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Stefan Krauß

Die Bruderschaft des Baums

Die Drachenflüsterer von Narull - Band 1

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Gedicht

Prolog

Die Gabe

Die Bruderschaft des Baums

Die Drachenkrieger

Aufbruch

Die Armee des Königs

Brinnom

Die Handwerker von Fissool

Kiroloom

Die geheime Geschichte

Das Drachenei

Drachenvisionen

Epilog

Impressum neobooks

Gedicht

Erde, darin brüte ich

Erde, darin lebe ich

Erde, die belausche ich

Erde, diese leitet mich

Erde, Feuer, Wasser, Stein,

Hanrek wird mein Schicksal sein.

Feuer, darauf warte ich

Feuer, daraus schlüpfe ich

Feuer, heiß wie ein Vulkan

Feuer, damit kämpfe ich

Erde, Feuer, Wasser, Stein,

Hanrek wird mein Schicksal sein.

Wasser, meine Glut entfacht

Wasser, löscht mein Feuer nicht

Wasser, das löscht meinen Durst

Wasser, zeigt mich fürchterlich

Erde, Feuer, Wasser, Stein,

Hanrek wird mein Schicksal sein.

Kalten Stein, den hasse ich

Kalter Stein, der bindet mich

Kalter Stein, er schützet dich

Kalter Stein, drin tragt ihr mich

Erde, Feuer, Wasser, Stein,

Hanrek wird mein Schicksal sein.

Hüpfspiel für Kinder im Königreich

Prolog

Das tiefe Grollen im Berg war nur als leichtes Zittern an der Oberfläche zu spüren. Ein einzelner Stein löste sich und fiel in großen Sprüngen die grauen steilen Wände des Berges hinunter. Jedes Auftreffen auf die Felsen erzeugte ein lautes helles „Klack“ und ein Echo, das kurz darauf ein leiseres „Klack“ zur Folge hatte. Ein paar aufgeschreckte Krähen erhoben sich in die Luft und flogen mit entrüstetem Krächzen davon. Als die Krähen außer Hörweite waren, war auch von dem Stein und seinem Echo nichts mehr zu hören und es herrschte wieder Ruhe, eine gespenstische Ruhe. In der Luft lag eine gespannte Erwartung, die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern und die Insekten waren verstummt. Nur der Wind pfiff durch die zerklüfteten Gipfel der Berge und sang sein kaltes einsames Lied. Die Ruhe dauerte an und dehnte sich. Und dann schließlich begann es.

Die Erde bebte.

Eine Lawine nach der anderen rauschte mit ohrenbetäubendem Getöse ins Tal. Felsen, Bäume und Schnee wurden in bizarren Mischungen in die Tiefe gerissen. Immer wieder erzitterten die hohen weißen Gipfel. Über dem ganzen Gebirge bildete sich eine riesige Staubwolke, die den Himmel verdunkelte und verbarg, was die Lawinen zerstört hatten.

Und dann kehrte erneut Ruhe ein, genauso gespenstisch wie die Ruhe zuvor. Es dauerte lange, bis der Wind den Staub um die Gipfel der Berge davon getragen hatte. Doch dann leuchteten die weißen Kuppen der majestätisch aufragenden Berge wieder in der Sonne. Quer über den ganzen Kontinent zogen sie sich dahin und bildeten eine unüberwindbare gezackte Mauer zwischen dem kalten Norden und dem wärmeren Süden.

Doch als der Wind auch den Rest des Staubs in den Tälern davon geweht hatte, gab er den Blick frei auf einen neuen Einschnitt in den Bergen. Tief im Gebirge verborgen, war ein neues Tal entstanden und das unüberwindliche Gebirge war nicht mehr länger unüberwindlich.

Die Gabe

Hanrek wälzte sich im Schlaf auf die andere Seite. Anscheinend hatte ihm irgendjemand einen Stein ins Bett gelegt und der bohrte sich jetzt schmerzhaft in seine Seite. Das war bestimmt sein jüngerer Bruder Stonek gewesen. Brummend versuchte er, eine bequemere Lage um den Stein herum zu finden. Doch plötzlich war Hanrek hellwach und setzte sich ruckartig auf. Er schlief gar nicht in seinem Bett sondern auf der blanken Erde und nicht weit von seinem Schlafplatz war ein Trümmerfeld, das bis vor kurzem noch das friedliche Dorf gewesen war, in dem er lebte.

