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Jetzt trat die zweite uniformierte Person, eine junge Frau Ende Zwanzig, heran und schilderte kurz, was sie vorgefunden hatten am Unfallort. Der Baron schien innerhalb von Minuten um Jahre zu altern. Seine Lebensenergie war auf ein Minimum gesunken. Mühsam nur hielt er sich noch auf den Beinen. »Kann ich Sie kurz allein lassen? Ich möchte mich ...«

Er kam nicht weiter. Mitten im Satz versagten seine Kräfte und er brach zusammen. Die drei Herren in Zivil eilten herbei. Einer war Arzt.

»Schnell, dort auf das Sofa mit ihm. Hat wohl ein schwaches Herz ... Rufen Sie bitte jemanden aus dem Haus. Wir sollten seinen Hausarzt konsultieren.«

Mit geübtem Griff lockerte er den Hemdkragen des alten Mannes, holte eine Injektionsspritze aus seinem Köfferchen, fühlte den Puls und hörte auch die Herzfrequenz ab.

»Er steht unter Schock.«

Ein spitzer Schrei ließ die fünf Personen zeitgleich aufschauen. Auf der Treppe stand wachsbleich eine mittelgroße, brünette Frau, die man in Modekreisen als vollschlank bezeichnen würde. Ihre Augen waren weit aufgerissen und blickten angstvoll auf den zu Boden gegangenen alten Herrn. »Papa!«, rief sie, »Papa, was ist mit dir?«

Ein riesiger Hund tapste die Treppe neben ihr herunter, lief schwanzwedelnd zu seinem Herrchen und schleckte mit seiner großen Zunge dessen Gesicht ab. Mit einem Stöhnen schien der alte Baron sich wieder im Leben zu melden. Er schlug die Augen auf, sah die besorgten Gesichter und auch das vor Schrecken kreideweiße Gesicht seiner Tochter Clara-Louise. Mit schwacher Hand schob er den großen Hund etwas beiseite: »Is ja gut, is ja gut ... Klärchen, es ist was Schreckliches ..., also, Irmchen, die ist ..., ein Unfall ..., ach Gott!«

Er rang sichtlich nach Worten, um diese schlimme Nachricht irgendwie auch für sich selbst begreifbar zu machen. »Kann ich einen Schluck Wasser ...?«

Die junge Polizistin nickte und rannte los. Clara-Louise rief ihr hinterher: »Den Gang bis nach hinten, dann rechts, da ist die Küche.«

III

Gut Lankenhorst

Montag, 23. Oktober 2006

Das Gutshaus hatte sich mit Menschen gefüllt. Kurz hintereinander trafen die Autos von Lutger von Quappendorff, dem Bankier Hülpenbecker und von Wolfgang Hopf auf dem großen Hof vor dem alten Prachtbau ein. Auch die Bewohner des Hauses waren inzwischen alle wach und rannten scheinbar ziellos herum.

Der unscheinbare Rolfbert Leuchtenbein hatte sich an die vollkommen aufgescheuchte Gunhild Praskowiak gehängt und folgte ihr auf Schritt und Tritt. Die Todesnachricht hatte sich in Blitzesschnelle herumgesprochen und eine allgemeine Bestürzung hervorgerufen.

Leuchtenbein redete leise ohne Unterbrechung auf Gunhild Praskowiak ein. Die stand bloß da und nickte fortdauernd. Hülpenbecker trat auf die beiden zu und hüstelte höflich. So richtig konnte er mit der Situation auch nicht umgehen. In dem großen Sessel am Fenster saß Lutger von Quappendorff und stierte in den Park hinaus. Die vollkommen aufgelöste Clara-Louise saß am Tisch und weinte leise vor sich hin. Hopf kümmerte sich um seinen Schwiegervater, der inzwischen wieder bei Kräften war und vollkommen apathisch das Glas Wasser in seinen Händen hielt.

Die unheimliche Spukerscheinung hatte ihre Entsprechung in der Realwelt gefunden. Als ob der alte Mann durch die ominösen Vorgänge der vergangenen Nacht schon auf diese traurige Nachricht eingestimmt werden sollte.

Er wiegte den Kopf. Mit wem sollte er sich über diese Dinge unterhalten? Man würde ihn nicht mehr ernst nehmen oder sogar milde belächeln. Der Baron begann zu grübeln.

Was ging da vor sich?

Hatte der Tod Irmis etwas mit den toten Vögeln zu tun?

Wieso kam auf einmal die Weiße Frau zurück?

