappendorff hatte ehrgeizige Pläne. Er fühlte sich noch nicht zu alt für eine solche Aufgabe, zumal er seit acht Jahren nun schon als Witwer lebte und seit seiner Pensionierung vor einem Jahr nichts so richtig mit seiner Zeit anzufangen wusste.

Irgendwie hatte er es geschafft, seine Verwandtschaft zu überreden, mit zu machen bei der Wiedererweckung des alten Stammsitzes der Familie. Seine Verwandtschaft bestand in erster Linie aus vier Personen: da war seine Schwester Friederike-Charlotte von Quappendorff, genannt Friedel, eine in stiller Bescheidenheit ergrauten Dame, die seit dem letztem Jahr jedoch bettlägerig war und in einem Seniorenheim unweit Berlins betreut wurde. Zu seiner Schwester hatte der Baron kaum Kontakt. Sie war damals in den Osten gegangen, hatte da auch geheiratet, sich wieder scheiden lassen und nur wenig mit den anderen Quappendorffs zu tun.

Des Weiteren gab es noch seine beiden Töchter Irmingard-Sophie, genannt Irmi, und Clara-Louise, genannt Klärchen, beide gut situiert, verheiratet mit erfolgreichen Männern und mit einer Schar Kinder gesegnet, die entsprechend selbstbewusst auftraten, sowie seinen Neffen Lutger von Quappendorff, Sohn des leider viel zu früh verstorbenen Bruders Hektor Neidhardt von Quappendorff.

Sein Neffe machte ihm etwas Sorgen. Dessen Naturell war ganz anders als bei den übrigen Quappendorffs, von einem krankhaften Geltungsdrang bestimmt. Der Baron führte diesen Drang auf die mütterliche Seite Lutgers zurück. Sein Bruder hatte eine Frau geheiratet, die sehr viel Wert auf Titel gelegt hatte und dafür auch eine Ehe mit einem fast zwanzig Jahre älteren Mann eingegangen war. Rochus warnte seinen Bruder vor dieser Liaison. Ihm war es suspekt, was diese junge ehrgeizige Frau mit seinem stillen und introvertierten Bruder anfangen wollte. Der frühe Tod des Bruders war wahrscheinlich auch auf den hektischen Lebensstil seiner jungen Gattin zurückzuführen.

Alle drei waren im Stiftungsrat von Gut Lankenhorst. Dazu gesellte sich noch der Filialleiter der Märkischen Kreditbank aus der Kreisstadt Oranienburg, Gernot Hülpenbecker. Er verwaltete die Konten der Stiftung und war auch gleichzeitig zuständig für die persönliche Beratung Rochus‘ von Quappendorff in allen Geldfragen.

Der Stiftungsrat traf sich quartalsweise auf dem Gut Lankenhorst zu seinen Sitzungen. Eigentlich waren die Sitzungen des Stiftungsrates ja mehr ein Familientreffen, zumal Gernot Hülpenbecker fast schon als Familienmitglied angesehen wurde. Er war ein Studienfreund der Töchter des alten Barons und begleitete ihn durch die Jahre mit freundschaftlichem Rat und tatkräftiger Hilfe.

Die Idee, eine Stiftung aus dem alten Gut zu machen, war auch von Hülpenbecker gewesen. Alles andere jedoch war im Kopfe des alten Quappendorffs gewachsen. Endlich konnte er seine Vorhaben, die er schon als Gymnasiallehrer hatte, auch umsetzen. Überall, wo ihm die engen Strukturen der Schulverwaltung und die langsame Arbeitsweise der Behörden einen Strich durch die Rechnung machten, wurde er ausgebremst.

Aber dieses alte Familienanwesen, an das er sich kaum noch erinnern konnte, bot plötzlich Raum für all das, wofür sich der alte Herr Zeit seines aktiven Schullebens eingesetzt hatte. Durch den Wegfall der Mauer konnte er endlich seine langgehegten Pläne umsetzen. Er brauchte auch nicht lange zu argumentieren, um seine Töchter und letztendlich auch seinen Neffen für die Idee eines Kunst- und Kulturzentrums auf Gut Lankenhorst zu begeistern.