Alle Ereignisse standen ihm jetzt wieder lebhaft vor Augen. Das furchtbare Erdbeben, der sanftmütige Ackergaul Tarpon, der durchgegangen war und Hanrek mitsamt dem Pflug hinter sich her geschleift hatte. Sein Vater, der an eben diesem Pflug gestanden hatte und nur Momente später von einem umstürzenden Baum eingeklemmt wurde. Die Hilferufe seines Vaters, das Schreien der vielen Sterbenden und Verwundeten im Dorf und das Dorf Hallkel selbst, in dem kein einziges Haus mehr stand. Nicht einmal ein Stall oder eine Scheune hatte das Erdbeben überstanden.

Überall ragten spitze zersplitterte Holzstümpfe aus den eingestürzten Häusern. Die Gassen zwischen den Häusern waren fast nicht mehr als solche zu erkennen. Der große Baum auf dem Marktplatz in der Mitte des Dorfes war umgestürzt und hatte mit seiner mächtigen Krone die Überreste der Schule unter sich begraben. Die Mühle von Hallkel und einige andere Häuser waren in den Bach gestürzt und die Trümmer hatten sein kaltes Wasser gestaut. Der Bach, seines Bettes beraubt, bahnte sich mühsam einen Weg durch das Trümmerfeld und viele der Verschütteten waren in dem sonst so friedlich und munter fließenden Wasser jämmerlich ertrunken.

So wie der Bach das Dorf Hallkel überflutet hatte, so überfluteten all die Erinnerungen nun Hanrek und stürzten ihn in die Wirklichkeit der letzten beiden Tage. Das viele Leid der Dorfbewohner bedrückte ihn und zog ihm die Kehle zu.

Vor lauter Erschöpfung hatte er sich vor einigen Stunden an den Rand des Dorfes geschleppt und war direkt neben der Straße eingeschlafen. Es war Nacht, doch der Himmel dämmerte bereits. Hanrek konnte neben sich noch andere Gestalten erkennen, Manche schliefen den Schlaf der Erschöpften, andere waren verletzt aus den Trümmern gerettet worden und lagen jetzt zitternd und blutend auf der nackten Erde. Viele hatten schmerzverzerrte Gesichter, andere einen starren leeren Blick. Wieder andere stöhnten im Schlaf. Im Dorf brannten Fackeln. Sie beleuchteten die furchtbare Szenerie nur mäßig, zeigten aber an, wo Menschen verzweifelt in den Trümmern arbeiteten.

Zum Glück war Pirion, Hanreks Vater, vom Pflug nicht verletzt worden und so war Hanreks Familie eine der wenigen gewesen, die keine Verluste zu beklagen hatte. Ja, einige Schweine und Hühner hatten sie verloren und auch ihr Haus war eingestürzt aber ihre Nachbarn hatte ein viel größeres Unglück ereilt. Der Werkzeugmacher des Dorfes und sein Sohn waren von dem herunter stürzenden Dach ihrer Werkstatt erschlagen worden. Die Frau des Werkzeugmachers Klaudia und ihre Tochter Miria hatten unverletzt überlebt, wenn man bei dem Schock, den sie davon getragen hatten, von unverletzt sprechen konnte. Der Müller und auch der Wirt des einzigen Gasthauses im Dorf hatten jeweils ihre Frau verloren. Außerdem war der Tel, der gewählte Vertreter des Dorfes, gestorben. Es waren viele Verwandte und viele Freunde zu beklagen.

Nach wie vor gab es Hoffnung, Überlebende aus den Trümmern zu retten aber sie wurde von Stunde zu Stunde geringer. Hanrek wälzte sich schmerzhaft über den spitzen Stein und kam auf die Füße. Auch er würde dabei gebraucht werden, die noch Lebenden aber auch die Toten aus den Trümmern zu tragen.

***

Schull zügelte das Tier, auf dem er ritt. Sofort hielten die hinter ihm laufenden Marschierenden an. Es war gefährlich einem Exzarden von hinten zu nahe zu kommen. Schull betrachtete die Szenerie vor sich und kratzte dabei gedankenverloren mit seinem spitzen Stock den Nacken seines Exzarden Carmeon.