Was hatte das alles mit seinem Projekt zu tun?

Etwas ratlos wandte er sich seinem Hund Brutus zu. Der schaute mit seinen großen braunen Knöpfchenaugen auf sein Herrchen. »Ach, Brutus. Jetzt müssen wir mal schauen, wie wir hier durch kommen.«

Verständnisvoll wedelte der große Vierbeiner mit seinem buschigen Schwanz. Er spürte, dass sein Herrchen etwas mehr an Zuwendung brauchte.

Unverhoffte Entwicklungen

Etwas Wissenswertes über Kraniche


Der erste lateinische Name der Kraniche lautete »Ardea Grus«. Carl von Linné hatte ihnen diesen Namen zugeteilt. Der ließ sich dabei wohl von dem lateinischen Wort »Grus« inspirieren, das wohl eine Verkürzung des altgriechischen »Geranos« ist. Die alten Hellenen hatten für ihre Theateraufführungen solche »Geranoi« als Hebevorrichtungen für Kulissen konstruiert. Mit ihren langen Hälsen waren sie den großen Federtieren nicht ganz unähnlich.

Der spanische Gelehrte Isidor von Sevilla schlug vor, den Wortstamm auf das lateinische Verb »congruere«, das »übereinstimmen« heißt, zurückzuführen. In den romanischen Sprachen wird der Kranich dementsprechend auch als »Grulla« (spanisch), »Gru« (italienisch) und als »Grue« (französisch) bezeichnet. Der deutsche Name wird aus dem altgermanischen »Kranch« abgeleitet. Hier steckt auch wieder das schöne Wort »Kran« mit darin. Im Englischen ist das Wort für den großen Vogel ähnlich:»Crane«. Jeder kennt die großen rotschimmernden Moosbeeren, die im angloamerikanischen Sprachraum als »Cranberries« bekannt sind. Sie gehören zu der Lieblingsnahrung der Kraniche. In der neueren Ornithologie hat sich übrigens die Bezeichnung »Grus Grus« für den bei uns heimischen Graukranich durchgesetzt.

I

Potsdam

Montag, 23. Oktober 2006

Linthdorfs Wochenbeginn war stets eine Qual. Speziell nach einem langen Wochenende fiel es dem großen Mann besonders schwer, sich früh um sechs aus dem Bett zu quälen, das Bad zu suchen und den Tag in eine geordnete Struktur zu zwingen. Meist musste er in solchen Momenten an einen amerikanischen Film denken, der vor knapp zwanzig Jahren in den Kinos lief. Ein Reporter erlebte darin immer wieder ein und denselben Tag. In Erinnerung an diese lustige Filmkomödie nannte Linthdorf solche Tage wie diesen ebenfalls Murmeltiertag.

Also, dieser Montag begann auf alle Fälle wie einer dieser berüchtigten Murmeltiertage.

Die Fahrt nach Potsdam in der S-Bahn war auch wieder so ein typischer Horrortrip. Mit großer Verwunderung stellte Linthdorf fest, dass ihn die Menschenmassen, die früh und abends in den öffentlichen Nahverkehrsmitteln unterwegs waren, nervten. Nie hatte er bisher ein Problem mit seinen Mitmenschen gehabt. Er kannte keinerlei Berührungsängste und galt auch nicht als schüchtern. Aber diese aggressive Lust der Leute am Drängeln und Schieben, so als ob sie zu kurz kämen bei den großen Kämpfen des Alltags, trat besonders zu den Stoßzeiten offen zu Tage.

Linthdorf beobachtete diese Entwicklung nun schon seit geraumer Zeit mit wachsendem Unmut. Höflichkeit oder wenigstens etwas Zurückhaltung waren schon lange nicht mehr maßgeblich beim Kampf um die freien Plätze. Rücksichtsloser Einsatz von Ellenbogen und anderen Körperteilen hingegen war zur Regel geworden.

Eigentlich brachte den Kommissar nicht aus der Ruhe. Er war immerhin stattliche 204 Zentimeter groß und auch sonst kein Strich in der Natur. Aber was da so in Schulterhöhe um ihn herum wimmelte, ließ ein ungutes Gefühl von körperlicher Ohnmacht in ihm aufsteigen. Man wurde automatisch mitgerissen von einem aufgescheuchten Wespenschwarm, begann sich plötzlich selbst wie eine Wespe, in Linthdorfs Fall, eher wie eine Hornisse, zu fühlen und verteilte ab und an ebenfalls nun kleine Ellenbogenkicks oder setzte seine Füße aktiv bei der Raumgewinnung mit ein.

