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3.1.7 Stress und (Epi-)Genetik

Die Wissenschaftsdisziplin Epigenetik wird in Kapitel 28 erläutert. Neuere Forschungen belegen, dass sowohl genetische wie auch epigenetische Faktoren eine wesentliche Rolle bei der Verarbeitung von Stress spielen.

Unsere genetische Konstitution wirkt sich auf unsere individuelle Stressanfälligkeit aus. Abschnitte des Erbgutes, die für die Aktivität der Stresshormone mitverantwortlich sind, (dazu gehören z. B. Polymorphismen der Gene BDNF, COMT, MAOA, FKBP5) stehen im Fokus der aktuellen Forschung. Dazu kommen die epigenetischen Einflüsse, also die Frage, ob vorhandene Gene abgelesen werden oder stillgelegt wurden.


Es gibt nach dem derzeitigen Stand der Forschung weder ein Burnout-Gen, noch ein Depressions-Gen – aber erhöhte Anfälligkeiten, die sich in einem komplexen Zusammenspiel mit anderen Genen, mit unserer Lebensweise und mit Lebensereignissen auf unsere individuelle Stressresistenz auswirken können.

In einer akuten Stress-Situation werden Kaskaden von Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt. Die Werte dieser sogenannten Katecholamine können um das 50-fache ansteigen. Sie binden an die alpha- und beta-adrenergen Membranrezeptoren vieler, sehr unterschiedlicher Zellen im ganzen Körper. Beta-2-Rezeptoren neigen bei chronischer Stimulation, z. B. bei chronischem Herz-Kreislauf Stress zur Desensibilisierung. Ihre Anzahl kann erheblich abnehmen. Die Rolle der Beta-2-Rezeptoren wurde z. B. bei ME/CFS-Patienten untersucht. 3.1.7/1 Wirth, Scheibenbogen

Um die Stresshormone Adrenalin, Dopamin und Noradrenalin abzubauen, werden mehrere Enzyme benötigt. Dr. Kurt E. Müller beschreibt in seinem Positionspapier zur COVID-19 Pandemie u.a. den unguten Zusammenhang zwischen steigender Stresslast und unzureichendem Abbau der Stresshormone.

„Der ursprünglich für Notfallreaktionen vorgesehene Gebrauch von Katecholaminen (KA) erfolgt inzwischen im alltäglichen Leben. Grund hierfür sind Tempo, Zeitdruck, Komplexität des täglichen Lebens, sozialer Stress und Funktionseinbuße des parasympathischen Nervensystems. Die Ansicht, dass deren Produktion nur im ZNS [Zentralnervensystem], der NNR [Nebennierenrinde] und dem sympathischen Nervensystem erfolgt, ist überholt. KA und ihre Rezeptoren werden von einer ganzen Reihe der Immunzellen produziert. Die andauernde Stressreaktion durch KA hemmt die Immunfunktion. [...] Verstärkt wird er bei den Menschen, die eine genetisch geminderte Funktion der Catechol-O-Methyltransferase (COMT) aufweisen, was bei ~15 % der Bevölkerung der Fall ist.“ [Quellenhinweise im Originaltext] 3.1.7/2 Müller

COMT kann in verschiedenen Gen-Varianten vorliegen. Entsprechend werden zwei unterschiedlich aktive Formen des COMT-Enzyms gebildet – „Val“ oder „Met“. Die Val-Variante des Enzyms ist bis zu vierfach aktiver als die Met-Variante. Da jedes Gen in zwei Kopien vorliegt, gibt es Menschen, die zwei Val-Varianten, andere, die zwei Met-Varianten haben, sowie solche, die beide Enzymarten besitzen. Durch eine genetische Untersuchung kann geklärt werden, ob ungünstige Genvarianten vorliegen.

Systemischer Einfluss auf das Immunsystem

Sowohl das angeborene wie auch das erworbene Immunsystem werden durch Katecholamine direkt beeinflusst. B-Lymphozyten, T-Lymphozyten, Natürliche Killerzellen (NK-Zellen), Dendritische Zellen und Makrophagen haben Rezeptoren für diese Botenstoffe. Darüber hinaus können Lymphozyten selbst Katecholamine synthetisieren und freisetzen.


Katecholamine sind, neben ihrer Funktion als Neurotransmitter auch Regulatoren der Immunfunktion: Stresserleben hat direkten Einfluss auf Immunfunktionen, und umgekehrt!