Es war, wie der Hirtenjunge gesagt hatte. Eine Lawine hatte fast das ganze Bergdorf, in dem er gelebt hatte, weggerissen. Es standen nur noch einige wenige Überreste. Bis auf ihn waren alle gestorben. Der Junge hatte Glück gehabt, weil er sein Vieh gehütet hatte und nicht im Dorf gewesen war.

Von hinten kamen unterdrückte Schluchzer von dem armen Kerl. Es war unmenschlich, den Jungen so kurz nach diesem schweren Unglück wieder an die Unglücksstelle zu treiben. Aber er musste ihnen den Weg zeigen, nicht den Weg zu seinem Dorf, nein, sondern den Weg in die Berge an eine bestimmt Stelle, die nur er kannte. Er hatte Dinge behauptet, die man besser nur behauptete, wenn man sicher war, dass sie wahr waren, vor allem wenn man das gegenüber dem Kommandanten tat.

Schull drehte sich zu seinen Begleitern um. Einer der Soldaten hatte den Jungen gestützt und tätschelte ihm unbeholfen den Kopf. Fragend schaute Schull den Soldaten an. Mit einem Schulterzucken ließ dieser die ungesagte Frage unbeantwortet. Die Soldaten waren an Kämpfe, Tod und Verletzungen gewohnt, aber sie wussten nicht mit einem Jungen umzugehen, den der Schmerz des persönlichen Verlusts überwältigte.

Schull gab dem Soldaten einen Wink, damit er den Jungen zu ihm brachte. Auf einem Exzarden reiten zu dürfen, würde ihn ablenken. Und tatsächlich wurden die geröteten feuchten Augen ganz groß, als sie ihn auf das Tier hoben und vor Schull in den Sattel setzten.

Kurze Zeit später gab Schull Carmeon das Kommando. Hier konnten sie nichts mehr helfen. Der gut abgerichtete Exzard trottete mit schwerem aber sicherem Schritt den Weg entlang, der oberhalb des ehemaligen Dorfes weiter in die Berge führte. Sein mächtiger stachelbewehrter Schwanz schwang im Rhythmus seiner Schritte hinter ihm hin und her und fegte dabei den fest gefrorenen Schnee zur Seite.

Der Weg war durch die Lawine ebenfalls verschüttet, Schnee, Geröll und abgerissene Baumstämme bedeckten ihn, doch das würde für seinen Exzarden kein Problem sein. Auch Schull konnte als Flüsterer genau wie sein Reittier den Weg darunter klar und deutlich erkennen. Zusammen waren die beiden ein unschlagbares Team.

Es war ein sehr beschwerlicher Weg für alle Beteiligten und es dauerte noch einige Stunden, bis sie an der Stelle angekommen waren, die ihnen der Hirtenjunge beschrieben hatte. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Schull hielt an, ließ den Jungen absteigen und bat ihn voraus zu gehen. Nach weiteren fünfzehn Minuten hielt der Junge, drehte sich um und deutete wortlos mit ausgestrecktem Arm nach vorne.

Was Schull da sah, ließ ihm den Atem stocken. Vor ihnen im Süden lag tief unter ihnen eine Ebene, eine riesige Ebene. Aber nicht die Größe war das Ungewöhnliche, nein, große Ebenen gab es in Narull viele. Das Ungewöhnliche war, dass sie bewaldet, grün und schneefrei war. Kein noch so kleiner Flecken Schnee oder Eis war zu sehen. Es musste dort sehr warm sein. Der Junge hatte wahrhaftig einen Weg durch das Gebirge gefunden und Schull wurde mit einem Schlag die Tragweite dieser Entdeckung bewusst.

Für Narull war soeben eine neue Zeit angebrochen.

***

In den nächsten Tagen, Wochen und Monaten schien es allen, als ob die Arbeit nicht zu bewältigen wäre. Für das Beklagen der Toten blieb wenig Zeit. Außer dem Wiederaufbau des Dorfes mussten die anderen Arbeiten mit weniger Leuten verrichtet werden. Das Bestellen der Felder, Füttern der Tiere, Melken der Kühe und was täglich so alles anfiel, durfte nicht vernachlässigt werden, wenn sie nicht im nächsten Winter Hunger leiden wollten. Die Winter im Norden waren kalt und lang. Doch sie hatten, was das Wetter betraf mit dem milden Frühling Glück. Vor allem zu Beginn, als keiner ein Dach über dem Kopf hatte, blieben sie von übermäßiger Kälte, Regen oder gar Schnee verschont.