Etwas zerknautscht erreichte Linthdorf auch an diesem Montag sein Ziel. Die Skyline von Potsdam war an diesem nebligen Oktobermorgen nur zu erahnen. Die runde Kuppel der Nikolaikirche schimmerte inmitten der vielen Quader der zahlreichen Plattenbautürme. Die Wasserflächen der Havelseen lagen versteckt unter einer dicken Nebelschicht. Erstaunlich war, dass viele Bäume noch ihr Blätterkleid hatten.

Im Flur wurde er schon von seinem Chef begrüßt. Dr. Nägelein, ein etwas missmutig schauender Bürokrat, war in Begleitung eines ebenfalls recht missmutig dreinschauenden Schlipsträgers an ihn herangetreten. Beide waren knapp zwei Köpfe kleiner als Linthdorf, der mit seinem schwarzen Mantel und dem schwarzen Borsalino-Hut noch gewaltiger aussah als sonst.

Linthdorf grüßte freundlich, schaute höflich auf die beiden Herren herab, die mit ihrer sauertöpfischen Mimik zur richtigen Stimmung an diesem Tag beitrugen. Umständlich stellte Nägelein seinen Begleiter vor: »Ja, also, Herr Linthdorf, Herr Dr. Knipphase. Also, Herr Dr. Knipphase vom BKA wird die neue Einsatzgruppe koordinieren, also bundesweit. Sie werden sich ja jetzt ...«

Er schaute etwas nervös auf seine dezent glänzende Armbanduhr, ein sündhaft teures Liebhaberstück aus dem Hause »Glashütte«, für das Linthdorf gut und gerne ein ganzes Jahresgehalt hätte ausgeben müssen.

Linthdorf hatte das unbestimmte Gefühl, dass hier sein Chef den BKA-Mann irgendwie beeindrucken wollte. Eigentlich waren auf den Gängen und Fluren des LKA überall große Funkuhren installiert, die von allen Winkeln aus gut zu sehen waren. Er selber trug deshalb auch nur sehr selten eine Uhr. Das Armband fühlte sich für ihn wie eine Art Fessel an, die er nur ungern spüren wollte. Es war eine Zeitfessel, die ihn stets gemahnte, pünktlich zu sein und damit eine wesentliche Quelle für Stress. Linthdorf hatte diese Zeitfessel daher, so oft es ihm möglich war, abgelegt. In seinem Schreibtisch lag eine Armbanduhr, in seinem Wagen ebenfalls, und zu Hause auf dem großen alten Radio lag noch eine. Allesamt Weihnachtsgeschenke von seinen Söhnen, die immer wieder bemerkten, dass er fast nie mit Uhr unterwegs war.

Er nickte flüchtig zu den Ausführungen Nägeleins und war froh, diese Begegnung auf das Notwendigste beschränkt zu haben. Er eilte schnell durch die Gänge in Richtung seines Büros um Mantel und Hut abzulegen und ein paar Unterlagen zu schnappen, mit denen er im großen Konferenzsaal seinen Platz etwas dekorieren konnte.

Es machte immer einen guten Eindruck, wenn man nicht an einem blanken Tisch saß, sondern etwas vor sich aufgebaut hatte. Linthdorf hatte durch lange Jahre Polizeidienst diese Erfahrung gemacht und damit stets wohlwollende Blicke auf sich gezogen. Meist verzierte er diverse Blätter mit kleinen Zeichnungen. Spiralen, die manchmal zu Schneckenhäusern wurden oder auch futuristische Raumschiffe, die durch die unendlichen Weiten des Alls düsten.

Er lächelte jedes Mal, wenn ihn die Kollegen fragten, was er da immer so mitschrieb. Die Vorträge waren doch meist vollkommen langweilig. Zumal man in einer sorgfältig zusammengestellten Mappe den Inhalt des Vortrags in kopierten Blättern noch einmal ausgehändigt bekam.

Die heutige Sitzung schien allerdings wenig Zeit für solche kleinen Fingerübungen zu lassen. Linthdorf ahnte, dass es komplizierte Fragen zu klären gab und eine Menge unangenehmer Arbeiten auf ihn zukommen würden. Der einzige Trost war, dass Louise Elverdink mit ihm zusammen arbeiten sollte.