Andauernde Stressreaktionen hemmen die Immunfunktion: Ein Überschuss an Katecholaminen führt zu einer Verschiebung der Zytokine vom TH-1 zum TH-2-Pfad (d.h. vom „Verteidigungs-System“ zum „Toleranz-System“). } Siehe Kapitel 5.4

COMT und Umweltschadstoffe

Das Enzym COMT wird gebraucht, um bestimmte Medikamente zu verstoffwechseln (z. B. Amphetamine, Methyldopa, Catecholaminhaltige Notfallmedikamente wie Epinephrin) und um Umweltchemikalien wie einfache Phenole, Hydrokarbone, Anthrachinone, Dibenzodioxine und Dibenzofurane abzubauen.


Damit konkurriert der Abbau von Katecholaminen mit dem Abbau von Umweltschadstoffen und Medikamenten. Je weniger COMT zur Verfügung steht, desto weniger Substanzen (Katecholamine, Medikamente oder Umweltschadstoffe) können abgebaut werden.Das bedeutet, dass die heutige Grundbelastung mit Schadstoffen für große Teile der Bevölkerung ein physiologisches Problem darstellt, weil sie bei ungünstigen genetischen Voraussetzungen nicht abgebaut werden können.

Wer aufgrund einer ungünstigen COMT-Genvariante Katecholamine nicht vollständig abbauen kann, steht ständig „unter Strom“, der Organismus gibt dann ständig „Vollgas“. Diese Variante ist bei ca. 15 % der Bevölkerung zu finden. Bei dieser Konstitution wirken sich Umgebungsfaktoren, die mit unserer modernen, hektischen Lebensweise zusammenhängen, stärker aus, als wenn Betroffene in vorindustrieller Zeit gelebt hätten.

Neurostress

Der Begriff „Neurostress“ umfasst die Gesamtheit aller pathologischen Veränderungen der neuroendokrinen Stressachse und deren systemische Auswirkungen auf die Psyche, auf neurologische, endokrin/hormonelle und auf immunologische Phänomene.

Beschwerden wie Ängste, Unruhe, Motivationsverlust, kognitive Störungen, Fatigue/Leistungsabfall, Überempfindlichkeitsreaktionen, Schlafstörungen oder Schmerzen sowie Erkrankungen wie Depressionen, Burnout oder Migräne können als Funktions-Störungen verstanden werden, die auf neuro-regulatorischen Dysbalancen beruhen. Die Balance zwischen exzitatorischer (erregender) und inhibitorischer (dämpfender) Gehirnchemie ist gestört.


Der Ablauf der Stressantwort kann bei erworbenen multisystemischen Erkrankungen auf mehreren Ebenen gestört sein, z. B. durch ein Ungleichgewicht der Stresshormone, durch Dysfunktionen/Resistenzen bei den Rezeptoren; durch einen gestörten Abbau aufgrund eines (epi/genetischen) Mangels oder eines Überschusses an stressabbauenden oder entzündungshemmenden Enzymen.

3.1.8 Stressbedingte Erkrankungen

Aus physiologisch wird pathologisch

Wenn der physiologische Ablauf der Stressantwort nicht gewährleistet ist, entstehen als Langzeitwirkungen unterschiedliche stressbedingte Erkrankungen. Stressbedingte Erkrankungen sind in der Regel chronisch-entzündliche Erkrankungen.