Pirion, Hanreks Vater, wurde eine besondere Ehre zu Teil. Das Dorf wählte ihn zu ihrem neuen Tel. Doch mit dieser Ehre war natürlich insbesondere in dieser schweren Situation auch viel Verantwortung verbunden.

***

Hanrek war schon recht groß gewachsen für sein Alter aber er war noch lange nicht ausgewachsen und das, obwohl er schon seit einiger Zeit seinen Vater überragte. Dass er noch länger und breitschultriger werden würde, ließ sich vermuten, da seine Hände und Füße im Verhältnis zu seinem restlichen Körper sehr groß waren und er vermittelte auch sonst den Eindruck, als ob er noch nicht ganz Herr in seinem Körper wäre.

Sein Vater war eher stämmig und breit. Die körperliche Größe hatte Hanrek von seiner Mutter, die für eine Frau recht hoch gewachsen war. Auch die dunklen fast schwarzen Haare hatte er von ihr. Seit dem Winteranfang hatte er seine Haare nicht mehr schneiden lassen und jetzt fielen sie ihm in dunklen Locken über die Schulter. Woher er seine tiefblauen Augen hatte, wusste er nicht. Sowohl seine Eltern als auch sein jüngerer Bruder Stonek hatten braune Augen wie die meisten Bewohner in dieser Gegend des Königreichs. Sein Bruder sah ihm sonst aber bemerkenswert ähnlich, wobei er bis jetzt noch um einiges kleiner war.

Es war genau in den Tagen, in denen das ganze Dorf draußen unter freiem Himmel kampieren musste, als Hanrek eine Veränderung an sich spürte. Nein es war nicht das Bewusstsein, dass er größer und breitschultriger wurde, dass ihm die ersten Barthaare sprossen oder dass ihn öfter die neuen und manchmal erschreckend befremdlichen Gedanken und Wünsche eines normalen Vierzehnjährigen befielen. Nein es war eine Empfindung, die er nachts auf seinem Strohlager im Freien hatte.

Tagsüber ging die Zeit angefüllt mit Arbeit wie im Flug vorüber. Wie alle anderen hatte auch er kaum Zeit sein Essen in Ruhe zu genießen, sondern er schlang es hinunter, die nächste Aufgabe schon wieder vor sich. Nur spät abends, wenn das Dorf zur Ruhe gekommen war, fand er die Zeit, darauf zu achten.

Anfangs war es wie eine leichte Berührung, die er spürte, wenn er sich ganz entspannte. Sie kam aus der Erde, auf der er lag. Wenn er sich darauf konzentrierte, hatte er den Eindruck, dass er fühlen konnte, wie das Gras um ihn herum wuchs. Diese Empfindungen waren so verstörend, dass er mehrfach aufsprang und verwirrt in der Dunkelheit umher ging.

Zurück auf seinem Lager und mit der nötigen Konzentration vor dem Einschlafen meinte er erneut zu spüren, wie sich die Wurzeln des Grases in die Erde gruben. Er meinte die Insekten im Gras zu fühlen und die Würmer im Boden, ja er hatte sogar das Gefühl zu spüren, wie die Wurzeln der umliegenden Bäume durstig Wasser aufsaugten.

Hanrek zweifelte an sich und hatte das Gefühl verrückt zu werden und doch hatten diese verstörenden Empfindungen zugleich auch eine beruhigende Wirkung auf ihn, da er in diesen Momenten mit seiner Umgebung verschmolz, so sehr, dass er darüber seinen eigenen Körper fast vergaß.

Hanrek war hin und her gerissen, er hätte Zeit benötigt, um in Ruhe über die Empfindungen nachdenken zu können aber die hatte er wegen der vielen Arbeit nicht. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte sich seiner Mutter oder seinem Vater anvertrauen und tat es dann doch nicht, aus Angst sie würden ihn tatsächlich für verrückt halten oder es als Spinnerei eines Heranwachsenden abtun. Einerseits freute er sich auf die Nächte und andererseits hatte er Angst davor.