Im Sitzungssaal A II waren bereits fast alle Plätze besetzt. Linthdorf sah einige vertraute Gesichter, aber größtenteils waren ihm die Leute unbekannt. Am anderen Ende der U-förmig angeordneten Tische sah er auch Louise Elverdink. Sie sah noch genauso aus, wie im Frühjahr. Das dunkle Haar straff zurückgekämmt und von einem Haarband zusammengehalten, die dunkel geränderte Brille korrekt auf der Nase sitzend, grüßte sie ihn mit einem flüchtigen Lächeln.

Linthdorf nahm auf einem der wenigen, freien Stühle Platz. Kurz nach ihm traf auch der missmutig blickende Dr. Knipphase zusammen mit seinem Chef ein. Beide setzten sich auf die beiden Plätze an der Stirnseite. Umständlich begrüßte Dr. Nägelein alle Anwesenden, stellte dann jeden einzeln kurz vor. Linthdorf stellte fest, dass die meisten Mitarbeiter der Steuerfahndungsbehörde waren und eigentlich dem Finanzministerium unterstanden. Ein paar Computerspezialisten waren auch dabei, die sahen etwas verwahrlost aus und schauten eher gelangweilt in die Runde. Aber immerhin, auch sechs Polizisten waren hier versammelt. Nägelein übergab jetzt das Wort an seinen Nachbarn Knipphase. Der begann mit monotoner Stimme kurz das Anliegen seiner Behörde an diese so eigentümlich besetzte Runde nahe zu bringen.

Natürlich es ging um Geld, viel Geld. Geld, das dem Staat zustand und nicht vorhanden war. Jedenfalls nicht offiziell. Mit ernstem Gesicht warf er mit Zahlen um sich, die Linthdorf nur als eine abstrakte Anhäufung von Nullen erschienen.

Es ging um Millionen und Milliarden, sogar von Billionen war die Rede. Linthdorf versuchte im Kopf sich eine Billion vorzustellen. Eine Zahl mit zwölf Nullen, übersichtlich angeordnet in Dreiergruppen. Jede Dreiergruppe war ein Multiplikator mit Tausend. Also Tausend Milliarden waren eine Billion. Schon die Zahl Milliarde war schwer begreifbar. Sie hatte nur neun Nullen. Das waren Tausend Millionen.

Er begann nachzurechnen, wie viele Jahre er arbeiten müsste, um diese Zahl zu verdienen. Er kam auf schwindelerregende 25000 Jahre! Das war jenseits dessen, was man durch seriöse Arbeit verdienen konnte. Wie haben es einzelne Menschen nur geschafft, soviel Geld heimlich am Fiskus vorbeizubringen? Ja, wie haben sie es überhaupt geschafft, in den Besitz solcher immensen Reichtümer zu gelangen? Und nun sollte er solche Raffkes jagen!

Wie kam man diesen Leuten auf die Spur? Zog sich die Spur des Geldes wie ein roter Faden durch ihr Leben? Wahrscheinlich waren da diese Computermenschen gefragt. Die konnten mit ihren unheimlichen Fähigkeiten diese Spuren ausfindig machen im Labyrinth der unsichtbaren Zahlen, versteckte Kontenbewegungen herausfinden und die Wege des Geldes nachvollziehen.

Knipphase berichtete inzwischen etwas über kriminelle Machenschaften von Firmen, die nur als Papiertiger fungierten, also überhaupt keinerlei nennenswerte Wirtschaftsaktivitäten vorweisen konnten, dafür aber einen Geldverkehr hatten wie ein mittleres Bankhaus. Meist waren es sogenannte Investmentgesellschaften, die als Projektentwickler agierten. Oftmals zapften solche Firmen öffentliche Geldtöpfe an, die in der Hoffnung, Investitionen in strukturschwachen Regionen zu tätigen, meist sehr bereitwillig große Summen diesen Papiertigern zur Verfügung stellten.

Natürlich war dieses Geld schnell verschwunden. Die Firmen meistens auch. Speziell solche kriminellen Vereinigungen waren ins Fadenkreuz der Bundesbehörde gerückt. Der Zwang zum Einsparen hatte in den oberen Etagen zu unkonventionellen Denkansätzen geführt. Von interdisziplinärer Zusammenarbeit war da jetzt die Rede und von schnellen und kurzen Informationswegen. Ein bundesweit agierendes Netz von diversen Behörden wurde installiert und auch das LKA in Potsdam war mit eingebunden.