Alle wussten von seiner Passion. An seinem Gymnasium hatte er bereits vor über dreißig Jahren den Neubau einer schuleigenen Bibliothek mit Veranstaltungsräumen und kleiner Werkstatt durchgesetzt. Im Landkreis war man aufmerksam geworden auf ihn. Auch im Stadtrat engagierte er sich ehrenamtlich für diverse Kulturprojekte. Er war glücklich, dass auf seine Initiative hin direkt im Erdgeschoss des alten Rathauses eine Stadtgalerie eingerichtet und ein Posten des Ortschronisten ausgelobt wurde. Er kümmerte sich um den alten Stadtpark, der sonst wahrscheinlich zu Bauland umfunktioniert worden wäre, und er sorgte sich um die verkehrstechnische Anbindung der Dörfer aus dem Umland, so dass der Busverkehr im Kreisgebiet eine Vorbildfunktion für das gesamte Bundesland hatte.

Baron von Quappendorff war ein Philanthrop durch und durch. Ihm schwebte ein Schloss vor, dass für jeden zugänglich war und dass als kultureller Mittelpunkt die ganze Region mit erblühen lassen sollte. Die Gegend rings um Lankenhorst war bisher vom Aufschwung weitgehend verschont geblieben.

Von Berlin war es schon zu weit weg um noch vom »Speckgürtel« zu profitieren. Der »Speckgürtel« war ein knapp fünfzig Kilometer breiter Ring, der sich um die Hauptstadt zog. Die darin liegenden Ortschaften und Städte waren in den letzten sechzehn Jahren vom Glück begünstigt worden. Massive Investitionen in die Infrastruktur des »Speckgürtels« zahlten sich nun aus. Das Straßennetz war ausgebaut und modernisiert worden. Viele Orte hatten S-Bahnanschluss. Wohnparks und Gewerbegebiete schossen wie Pilze aus dem Boden und die Einwohnerzahl hatte sich fast verdoppelt. In den neuen, schönen Einfamilienhäusern wohnten gutverdienende Leute. Es gab viele Kinder und auch das Kulturangebot war entsprechend reichhaltig.

Fuhr man jedoch etwas weiter hinaus ins Brandenburgische, dann änderte sich die Gegend schlagartig. Dünn besiedelt war hier das Land. In den Dörfern wohnten meist ältere Menschen und die Verlierer der Wende. Die Dorfstraßen waren rumplig und die Fassaden warteten noch auf ihre Verschönerung. Alte verlassene Backsteinbauten wuchsen wie das Dornröschenschloss langsam zu. Keiner wusste mehr so genau, was da mal früher drin gemacht worden war. Geschlossene Dorfkneipen und Läden weckten Erinnerungen an einstige Prosperität.

Lankenhorst war so ein Dörfchen jenseits des »Speckgürtels«. Früher gab es hier sogar mal ein Kino. Das Gebäude stand sogar noch als baufällige Ruine mitten im Dorf. Bäume waren inzwischen hoch gewachsen und versteckten so gnädig den direkten Blick auf die Fassade. Auch die beiden Dorfkneipen waren schon seit Jahren verwaist. Der große Gasthof »Zur alten Linde« war mit dunkelbraunen Jalousien verbarrikadiert worden und die kleine Dorfkneipe mit dem verblassten Schild »Lankenhorster Krug« hatte nicht eine ganze Scheibe mehr. Die wenigen Kinder des Ortes hatten sich einen Spaß daraus gemacht, mit ihren Katapulten Zielschießen darauf zu veranstalten.

Etwas versteckt am Rande des Dorfes lag das alte Gut mit seinem Park und den alten Wirtschaftshöfen. Auch sie boten jahrelang ein Bild des Jammers. Seit drei Jahren war das Gut wieder belebt. Der alte Quappendorff hatte als erstes Fenster und das Dach des Gutshauses instand setzen lassen, dann die Räume renoviert und eine Zentralheizung einbauen lassen. Der Park wurde vorsichtig entrümpelt und der kleine Teich im hinteren Teil des Parks sah nach zwei Sommern schon wieder ganz manierlich aus. Dennoch war das Pensum der noch zu bewältigenden Aufgaben immens.

Quappendorff hatte vom Landkreis ein paar Strukturfonds anzapfen können und einige brauchbare Mitarbeiter wurden ihm auf Anfrage vermittelt. Aus der Vielzahl der Bewerber für die ausgeschriebenen Stellen hatte er sich drei Leute auserwählt. Den etwas unauffälligen Leuchtenbein, den praktisch veranlagten Zwiebel und die etwas schrille, dafür aber vielseitige Gunhild Praskowiak. Allesamt waren keine jungen Hüpfer mehr, hatten einige Brüche in ihrer Vita, aber waren doch für die Ideen des Barons zu begeistern. Im Übrigen arbeitete er sowieso lieber mit gestandenen Leuten als mit den jungen Hitzköpfen. Das hatte er lange genug als Lehrer praktizieren müssen – jetzt wollte er endlich einmal etwas effizient und zügig durchziehen.