Denn mit jeder Nacht, die er im Freien verbrachte, wuchs die Intensität, mit der er seine Umgebung über die Erde fühlen konnte. Auch der Radius wurde größer. Die Gefühle schlossen zunehmend auch Lebewesen ein, die sich bewegten, wie die kleinen Feldmäuse, die ganz in der Nähe ihren Bau hatten, einen herumstreunenden Fuchs und schließlich die um ihn lagernden Menschen und Haustiere. Er konnte wahrnehmen, ob seine Mitmenschen Angst hatten oder sich freuten, ob sie sich wohlfühlten oder Schmerzen hatten.

Diese Eindrücke waren es, die ihm besonders Angst machten, denn einerseits übertrugen sich die Stimmungen auf ihn und andererseits kam er sich wie ein böser Eindringling vor, der unerlaubt an Dingen teil hatte, die ihn nichts angingen.

Hanrek begann sich zu verschließen, wollte die Gefühle der anderen aus seinem Leben halten und schaffte es doch nicht. Dieser Konflikt dauerte über Tage, Wochen und Monate und zerriss in fast.

Und doch gab es auch etwas, was ihm in diesen Konflikten half. Es waren die Bäume um ihn herum. Wenn er sich öffnete und in seiner Umgebung Bäume spürte, vermittelten diese ihm einen Frieden, der ihm bis in die Fingerspitzen drang. Und mit dem Bewusstsein, dass dieses Gefühl des Friedens nichts Schlechtes sein konnte, bezwang er nach und nach den inneren Konflikt und ließ sich auf die Veränderungen ein.

Und auch wenn er lange sehr darunter gelitten hatte, bezeichnete er in seinen Gedanken das, was er nachts empfand, als die „Gabe“.

Je größer der Radius wurde und die Intensität wuchs, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er lernen musste, die Gabe zu beherrschen. Denn die Empfindungen um ihn herum waren so stark und so zahlreich, dass die Gefahr bestand, dass er sich selbst vergaß und dass sie ihn fortspülten. Aber er traute sich immer noch nicht, jemanden um Hilfe zu fragen.

So lernte er allmählich, ganz ohne fremde Hilfe, das Gefühlte gegeneinander abzugrenzen, einzelne Empfindungen auszuschließen und er lernte, sich auf bestimmte Gefühle zu konzentrieren. Wochenlang arbeitete er jede Nacht daran und manchmal war er sogar tagsüber in der Lage sich auf die Gabe einzulassen.

Immer weiter verfeinerte er die Gabe, sodass er schließlich sogar feststellen konnte, dass der Schmerz, den ein vorbeistreunender Fuchs in der Pfote litt, durch einen Dorn hervorgerufen wurde, der noch im Fußballen steckte. Er lernte, dass er die Gabe nicht einsetzen konnte, wenn er selbst oder das, was er erspüren wollte, auf Stein stand. Anfangs verwirrte es ihn jedes Mal, wenn er einem Tier nachspürte, das lief und dabei auf Steine trat. Die Verbindung wurde dann so jäh unterbrochen, dass es ihm vorkam, als wäre er plötzlich blind geworden. Im nächsten Moment war der Kontakt dann wieder da, was ihn genauso verwirrte. Eben noch blind und plötzlich im grellen Sonnenlicht.

Die Gabe wurde mehr und mehr ein Teil seiner selbst aber nach wie vor scheute er sich, mit jemandem darüber zu reden, sondern er hütete sie wie einen wertvollen Schatz. Er hatte noch nie von etwas Vergleichbarem gehört. Vielleicht war er ja der Einzige, der so etwas fühlen konnte.

***

Die meisten Trümmer waren mit vereinten Kräften notdürftig an den Waldrand geschafft worden. Dort lag jetzt ein riesiges Feld von zersplitterten Holzbalken. Zum Bauen konnte man dieses Holz nicht mehr verwenden, lediglich zum Verfeuern taugte es noch. Im nächsten Winter würde der riesige Holzberg merklich schrumpfen.

Allmählich wurde im Dorf ein Haus nach dem anderen wieder aufgebaut. Eine Familie nach der anderen konnte nachts zum Schlafen in ihr Haus zurückkehren. Auch Hanreks Familie konnte nach einigen Monaten in ihr zwar noch unfertiges Haus umziehen, aber zumindest ein Dach über dem Kopf hatten sie wieder. Im ganzen Haus roch es nach frischem Holz. Die gemauerten Wände waren noch feucht, die Einrichtung dürftig und der Garten hinter dem Haus war ein einziges Schlammfeld.