Besonders hier in Brandenburg, das als strukturschwach und damit anfällig für die Attacken solcher kriminellen Firmen galt, gab es Anzeichen für diese Art von Wirtschaftskriminalität. Meist agierten diese Leute hart am Rande der Legalität und waren mit herkömmlichen Mitteln kaum zu fassen.

Daher sollten professionelle Ermittler die Arbeit der Steuerfahnder und Computerspezialisten ergänzen. Knipphase knallte eine dicke Mappe auf den Tisch.

»Meine Damen und Herren! Hier drin befindet sich Arbeit für die nächsten Monate. Es ist eine Zusammenstellung von Firmen und Gesellschaften, die möglicherweise in unser Schema passen und neben Steuerhinterziehung auch Kreditbetrug und Veruntreuung öffentlicher Gelder auf dem Kerbholz haben. Wir werden daher mit Hochdruck an der Aufklärung solcher Delikte arbeiten. Was wir Ihnen hierbei an Unterstützung geben können, wird auch gemacht. Wir werden Sie so viel wie nur möglich dabei aktiv unterstützen, diese Machenschaften einzudämmen und die Täter dingfest zu machen. Scheuen sie sich nicht, selbst bei großen Namen investigativ tätig zu werden. Damit viel Erfolg bei den Ermittlungen.«

Alle Teilnehmer der Runde nickten nur. Ein Mitarbeiter verteilte Mappen mit Kopien der Listen, die Knipphase so theatralisch auf den Tisch geknallt hatte. Die Computerleute fingen an, nervös auf ihren mitgebrachten Notebooks herum zu hämmern. Die Steuerfahnder blätterten mit ernstem Blick die Listen durch, zogen ab und zu eine Augenbraue nach oben. Sie hatten den typischen Insiderblick.

Die sechs LKA-Leute saßen erst einmal still da und ließen das Gesagte auf sich wirken. Linthdorf hatte auf dem karierten A 4-Block Zahlen mit vielen Nullen aufgeschrieben. Er begann sich mit der neuen Materie vorsichtig anzufreunden.

Nägelein löste die Versammlung auf. Am Kaffeeautomaten traf Linthdorf auf Louise Elverdink. Sie begrüßte ihn wie einen alten Bekannten: »Herr Linthdorf, wie schön Sie wieder zu sehen! Möchten Sie auch einen Kaffee?«

Linthdorf nickte. »Ja, ebenfalls. Wie kommt es, dass Sie hier zu finden sind? Eigentlich leiten Sie doch die Mordkommission in Brandenburg/Havel?«

»Das ist eine komplizierte Geschichte. Aber diesen Job habe ich meinem Chef, dem alten Haberer zu verdanken. Der ist nämlich der Meinung, dass ich etwas für meine Weiterbildung machen soll und Erfahrungen bei solch strategisch koordinierten Einsätzen sammeln müsste. Er denkt dabei an seine baldige Pensionierung, die wahrscheinlich im nächsten Jahr ansteht.«

»Oh. Ja, dann ... Gratulation zu dieser Aussicht. Jaaa, also, ich sehe der ganzen Angelegenheit mit recht gemischten Gefühlen entgegen. So richtig sehe ich die Erfolgschancen dieses Vorhabens nicht.

Wieso konnten bisher solche Summen überhaupt angehäuft und am Fiskus vorbei geschmuggelt werden?

Was haben die Steuerfuzzis denn bisher gemacht?

Und inwieweit diese unsympathischen Computerfreaks da etwas machen können, na ja. Ich traue dem Ganzen nicht so recht.

Wir können doch nur jemanden dingfest machen, dem man lupenrein eine kriminelle Machenschaft nachweisen kann.

Das stelle ich mir hier sehr schwierig vor. Der Dr. Knipphase macht ja einen recht optimistischen Eindruck. Aber das ist wahrscheinlich auch sein Job. Konkret mit den Ermittlungen wird der sich ja nicht herumschlagen müssen.«

»Ach, Herr Linthdorf, seien Sie doch nicht so ein Pessimist. Wer weiß, vielleicht können wir ja auch mal nen dicken Fisch ins Netz bekommen. Berlin ist gleich nebenan. Ich weiß von den dortigen Kollegen, dass sie schon einige echt kapitale Fänge gemacht haben.«

Linthdorf schlürfte geräuschvoll seinen Kaffee. Knipphase war inzwischen an ihn herangetreten.