Physiologische Reaktion auf stressorische ReizePathologische Folgen
Bereitstellung von Energie, um potenziell flüchten oder angreifen zu können.Das permanente Abrufen der Katecholamine (Adrenalin, Noradrenalin, weitere) verbraucht viel Energie und baut Substanzen ab (z. B. Proteine, Calcium) � Erhöhtes Risiko für Muskelschwund, Osteoporose.Auf emotionaler Ebene: Angst, Aggression.
Energie in Form von Blutzucker wird für die Muskeln und für das Gehirn bereitgestellt.Zuckerstoffwechselstörungen, Gewichtsprobleme, Insulinresistenz, Prä-Diabetes, Diabetes mellitus.
Bereitstellung von BlutfettenFettstoffwechselstörungen bis hin zu Adipositas.
Der Blutdruck steigt, der beschleunigte Blutkreislauf intensiviert den Transport von Sauerstoff in die Zellen und Gewebe.Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schwindel.
Mitochondrien erhöhen die ATP-Produktion, als Nebenprodukt entstehen vermehrt freie Sauerstoff-Radikale.Zu viel oxidativer Stress entsteht. } Siehe Kapitel 5.5
Freisetzung von NO und weiteren Signalmolekülen.Zu viel nitrosativer Stress entsteht. } Siehe Kapitel 5.5
Das „Cortisol-Netzwerk“ ist dauerhaft hoch. Das Immunsystem wird heruntergefahren, das Schmerzempfinden sinkt.Störungen der Immunregulation, erhöhte Infektionsanfälligkeit, schlechte Wundheilung, dünne, brüchige, neurodermitische Haut. Cortisol bedingter Fettansatz im Gesicht, Nacken, Stamm und Abdomen.
Die Stressantwort hat Vorrang vor der Schilddrüsen-, Wachstumshormon- und Geschlechtshormon-Achse.Ungleichgewichte bei den Schilddrüsen-, Wachstums- und Sexualhormonen.
Der Sympathikus ist aktivHypertonie, Erregbarkeit, Abgeschlagenheit, Schlafstörungen. Inaktivierung des Parasympathikus, mangelnde Regeneration � Burnout.
Das Verdauungssystem wird zum Überleben nicht gebraucht und macht Pause.Magen-Darm-Störungen: Appetit-, Nahrungsverwertungsstörungen, Reizdarm.
Herunterfahren weiterer Vitalfunktionen, z. B. Sexualität, die in Stress-Situationen nicht dem Überleben dienenGynäkologische/urologische Störungen, (z. B. Libido-, Erektionsstörungen, Menstruations-Beschwerden).
in Stress-Situationen können wir nicht schlafen.Störungen des Schlaf-/Wachrhythmus.
Mikro-Entzündungen entstehen als Antwort auf Stressoren.Dauerhafte, subklinische Entzündung/Silent Inflammation. Im ganzen Organismus, auch im Gehirn � Risiko für Depressionen.
Der Verbrauch des Wohlfühlhormons Serotonin ist erhöht, die Synthese wird gehemmt.Serotonin-Mangel hat Auswirkungen auf unsere Stimmung, auf den Schlaf, auf Appetit, Sexualverhalten, auf die Temperaturregelung und auf die Schmerzwahrnehmung.
Automatisierte Aktivierung archaischer GehirnfunktionenÜberlastungs-Störungen, Aggressivität. Langfristig: Abbau kognitiver Gehirnfunktionen, Gedächtnisstörungen.
Die Skelettmuskulatur wird mit Blut und Nährstoffen versorgt, zur Vorbereitung für Kampf oder Flucht spannen sich viele Muskelgruppen an, was mit einem Zittern einhergehen kann.Muskelverspannungen, -verhärtungen, Schmerzen.
Die Atmung wird schneller, der Puls steigt.Atemwegserkrankungen, Asthma.
Hände und Füße schwitzen, der Mund wird trocken. Wir werden blass, wir bekommen eine „Gänsehaut“. Der einsetzende Harndrang kann dazu führen, dass wir vor Schreck unwillkürlich Wasser lassen.Neuro-vegetative Störungen.
Alle Sinne sind angespannt, die Pupillen weiten sich. Die Konzentration richtet sich auf die Bedrohung, alles andere wird kurzzeitig ausgeblendet.Tunnelblick, kognitive Überlastung, Gereiztheit.

3.2 Unterschwellige Stressoren

Die (un-)heimlichen Stressoren

In Kapitel 3.1 wurde die Antwort des Organismus auf sinnlich wahrnehmbare Reize geschildert. Nun wenden wir uns den sinnlich eher nicht-wahrnehmbaren, unterschwelligen Faktoren zu. Die beiden Bereiche lassen sich nicht trennscharf unterscheiden, sie sind ineinander verwoben.

Die multifaktorielle Gesamtlast

Im vorliegenden Buch wird die Gesamtheit der wahrnehmbaren und der nicht unmittelbar wahrnehmbaren Faktoren als „multistressorische“ bzw. „multifaktorielle“ Gesamtlast bezeichnet. Sie lassen sich grob in biologische, chemische, physikalische und psychische Faktoren einteilen.