„Links. Rechts. Links. Rechts. Fannilo, gut so. Hanrek, nicht die Beinarbeit vernachlässigen. Hansen, nimm die Deckung höher.“

Klack, klack,

Klack, klack,

machten die Stäbe mit denen Hanrek und vier weitere seiner gleichaltrigen Freunde unter der Aufsicht von Spartak dem Ausbilder der Dorfwehr den Stockkampf übten.

„Alle Mann, halt.“, rief Spartak.

Sofort ließen die vier Kämpfer die Stäbe sinken. Der Fünfte, der wartend an der Seite im Stroh gesessen hatte, kam auf die Füße und näher, sodass sie alle erwartungsvoll vor Spartak standen und auf die nächste Lektion warteten.

Spartak war zweiundzwanzig Jahre alt und ein durchtrainierter untersetzter Mann, der seit drei Jahren die Aufgabe des Ausbilders übernommen hatte. Er widmete sich mit Leib und Seele dieser Aufgabe und nichts war ihm zu viel, wenn es um die Ausbildung seiner Schützlinge ging.

„Ihr wisst, dass es ein Stockkämpfer ohne große Schwierigkeiten auch mit einem Schwertkämpfer aufnehmen kann. Wenn der Stockkämpfer seinen Stab aber so einsetzt wie ein Schwert, wird er keine Chance haben. Der Vorteil des Stabs liegt in seiner größeren Reichweite, seinem leichteren Gewicht und vor allem in seiner Vielseitigkeit. Am besten zeige ich euch an einem praktischen Beispiel, was ich mit Vielseitigkeit meine. Hansen, komm her!“

Die beiden stellten sich in Position.

„Wir beginnen so wie die letzte Übung mit links, rechts, links, rechts. Du machst einfach immer weiter die gleichen Angriffs- und Abwehrbewegungen wie bisher.“, sagte Spartak zu Hansen gewandt.

„Ich werde dann meine Angriffsbewegungen, sagen wir, ein wenig anpassen. Du brauchst keine Angst zu haben Hansen. Ich werde dich nicht verletzen.“

Dabei klopfte er seinem Schüler beruhigend auf die Schulter.

Die beiden begannen die Übung.

Klack, klack,

Klack, klack.

Gleichmäßig wurden Angriffs- und Verteidigungsbewegungen vorgetragen.

Plötzlich ohne erkennbare Änderung in der Bewegung schlug Spartak in der Angriffsbewegung nicht zu sondern wich dem Schlag aus und ließ gleichzeitig seinen Stab durch die Finger gleiten, sodass das längere Ende nicht mehr oben sondern unten war. In der gleichen fließenden Bewegung fädelte er das nun längere untere Ende zwischen Hansens Stab und seiner rechten Armbeuge ein. Eine kurze Körperdrehung, und Hansen segelte in hohem Bogen durch die Luft. Da sie das Fallen oft genug geübt hatten, tat er sich bei dem spektakulären Wurf zwar nicht weh, ein wenig verdutzt schaute er aber schon aus, als er von unten zu seinem Lehrer hoch schaute.

„Das ist der Grund, wieso ich dir vorhin sagte, dass du die Deckung hoch nehmen sollst. Wenn du es nicht tust, gibst du damit dem Angreifer die Möglichkeit diese Finte anzuwenden.“

Nach dem Erdbeben hatte Spartak gegen Ende des letzten Herbstes damit begonnen, den nächsten Jahrgang der heranwachsenden jungen Männer im Kampf auszubilden. Neben dem Stockkampf waren dies der Schwertkampf und das Bogenschießen. Die Ausbildung im Kampf war ein Gesetz des Königs und sollte sicherstellen, dass in seinem Königreich immer genug Soldaten für seine Armee zur Verfügung standen. In anderen Landesteilen war das viel wichtiger als in der Stadt Haffkef und in seiner Umgebung. In Haffkef gab es keine Garnison und keine Soldaten. Lediglich eine Stadtwehr war vorhanden und in den umliegenden Dörfern die Dorfwehren. Und diese beschäftigten sich vor allem mit wilden Tieren wie Wölfen und Bären, die in kalten Wintern manchmal aus den nahen Bergen in die Ebene herunterkamen. Es gab auch keine Räuberbanden hier, die die Gegend unsicher gemacht hätten.