»Sie werden also die neugeschaffene SoKo leiten. Ihr Chef hat mir schon sehr viel Löbliches über Sie erzählt. Sie kennen ja das Land wie kein Zweiter ...«

»Nun, das ist vielleicht etwas übertrieben. Aber natürlich werde ich mein regional spezifisches Wissen mit einbringen. Wir sind da recht flexibel und haben auch ein gut funktionierendes Netz an Informanten. Mal sehen, was wir auf diesem Gebiet damit bezwecken werden.«

Knipphase klopfte Linthdorf leutselig auf die Schulter, was aufgrund des Größenunterschieds zwischen den beiden Männern etwas eigenartig aussah. »Sie machen das schon. Ich muss wieder los nach Wiesbaden. Grüßen Sie ihren Chef schön von mir. Wir bleiben in Kontakt.«

Damit drehte er sich um und ging mit federndem Schritt Richtung Tür. Linthdorf blieb mit Louise Elverdink zurück und nickte ihr kurz zu: »Jetzt wissen Sie, was ich mit schwierigen Zeiten meine.«

II

Immer noch Potsdam

Montag, 23. Oktober 2006


Linthdorf war wieder zurück in seinem kleinen Büro. Die neugegründete SoKo sollte sich in zwei Stunden wieder treffen. Linthdorf wollte mit den Spezialisten eine grobe Vorgehensweise abstecken und einzelne Ressorts festlegen. Auf seinem Monitor blinkte an der Seitenleiste das kleine Postzeichen auf. Er hatte eine neue Email bekommen. Es war eine Nachricht von der Polizeidienststelle Linum. Linthdorf erinnerte sich an seine Begegnung mit dem kugelrunden Dorfpolizisten Boedefeldt und dessen schrecklichen Bericht über das Kranichmassaker im Linumer Bruch.

Was Boedefeldt da schrieb, brachte Linthdorf ins Grübeln:

Mein lieber Linthdorf,

Sie erinnern sich an unser Gespräch über die toten Kraniche. Wir treten ja hier etwas auf der Stelle. So richtig können wir uns bisher noch keinen Reim auf diesen Frevel machen.

Doch etwas Licht könnte hier in diese verfahrene Angelegenheit kommen. Durch Zufall habe ich folgende Neuigkeiten in Erfahrung gebracht. Bei einem Verkehrsunfall, der etwas ominös verlaufen war und wobei es auch ein Todesopfer gegeben hatte, bin ich nach Gut Lankenhorst geraten.

Lankenhorst ist eine halbe Stunde entfernt von Linum, eigentlich nicht mehr mein Revier, aber an jenem Montagmorgen waren leider keine anderen Kollegen abkömmlich, so dass ich von der Verkehrseinsatzzentrale in Oranienburg herbei gerufen wurde. Um es kurz zu machen: die Unfallsache war unerquicklich, aber nicht so relevant für das, was ich Ihnen jetzt zu berichten habe. Bei einem beiläufigem Gespräch mit dem Hausmeister auf Gut Lankenhorst, einem gewissen Meinrad Zwiebel, erwähnte dieser seltsame Vogelkadaverfunde, die in letzter Zeit hier im Park zu beobachten gewesen seien.

Ihm war die Häufung von toten Vögeln schon etwas eher aufgefallen. Erstaunlicherweise handelte es sich dabei um Vogelarten, die hier im Lankenhorster Moor und im angrenzenden Ladeburger Forst eigentlich gar nicht vorkamen. Speziell Kraniche waren ihm aufgefallen, teilweise waren noch andere, ihm unbekannte Wasservögel dabei.

Einen Höhepunkt hatte es letzte Nacht gegeben. Der Baron von Quappendorff, der auch der Schlossherr auf Lankenhorst ist, habe ihn darauf angesprochen, doch die Vogelkadaver vor der Eingangstreppe zu beseitigen. Dort war ein kunstvoll ineinander verschlungener Haufen aus bestimmt zehn toten Kranichen und anderen Vögeln aufgeschichtet. Zwiebel war regelrecht geschockt. Die Vögel taten ihm leid. Allen war die Kehle durchschnitten worden mit einem scharfen Messer. Er könne sich nicht erklären, wer so etwas machte.

Zumal der Baron ein ausgesprochener Tierfreund war und gerade Kraniche sehr schätzte. Sogar im Familienwappen sind neben der Quappe auch zwei flankierende Kraniche zu finden. Er empfände diese toten Vögel daher auch als Angriff auf seine Person und wirke zunehmend verstört.