Der schwer nachzuweisende Zusammenhang zwischen „unsichtbaren“ Expositionen und deren Wirkung auf die Zellgesundheit ist von Interesse für das Verständnis von multisystemischen Erkrankungen: Welchen Anteil haben unterschwellige Umweltfaktoren an deren Entstehung?

Ein Beispiel für Faktoren, die wir nicht wahrnehmen können, sind Viren. Viren blieben lange unentdeckt, weil sie nur aus einem DNA oder RNA-Faden, z.T. mit Proteinhülle, bestehen. Biologen schätzen, dass zehnmal mehr Viren als Bakterien in und auf unserem Organismus zu finden sind. Manche dieser Viren verursachen Erkrankungen, andere koexistieren mit uns oder wurden sogar Teil unserer DNA. Viren gehören zu den Faktoren, die – ebenso wie Rauch, Pflanzen- und Tiergifte oder Bakterien – unsere Menschheitsgeschichte schon lange begleiten. COVID-19 lehrt uns, dass Viren Meister in der feindlichen Übernahme unserer Zellsysteme sind.


Neuartige Stressoren/NoxenAbgase, Radioaktivität und Mikroplastik sind Beispiele für neuartige Stressoren. Wir können sie nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken. Unsere Sinne warnen uns nicht vor diesen potenziellen Gefährdungen.Fachsprachlich wird im Gesundheitswesen jede Art von Substanz, die potenziell schädlich wirken könnte, als „Noxe“ bezeichnet.

3.2.1 „Novel entities“ – Neuartige Substanzen

Internationale Wissenschaftler um den schwedischen Professor Johan Rockström veröffentlichten erstmals 2009 das Konzept der „Planetaren Grenzen“. 3.2.1/1 Steffen et al. Sie benannten neun globale Prozesse, die das Gleichgewicht unserer Erde bedrohen. Einer dieser globalen Prozesse betrifft anthropogene Stoffeinträge, das sind von Menschen durch moderne Technologien neu geschaffene und in die Umwelt eingebrachte Substanzen und Emissionen. Diese Substanzen wurden in der Studie unter dem englischen Begriff „novel entities“ (Deutsch: „Neue/Neuartige Stoffe/Substanzen“) zusammengefasst.


Abb. 3.2.1/1 Belastung vorindustriell und heute

Dazu gehören

 sämtliche durch menschliches Handeln erzeugte neue Substanzen, wie z. B. synthetische organische Schadstoffe/Chemikalien (Xenobiotika) inklusive Nanomaterialien und Mikrokunststoffe oder radioaktive Materialien.

 Natürlich vorkommende Elemente (z. B. Schwermetalle), die durch anthropogene Aktivitäten quantitativ zunehmen, sowie modifizierte Lebensformen, (wie genetisch veränderte Organismen oder Produkte der synthetischen Biologie) die das Potenzial für unerwünschte geophysikalische und/oder biologische Wirkungen haben.

Die globale Einführung der novel entities in die Umwelt ist sowohl aus umweltpolitischer wie auch aus medizinischer Sicht besorgniserregend:

1 Weil diese Substanzen persistierend sind, d.h. sie verbleiben über unabsehbar lange Zeiträume in der Umwelt.

2 Sie sind über große Distanzen wie Klimazonen oder Kontinente hinweg mobil und entsprechend weit verbreitet. Wir sehen das z. B. in Funden von Mikroplastik im arktischen Eis.

3 Zum dritten haben Novel entities Auswirkungen sowohl auf lebenswichtige Prozesse im „System Erde“, wie auch auf lebenswichtige Prozesse im Organismus von Tier und Mensch.


Die novel entities haben das Potential, unerwünschte geophysikalische oder biologische Effekte im System Erde auszulösen und gleichzeitig ebenso unerwünschte Effekte im menschlichen Organismus zu bewirken – die Folgen sind hier wie da potenziell irreversibel.

Gefährlichkeitsprofile der neuen Substanzen

Wir befinden uns mitten in einem Freisetzungs-Experiment mit globalen Auswirkungen. Von einem regelhaft durchgeführten Screening neuartiger Substanzen, bevor sie in die Umwelt freigesetzt werden, sind wir derzeit weit entfernt. Potenziell gefährliche Strahlen, Substanzen und Gase begleiten uns durch den Alltag und sind behördlich zugelassen – doch die gesundheitlichen Risiken sind unabsehbar.