„Räuber sind vor allem ein Zeichen dafür, dass das Land seine Bewohner nicht ernähren kann oder dass der König das Land ausbeutet.“, sagte Pirion, Hanreks Vater immer, wenn es auf dieses Thema kam.

„Wer will schon geächtet und verfolgt irgendwo im Wald leben, wenn er auch in einem Dorf unter einem ordentlichen Dach leben kann?“

Als Stadt im hintersten nördlichen Winkel des Königreichs war es ziemlich unwahrscheinlich, dass Haffkef und seine Umgebung mit Krieg zu tun hatten. Und selten zog es einmal einen der jungen Männer in eine der Städte im Süden, um sich dort als Soldat zu verdingen. Und wenn es einer tat, kam er nach seinem Dienst in der Armee sicher nicht in den kalten langweiligen Norden zurück.

Ziemlich genau ein Jahr war seit dem schrecklichen Erdbeben vergangen. Erst im Herbst waren die Aufräum- und Aufbauarbeiten so weit gediehen, dass ein geregelter Ablauf im Dorf wieder möglich war. Das bedeutete, dass erst seit dieser Zeit die kleineren Kinder wieder Schule hatten und die größeren Jungs ab vierzehn Jahren ihre Ausbildung an den Waffen bekamen.

Die kleineren Kinder, zu denen auch Hanreks zwölfjähriger Bruder Stonek gehörte, wurden von Zacharia dem Dorfgelehrten unterrichtet. Er lehrte sie neben Lesen, Schreiben und Rechnen in allen Fragen der Bräuche und der Kultur des Königreichs. Er beantwortete ihnen gerne so Fragen wie nach dem Alter des Königs oder wieso alle Dörfer auf „el“ enden und die Städte mit „ef“.

„In unserem Königreich enden fast alle Dorfnamen auf „el“. Damit erkennt man, ob von einem Dorf oder einer Stadt gesprochen wird. Fast alle Städte enden auf „ef“. Lediglich die Städte des Königs enden auf „om“. Wenn also unsere Stadt eine Stadt des Königs wäre, würde sie nicht Haffkef sondern „Haffkom“ heißen. Aber dafür ist unsere Stadt zu klein und unbedeutend.“

Jedes Mal, wenn Hanrek Zacharia davon reden hörte, dass die Stadt Haffkef klein sein sollte, hielt er ihn für einen Aufschneider, weil er bei jedem Besuch in der Stadt mit offenem Mund die großen Häuser, die Gärten, den schönen Brunnen und die hohe Stadtmauer bewunderte. Der Lärm auf den Straßen mit den vielen Pferdekarren und Menschen erschreckte ihn jedes Mal. Er war sich sicher, dass er sich nie daran gewöhnen würde.

Zacharia fuhr mit seiner Erklärung fort.

„Insgesamt gibt es dreizehn Städte des Königs. Die Wichtigste ist aber die, in der der König selbst lebt und regiert. Das ist Kiroloom. Ihr Name endet zur Ehre des Königs auf „oom“. Und dementsprechend enden die Namen der Dörfer in der Nähe einer Stadt des Königs mit „ol“ und Dörfer in der Nähe von Kiroloom mit „ool“.“

Spartak hieß sie, sich für die nächste Übung aufzustellen. Hanrek mochte den Stockkampf und das Bogenschießen. Dagegen mochte er den Schwertkampf überhaupt nicht. Obwohl sie bisher nur mit Holzschwertern geübt hatten, bereitete ihm der Gedanke an abgeschlagene Arme und Beine Übelkeit.

Hanreks Gedanken schweiften zum Bogenschießen ab. Seine Gefühle für das Bogenschießen waren zwiespältig. Anders als der Schwert- und Stockkampf, den sie in einem geschlossenen Raum übten, fand das Bogenschießen am Dorfrand statt. Da es im Freien war, konnte er ohne Probleme die Gabe einsetzen. Er konnte daher das Ziel nicht nur sehen sondern auch fühlen. Irgendwie war es dadurch besonders einfach zu treffen, was ihm jedes Mal ein anerkennendes Nicken von Spartak einbrachte. Da es aber draußen war, fand sich jedes Mal nach einer gewissen Zeit eine immer größer werdende Zuschauermenge ein. Unter anderem versammelten sich die gleichaltrigen Mädchen, die tratschten und jeden Schuss der Jungs kommentierten. Darunter war auch Miria die Nachbarstochter.