II

Auszug aus dem Gutachten zur

Schätzung und Taxierung des Grundstücks Lankenhorst

A 47/2322/FG-XIII-Az. 03299/01

Lage des Grundstücks: äußere Ortslage Dorf Lankenhorst

Größe: 45 000 qm

Ausweisung: denkmalgeschütztes Ensemble bestehend aus:

1) Gutshaus, erbaut 1821, zweigeschossiger Bau mit

2 Seitenflügeln und Walmdach, überdachte Fläche 1175 qm

2) Torhaus, erbaut 1888, eingeschossiger Bau mit

ausgebautem Dachgeschoß, überdachte Fläche 147 qm

3) Pavillon, erbaut 1847, offener Rundbau, 22 qm

4) Eiskeller, wahrscheinlich 1823 erbaut, einsturzgefährdet

5) Park, alter Baumbestand mit 2400 Laubbäumen und ca.

3000 Nadelbäumen, darunter zahlreiche seltene Arten (u.a.

Eiben, Blutbuchen, Traubenstieleichen), Teich, ca.400 qm,

umlaufende Mauer aus Feldsteinen, zwei Parktore, Zugang zum

Hellsee mit Bootssteg und eigenem Ufer, befestigt

Gesamtschätzwert: 418 000 Euro

Gegenwärtiger Besitzer: Land Brandenburg

Pacht: Stiftung Kultur-Gut Lankenhorst e.V., vertreten durch Rochus von Quappendorff

Pachtdauer: 99 Jahre

gez. Dr. Achim Wellenkamp

Dipl. Architekt, Büro Wellenkamp & Möller, Eberswalde

III

Der Archivar


Rolf-Bertram Leuchtenbein war ein unauffälliger Mensch. Unauffälligkeit war sein Lebensprinzip. Schon als Schuljunge zeichnete er sich durch seine diskrete Art aus. Keiner bemerkte ihn so richtig. Auf dem Schulhof stand er immer etwas abseits, schaute zwar stets interessiert zu, wenn es ab und zu mal zu kleineren Prügeleien kam, aber beteiligen oder gar selbst einmal eine Prügelei anfangen, war nicht sein Ding.

In der Klasse saß er meist weit hinten, blickte oft interessiert aus dem Fenster, nahm aber ansonsten an dem ganzen Unterrichtsgeschehen nicht so richtig teil. Sowohl die Lehrer als auch seine Mitschüler waren etwas ratlos, wie man mit diesem offensichtlich recht langweiligen Menschen umgehen sollte. Seine Eltern, beide schon etwas älter – daher auch der etwas antiquierte Vorname – waren eigentlich ganz froh über den unauffälligen Nachwuchs. Er machte nicht diese Probleme, die andere Eltern mit ihren renitenten Kindern hatten, und er war auch nicht so anstrengend wie die übermäßig begabten Kinder, die ständig beschäftigt werden mussten, um ihren unnatürlichen Wissensdrang zu stillen. Eigentlich ein Glücksfall.

Seine Leistungen waren nicht überragend, aber auch nicht so schlecht, dass man sich schämen musste. Berti, so wurde er damals genannt, schlängelte sich überall durch. Er war der Idealtyp des Mitläufers. Wenn jemand in der Klasse über ihn stolperte, dann lag das vor allem daran, dass man ihn nicht bemerkte.

Berti trug stets ausgesprochen unauffällige Kleidung. Grelle Farben waren im suspekt. Sein Outfit war den Bedingungen einer Polytechnischen Oberschule in einem Berliner Vorort optimal angepasst. Jeans, meist in einem undefinierbaren Farbton zwischen Blau und Grau, graue Pullover und eine olivgrüne Jacke – anders sah man Berti eigentlich nicht in der Öffentlichkeit. Er war nicht groß, aber auch nicht klein. Berti bewegte sich in all seinen schulischen Entwicklungsphasen stets im Durchschnitt. Seine Stimme war nur sehr leise zu vernehmen. Lautes Gebrüll oder andere akustische Signale waren nie von ihm zu erwarten.

Einmal sollte er im Musikunterricht ein Lied singen. Alle waren gespannt und warteten auf diese ungewöhnliche Lautäußerung. Berti kniff. Er entschuldigte sich mit einer plötzlichen Erkältung, die ihn erwischt hatte. Der Musiklehrer schaute etwas ungläubig auf den Jungen und ließ ihn fortan in Ruhe. Es war mitten im schönsten Mai, als das passierte.

382,08 ₽
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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
623 стр. 90 иллюстраций
ISBN:
9783967525113
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