Späte Lehren aus frühen Warnungen

Im Jahr 2001 veröffentlichte die Europäische Umweltagentur/EUA den Bericht Late lessons from early warnings: Environmental issue report No 22 01/2002. Unter dem Titel „Späte Lehren aus frühen Warnungen: Das Vorsorgeprinzip 1896–2000“ publizierte das Umweltbundesamt 2004 die deutsche Übersetzung. Untersucht wurden die Vorsorgekonzepte und die Risikobewertung, bzw. das Risikomanagement der vergangenen hundert Jahre in Bezug auf die Gesundheit der Bevölkerung und auf die Umweltsituation in Europa.


Abb. 3.2.1/2 Die Komplexität toxischer Wirkungen

Die wenigsten neuartigen Substanzen werden hinsichtlich ihrer Toxizität untersucht, geschweige denn auf Faktoren wie Wechselwirkungen oder Kumulationseffekte. Zusätzlich wird die Beurteilung erschwert, weil jeder Mensch über individuelle Entgiftungsleistungen verfügt. } Siehe Kapitel 22


Zwölf „späte Lehren“ wurden von den Autoren unter Federführung des wissenschaftlichen Beirats der EUA aus den vorgestellten zwölf Fallberichten abgeleitet, bei denen in jedem Fall klare Beweise für die Gefährdung der Bevölkerung und deren Umwelt zunächst ignoriert wurden. Thematisiert wurden u.a.: Strahlung (Röntgen, Radioaktivität), Benzol, Asbest, PCB und FCKW.

Bei allen Problemfeldern gab es nach den ersten Hinweisen jahrzehntelange wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskussion. Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW), wurden beispielsweise so lange als harmlos abgetan, bis die Schäden in Zusammenhang mit der stratosphärischen Ozonschicht nicht mehr geleugnet werden konnten.


Die Politik reagierte bei vielen Themen zu zögerlich, war offen für Lobbyinteressen und reagierte erst spät mit Vermarktungsverboten.

Die so entstandenen gesellschaftlichen Folgekosten überstiegen die Gewinne der Hersteller der gefährlichen Güter bei weitem. Das führte nicht nur zu horrenden wirtschaftlichen Schäden für die Volkswirtschaften, sondern vor allem auch zu gesundheitlichen und sozialen Folgen.


Die Risiken der scheinbar so nützlichen Technologien blieben so lange unbeachtet, bis die unumkehrbaren Folgen nicht mehr zu stoppen waren.

Erlaubt = ungefährlich?

Bei Asbest war die Latenzzeit zwischen dem ersten Auftreten der Belastung und der Eindämmung der Produktion so lang, dass viel zu viele Menschen an asbestbedingtem Lungen- oder Rippenfellkrebs erkrankten. Auch das Beispiel DDT zeigt, wie langsam die Mühlen mahlen, wenn es um gesundheitsschädliche Gefahren von Chemikalien geht: DDT wurde 1942 unter dem Handelsnamen „Gesarol“ als Mittel zum Pflanzenschutz und als „Neocid“ für den Hygienebereich auf den Markt gebracht und war über Jahrzehnte hinweg das am häufigsten verwendete Insektizid weltweit. Mitte der 1950er-Jahre wurde die schädigende Wirkung von DDT auf Vögel, Fische und Amphibien bekannt. Das Insektizid wurde in den Siebzigerjahren erst in Schweden, dann in Dänemark, in den USA und in Deutschland (1. Juli 1977) verboten.


Die Verwendung des gesundheitsschädlichen DDT war also 35 Jahre lang erlaubt.

Die Substanz wird nicht abgebaut: Noch heute ist das Insektenschutzmittel in Umweltsedimenten und damit im Rohstoffkreislauf zu finden. Heute wissen wir, dass DDT sich im menschlichen Organismus ansammelt und in den Hormonhaushalt eingreift. DDT wird über Generationen weitergegeben. Bei Schwangeren gelangt es über Plazenta und Nabelschnur in hohen Konzentrationen auch in den Embryo, was zu Fehlbildungen führen kann. Auch in der Muttermilch ließen sich DDT und seine chemischen Abkömmlinge nachweisen.