Anbei finden Sie ein paar Fotos, die ich auf Gut Lankenhorst mit meiner kleinen Handykamera machen konnte. In der Hoffnung, bald von Ihnen zu hören verbleibe ich

mit frdl. Grüßen aus Linum

Ihr

Rod. Boedefeldt

P.S. Habe für Sie ein paar nette Fische eingefroren. Können Sie bei Gelegenheit bei mir abholen.

Linthdorf klickte die angehängten Bilddateien durch. Boedefeldt hatte akribisch den ganzen Park und die einzelnen Fundorte der Vogelkadaver fotografiert. Linthdorf musste schlucken.

Was er da sah, war starker Tobak. Aus großen Augen schauten ihn die toten Vögel an. Er konnte Kraniche erkennen, Fischreiher, Kormorane, Watvögel, Schwäne, Graugänse, Blesshühnchen und Enten.

Natürlich hatte er diese Angelegenheit nicht vergessen. Nachts träumte er von diesen Bildern und schreckte jedes Mal auf, wenn er die vermeintlichen Todesschreie der Vögel zu hören glaubte. Doch es war dann doch wieder still.

Nur das monotone Rauschen der Berliner Nacht blieb, manchmal unterbrochen vom gellenden Tatütata eines vorbeirasenden Einsatzfahrzeugs der Feuerwehr oder Medizinischen Hilfe. Wahrscheinlich hatte sein Unterbewusstsein ihm dann dieses Geräusch als Vogelschreie vorgegaukelt.

Draußen klopfte es. Linthdorf klickte den Computer auf Stand-by-Modus. Nägelein stand vor der Tür, das konnte er schon erkennen anhand der Silhouette, die durch das mattierte Türglas zu sehen war.

»Kommense ruhig herein, Herr Dr. Nägelein.«

»Wieso wissen Sie ...? Na, ist ja auch egal ... Also, was ich noch sagen wollte. Jaaa, Dr. Knipphase möchte in Kürze schon Ergebnisse sehen. Also Sie wissen schon, keine statistischen Angaben über irgendwelche Firmen, die hier so vor sich hin kleckern. Der will Fakten ...!«

Linthdorf nickte.

»Ja, wie wollen Sie denn nun vorgehen?«

»Da werde ich mich erst einmal in das Material einarbeiten müssen.«

Er wies auf die dicke Mappe, die er von Knipphase bekommen hatte. Plötzlich war es Nägelein peinlich, ihn mit seinen nichtssagenden Floskeln belästigt zu haben.

»Naja, machense ma. Sie packen das schon.«

Mit einem etwas zu leutseligen Gesichtsausdruck verzog er sich wieder.

Linthdorf hatte jedenfalls erst einmal die Mappe herangezogen und wühlte sich durch die knapp 150 Seiten Material.

Der interessanteste Teil war eine alphabetisch geordnete Liste von Firmen, die in Brandenburg tätig waren und deren Aktivitäten das Interesse des BKA geweckt hatten. Linthdorf las meist englischsprachige Firmennamen, in denen immer wieder die Vokabeln »development«, »real estate« und »consulting« auftauchten. Erstaunlich war schon, wo diese Firmen ihre Adressen hatten. Quer über das ganze Bundesland verstreut schienen sie zu sein. Eigentlich müsste Brandenburg ja damit bestens entwickelt sein und die Wirtschaft müsste brummen. Soviel Investoren, soviel Strukturentwickler und Berater, da konnte es doch eigentlich nur noch steil bergauf gehen.

Aber er kannte sein Land besser. Er wusste Bescheid über vereinsamte Dörfer, in denen nur noch die ältere Generation lebte, über verödete Brachen, die früher einmal landwirtschaftlich genutzt worden waren und über Gewerbegebiete, in denen zwei oder manchmal auch drei kleinere Lagerhallen standen und in der Ferne erzeugte Produkte verteilten.

Er kannte auch die ehrgeizigen Visionen der Landräte und Bürgermeister, die unbedingt die modernsten und profitabelsten Industrien anlocken wollten, um damit im Wahlkampf zu punkten. Es ging ja schließlich um mehr als nur um Arbeitsplätze und Infrastrukturmaßnahmen.

Linthdorf hatte die Regierungszeit des ersten Brandenburger Ministerpräsidenten noch gut in Erinnerung. Die Investruinen von damals hielten bis heute das Land im eisernen Schuldengriff. Jedes Mal, wenn er in der Lausitz unterwegs war, sah er die riesige Luftschiffhalle, in der niemals ein echtes Luftschiff gebaut worden war, da alles vorab investierte Geld für den Bau der gewaltigen Halle drauf gegangen war.