Miria war ungefähr einen Kopf kleiner als Hanrek, sie hatte zierliche Glieder. Ihre rotbraunen gelockten Haare, trug sie meist offen. Einen ziemlichen Kontrast zu ihren Haaren bildeten ihre grünen Augen in ihrem braun gebrannten Gesicht. Ein keckes Grübchen verlieh ihrem Gesicht immer den Ausdruck, als ob sie gleich anfangen wollte zu lachen, selbst wenn ihr gar nicht zum Lachen zumute war.

Seit einiger Zeit konnte Hanrek sich immer dann, wenn er sie sah oder auch nur an sie dachte, nicht mehr konzentrieren. Er stammelte, wenn sie sich trafen und sie ihm eine Frage stellte. Er fiel über seine eigenen Füße, wenn sie nur zufällig einmal in seine Richtung schaute. Und natürlich traf er keinen Schuss mehr beim Bogenschießen, sobald er sie unter den Zuschauern bemerkte, was ihm jedes Mal prompt einen tadelnden Blick von Spartak einbrachte.

„Autsch.“

Da war es passiert. Er war nur durch den Gedanken an Miria unkonzentriert gewesen und sein Gegenüber hatte ihm den Stab schmerzhaft aus der Hand geschlagen, sodass er mit lautem Klappern zu Boden fiel.

„Hanrek“, tadelte Spartak ihn aufgebracht, „Das ist für einen Drachentöter nicht würdig. Konzentriere dich gefälligst auf die Übung, die wir machen. Wenn du weiter so träumst, darfst du später den Übungsraum alleine aufräumen.“

Um ihn bei der Ehre zu packen, hatte Spartak absichtlich seinen Spitznamen „Hanrek, der Drachentöter“ verwendet.

„Hanrek, der Drachentöter“ nachdem ihn seine Eltern benannt hatten, war der Held aus einem Märchen. Jeder kannte dieses Märchen und die Geschichte, wie Hanrek den letzten Drachen getötet hatte. Vielleicht hatte es diesen Hanrek ja wirklich gegeben, denn zumindest Drachen gab es keine mehr. Hanrek hatte in seinem fünfzehnjährigen Leben wahrscheinlich schon alle Vor- und Nachteile kennengelernt, die es hatte, wenn man nach einem Helden benannt war. Selbstverständlich war immer nur einer in Frage gekommen, wenn sie als kleine Kinder gespielt hatten und die beliebte Rolle des unschlagbaren Helden zu vergeben war. Leider musste sich ein Held auch immer heldenhaft und vor allem ehren- und tugendhaft verhalten. Dieser Teil hatte ihm meist weniger gefallen, besonders da diese Eigenschaft eines Helden immer dann gefragt war, wenn es ums Teilen einer Leckerei oder die Verrichtung einer ungeliebten Arbeit ging.

Ein Teil des Märchens war ein Gedicht. Mehrere Strophen des Gedichts wurden als Abzählreime oder für Hüpfspiele verwendet. „Erde, Feuer, Wasser, Stein …“ Diese hatte er immer gehasst, weil sie allzu oft als das Hanrek-Hüpfspiel oder als der Hanrek-Reim bezeichnet wurden. Da er aber oft mit seinem Namen und der Bezeichnung Drachentöter aufgezogen worden war, hatte er gelernt, sich dafür ein dickes Fell zuzulegen und statt sich darüber zu ärgern, den Spaß mit zu machen. So reagierte er auch jetzt auf die Provokation von Spartak mit einer Verbeugung vor seinem Übungspartner und gratulierte ihm lächelnd zu seinem Sieg als Drache über den unbesiegbaren Drachentöter. Damit hatte er die Lacher auf seiner Seite. Als er seinen Stab vom Boden aufhob, hörte er zwar Spartak etwas von „frecher Lümmel“ in seinen Bart murmeln, aber sobald er wieder in Position stand, gingen alle wieder gut gelaunt an die Übungen.

Als die Übungsstunde zu Ende war, ermahnte sie Spartak.

„Euch ist klar, dass ihr wegen des Erdbebens im letzten Jahr ein halbes Jahr hinter dem her hinkt, was ihr eigentlich können müsst. Macht deswegen die Übungen, die ich euch gezeigt habe, so oft ihr könnt. Ihr könnt sie auch alleine machen. Wichtig ist nur, dass ihr die Bewegungen oft macht.“

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