Das Beispiel zeigt exemplarisch, dass „erlaubt“ keinesfalls mit „unbedenklich“ gleichzusetzen ist. Die Umwelt- und Gesundheitskosten durch DDT werden am Ende nicht von den Verursachern bezahlt, sondern von der Gesellschaft, bzw. von den betroffenen Menschen, die durch DDT zu Patienten geworden sind.

3.2.2 Evolutionsmedizin

Alte Gene, neue Umwelt

Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts haben die Lebenswissenschaften die molekularen Strukturen verschiedener Stoffgruppen ermittelt und sie verändert. Evolutionsbiologisch haben wir es mit den novel entities also mit einer Stoffgruppe zu tun, die in der Menschheitsgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt keine Rolle spielte.


Unser Organismus muss sich mit evolutionär völlig neuartigen Faktoren auseinandersetzen, deren Verbreitung seit den ersten Menschenvorfahren bis zur Industrialisierung bei Null lag: Es gab diese erdölbasierten Substanzen schlichtweg nicht!

Die immunologische Zeitenwende

Der menschliche Organismus hat sich im Lauf der Evolution mit natürlichen Reizen auseinandergesetzt und seine immunologischen Strategien darauf ausgerichtet. In seiner evolutionären Entwicklung wurde das menschliche Immun- und Entgiftungs-System weder mit Pestiziden noch mit Konservierungsstoffen noch mit synthetischen Nanopartikeln konfrontiert.

An diese quantitativ überfordernden und qualitativ schädigenden Stoffe sind wir nicht angepasst.

Synthetische Moleküle werden vom Immunsystem als fremd erkannt und bekämpft. Sie müssen durch die körpereigenen Entgiftungs-Systeme abgebaut werden, die dafür nicht ausgelegt sind. Wir sind zudem auch noch mit einem ebenfalls „altmodischen“ Stresshormon- und Entzündungssystem ausgestattet. Der Umweltmediziner Dr. Kurt E. Müller fasst zusammen:

„Für neuartige Ursachen immunologischer Auseinandersetzung (z. B. Umweltschadstoffe) ist der menschliche Organismus mit seinen entwicklungsgeschichtlich alten neurobiologischen, metabolischen, enzymatischen und immunologischen Mechanismen den rasch und vielfältig wechselnden Einflüssen der modernen Umwelt nicht adäquat adaptiert, und er nutzt die über lange Zeiträume für Infekte entwickelten Strategien für diese „neuen“ Aufgaben.“ 3.2.2/1 Müller

Der Evolutionsmediziner Detlev Ganten, Präsident des World Health Summit schreibt in seinem Buch Die Steinzeit steckt uns in den Knochen:

„Wenn wir verstehen wollen, wie unser Körper funktioniert, wofür er gemacht oder nicht gemacht ist, müssen wir immer wieder in die Vergangenheit zurückgehen. Manchmal nur Jahrhunderte, manchmal Hunderte Millionen Jahre.“

3.2.3 Die Exposom-Forschung

Das Humangenomprojekt

1990 begann ein internationales Forschungsprojekt, das viel öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr: Das Humangenomprojekt (HGP, engl. Human Genome Project). } Siehe Kapitel 28 In mühseliger Kleinarbeit wurde das Genom (die Erbsubstanz) mehrerer Personen untersucht und miteinander verglichen, um herauszubekommen, welche Gene „Max Mustermann“ hat und an welchen „Genorten“ sie liegen. Da unser Organismus mehr als 100.000 Proteine benötigt, gingen die Forscher davon aus, mindestens 100.000 Gene zu finden. Die Medizin war sich sicher, mit diesem Wissen gezielt Gene zu verändern und damit ein wirksames Werkzeug für die Behandlung unzähliger Krankheiten zu erhalten. Doch mit jeder Presseerklärung schrumpfte die Anzahl der tatsächlich gefundenen Gene. Heute wissen wir:

Nur auf etwa 1 % der DNA befindet sich die Information zur Synthese von Proteinen. Diese Abschnitte werden proteincodierende Gene genannt. Menschen haben (je nach Quelle) nur ca. 21.000 bis 25.000 proteincodierende Gene. Bei den meisten weiß man nicht, welche Aufgaben sie haben. Ein wissenschaftliches Dilemma – wie können so wenige Gene unseren hochkomplexen menschlichen Organismus lenken? Bei der Umsetzung der Genom-Forschung in die Anwendung wurde immer klarer: Das Genom allein kann die Frage nach den Hauptursachen von Krankheiten nicht beantworten.