Nur unweit entfernt war eine gewaltige Autorennstrecke mitten in die Einöde gesetzt worden. Formel 1 in der Lausitz! Die Welt schaut auf uns! Und der Jetset wird sich in den Hügeln alter Braunkohletagebaue tummeln und nur so mit Geld um sich werfen. Das war die Vision. Das Motodrom wartet bis heute auf eine wirklich rentable Nutzung.

In Frankfurt an der Oder stand der große Komplex des Halbleiterwerks auf verlorenem Posten und überall im Lande wurden futuristische Solaranlagen produziert, die nur dank staatlicher Subventionen zu marktüblichen Preisen verkauft werden konnten. Linthdorf verstand nicht so sehr viel von solchen Projekten, aber sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass Solarenergie »made in Brandenburg« nicht unbedingt ein Renner sein konnte.

Die Firmen, die in der Knipphaseschen Liste auftauchten, waren ihm allesamt unbekannt. Weder hatte er irgendeine Werbung für deren Produkte gesehen, noch waren ihm deren Produktionsanlagen oder Immobilien aufgefallen. Nun, das konnte auch daran liegen, dass er bisher wenig auf solche Details geachtet hatte.

Linthdorf begann die Firmen in seinen Computer in eine Excel-Tabelle zu tippen. Nach einer knappen Stunde war er fertig. Er sortierte nun die Firmen nach Postleitzahlen, gruppierte sie nach Regionen und teilte sie seinen Mitarbeitern zu. Jede Region bekam von ihm drei Mitarbeiter zugeteilt. So konnte sie die Aktivitäten etwas bündeln und bei der Suche nach den Firmen Routen zusammenstellen.

Um vier Uhr traf er sich zu einer ersten Einsatzbesprechung mit den zugeteilten Kollegen. Alle waren anwesend. Die Atmosphäre war im Vergleich zum Vormittag deutlich lockerer und entspannter. Knipphase und Nägelein fehlten ja schließlich. Linthdorf atmete tief durch und kam gleich zur Sache.

Jedes der neuen Teams bekam eine der von ihm ausgedruckten Listen zugeteilt. Er benannte die Teams nach der Region, in der sie tätig werden sollten:

Team 1 Uckermark-Barnim

Team 2 Oderland-Spreeland

Team 3 Spreewald – Lausitz

Team 4 Fläming-Mittelmark

Team 5 Havelland-Prignitz

Team 6 Ruppin-Oberhavel

Er selbst hatte sich bei Team 6 eingeschrieben. Im Hinterkopf hatte er dabei auch die toten Kraniche im Linumer Bruch. Vielleicht konnte er etwas Zeit für lokale Ermittlungen abzweigen.

Louise Elverdink hatte er zur Leiterin von Team 5 gemacht. Mit den Teamleitern würde er am meisten zu tun haben, schließlich hatte er die Ermittlungsergebnisse zu sammeln und zu koordinieren. Möglicherweise gab es ja auch Überschneidungen. Er hatte versucht, in jedem Team einen Steuerfahnder und einen Computerspezialisten zu platzieren. So sollte eine interdisziplinäre Arbeit am besten möglich sein. Die Mitarbeiter machten sich untereinander bekannt. Es herrschte eine gesprächige Atmosphäre. Linthdorf war fürs Erste zufrieden.

Morgen wollte er mit seinem Team beginnen, die Region nach den Aktivitäten der aufgelisteten Firmen zu durchforsten. Er hatte grob überschlagen, dass ungefähr vierzig Namen auf der Liste standen, die mehr als 185 Millionen Euro öffentliche Gelder bekommen hatten und die auch mit Steuernummern bei den Finanzämtern versehen waren. Der Steuerfahnder würde schon aus den dort gelagerten Zahlen etwas herausfiltern, was da zu erwarten war.

Spät abends um zehn Uhr saß er in der S-Bahn zurück nach Berlin. Linthdorf war rechtschaffen müde.

III

Berlin-Friedrichshain

Montagabend, 23. Oktober 2006

Wann genau er zu Hause eingetroffen war, konnte sich Linthdorf nicht mehr so genau erinnern. Es war auch nicht wichtig, denn es wartete sowieso niemand auf ihn. Die Wohnung sah noch genauso unaufgeräumt aus, wie er sie am frühen Morgen verlassen hatte.

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26 мая 2021
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9783967525113
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