Die einfache Rechnung „Gen A macht Krankheit B“ geht nicht auf. Mittlerweile ist gut belegt, dass die Genetik nur etwa 10 % zur Krankheitsentstehung beiträgt. Nun treten zwei junge Wissenschaftsrichtungen auf den Plan, die das nahezu unüberschaubare Wechselspiel der Gene mit Umgebungsfaktoren erforschen: Die Exposom-Forschung und die Epigenetik.

Die Epigenetik wird in Kapitel 28.2 vorgestellt: Wir wissen heute, dass Umweltfaktoren nicht nur zu bleibenden genetischen Veränderungen (Mutationen) in der Erbsubstanz führen können, sondern auch langfristige, z.T. generationenübergreifende Auswirkungen auf die Genexpression durch epigenetische Mechanismen haben: Es ist von zentraler Bedeutung, ob Gene „angeschaltet“ oder „stillgelegt“ werden.

Die Exposom-Forschung

Dr. Christopher P. Wild war bis 2019 Direktor der Internationalen Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation/IARC. Als Krebsspezialist war ihm bewusst, dass Lebensgewohnheiten wie Ernährung, Rauchen, Alkoholgenuss und Bewegung direkten Einfluss auf die von unserem Genom kodierten Stoffwechselaktivitäten nehmen. Während das Genom entschlüsselt werden konnte, werden die Expositionen, denen jeder Mensch lebenslang – von der Empfängnis bis zum Tod – ausgesetzt ist, bis heute nur in sehr geringem Umfang systematisch erforscht und katalogisiert. Dr. Wild schlug 2005 in einem wissenschaftlichen Artikel 3.2.3/1 Wild als übergeordneten Sammelbegriff für alle nicht-genetischen Faktoren die Bezeichnung „Exposom“ (engl. Exposome) vor, die sich aus den englischen Wörtern „exposure“ und „genome“ zusammensetzt. Im englischsprachigen Bereich wird der neue Forschungszweig als „Exposomics“ bezeichnet.


Das ExposomDas Exposom kann definiert werden als die Gesamtheit aller Umwelteinflüsse und die damit verbundenen biologischen Reaktionen. Die Exposom-Forschung untersucht, wie verschiedenartige Expositionen und die individuellen Reaktionen darauf mit der Entstehung von Krankheiten zusammenhängen.

Dr. Wild gliederte die „nicht-genetischen“ Expositionen in drei Kategorien, die ineinander verflochten sind:

1 Körpereigene Prozesse wie Stoffwechsel, endogen zirkulierende Hormone, die Körpermorphologie, körperliche Aktivität, das Darmmikrobiom, Entzündungen, Lipid-Peroxidationen, oxidativer Stress und Alterung. Diese internen Bedingungen wirken sich alle auf die zelluläre Umgebung aus. In der Literatur werden sie als Wirts- oder endogene Faktoren beschrieben.

2 Spezifische externe Expositionen wie Strahlung, Infektionserreger, chemische Kontaminanten und Umweltschadstoffe, Ernährung, Lebensstilfaktoren (z. B. Tabak, Alkohol), Beruf und medizinische Interventionen. Diese umweltbedingten Risikofaktoren sind die Schwerpunkte epidemiologischer Studien in Bezug auf Nichtübertragbare Krankheiten wie z. B. Krebs.

3 Allgemeine externe/soziale Determinanten der Gesundheit: Soziale, wirtschaftliche und psychologische Einflüsse auf das Individuum, wie z. B.: Gesellschaftliches Kapitalvolumen, Bildung, finanzieller Status, psychischer und mentaler Stress, Stadt-Land-Umwelt und Klima.

Viele Expositionsfaktoren bleiben verborgen, für andere gibt es noch keine spezifischen Nachweis-Methoden. Manche Faktoren, z. B. lösliche Chemikalien, sind flüchtig oder werden rasch wieder ausgeschieden. Zudem wirken sich umweltbedingte Expositionen bei jedem Menschen u.a. aufgrund der unterschiedlichen genetischen Faktoren unterschiedlich aus. Einige Menschen werden krank, während andere mit derselben oder gar einer höheren Exposition nicht erkranken.

Paradigmenwechsel: Vom Genom zum Exposom

Das European Human Exposome Network (siehe unten) vertritt die Sichtweise, dass ein grundlegender Wandel in der Auffassung von Gesundheit notwendig sei und setzt sich für einen Wechsel vom klassischen biomedizinischen Modell „eine Exposition, eine Krankheit“ hin zu einem umfassenderen Ansatz ein. Die Einbeziehung des Exposom erlaubt einen erweiterten Blick auf die Krankheitsentstehung und ermöglicht u.a. wirksame Präventionsmaßnahmen und -konzepte für die Zukunft.

Ein ehrgeiziges Unterfangen

Vor einigen Jahren hätte man das Unterfangen, das gesamte Exposom eines Menschen zu kartieren, noch als Science fiction abgetan. Doch derzeit werden, in Analogie zu den Genomweiten Assoziationsstudien/GWAS, die heute kostengünstige und schnelle Analysen des gesamten Genoms ermöglichen, Expositionsweite Assoziationsstudien/EWAS entwickelt, um zukünftig die Gesamtheit des lebenslangen Exposom zu analysieren.

Hochdurchsatz-Technologien

In der Anfangsphase des Humangenomprojekts } Siehe Kapitel 28 arbeiteten Wissenschaftler 13 Jahre lang an der Sequenzierung des ersten Genoms – die Gesamtkosten beliefen sich auf mehr als drei Milliarden Euro. Heute kann die schnellste derzeit verfügbare Maschine 60 Genome an einem Tag sequenzieren – bei überschaubaren Kosten.

Möglich wird diese Forschung durch Hochdurchsatz-Analysen mit Verfahren, die automatisiert biologische Proben untersuchen. Nicht nur die Gene, auch Proteine und die Stoffwechselprodukte können heute in einer Probe erfasst werden. Dazu gehören z. B. Antikörperbildung, Addukte, genetische Mutationen, epigenetische Veränderungen oder toxikogenomische Wirkungen. So entstehen riesige Datenmengen, die nur mit Großrechnern ausgewertet und bewältigt werden können. Forscher versuchen innerhalb dieser Datenmengen aussagekräftige Schlüsselmoleküle/Signaturen herauszufiltern. Im Rahmen eines Programms zur Expositionsbiologie wird von der US-amerikanischen National Institute for Environmental Sciences/NIEHS die Entwicklung neuer Instrumente zur Expositionsbewertung gefördert.


Mit Hilfe dieser neuen Technologien, werden Zusammenhänge mit den Umgebungsfaktoren erkennbar, die bislang verborgen waren.

Die Analysen sind teuer und werden derzeit fast ausschließlich für Forschungszwecke eingesetzt. Doch es ist zu beobachten, dass die Kosten für diese Verfahren weltweit sinken, je mehr sie eingesetzt werden.

Unsere individuelle „Wolke“

„Menschen haben Dinge wie Luftverschmutzung gemessen, aber niemand hat wirklich die biologische und chemische Aussetzung auf persönlicher Ebene gemessen. Niemand weiß wirklich, wie groß das menschliche Exposom ist und was sich darin befindet.“ 3.2.3/2 Rötzer

Das Zitat stammt von dem Genetiker Michael Snyder von der Stanford University School of Medicine in Kalifornien, USA, der mit seinem Team mit Hilfe eines Gerätes, das Partikel aus der Luft filterte, die jeweiligen örtlichen Umgebungsfaktoren untersuchte. Die Forscher konnten anhand des Filtersubstrates je nach Region, Wetter, Jahreszeit und den Eigenheiten des jeweiligen Haushalts Unterschiede feststellen. Sie fanden Spuren von Staub-, Haut- und Spinnmilben, von Mücken, Fliegen, Bienen und Kakerlaken – und von Viren, die über Haustiere übertragen wurden. In nahezu jeder Probe fanden die Forscher Partikel des Insektenabwehrmittels DEET, das Pestizid Omethoat und krebserregend wirkende Stoffe wie Diethylenglycol.

„Wir haben alle unsere eigene Mikrobiom-Wolke, die wir mit uns herumschleppen und verteilen. [...] Insgesamt lassen unsere Ergebnisse annehmen, dass wir ständig Tausenden Chemikalien ausgesetzt sind, oft an bestimmten Orten“ 3.2.3/3 Rötzer

so der Studienleiter Michael Snyder. Langfristig wird die Exposom-Forschung Aussagen zur Umgebungsqualität in verschiedenen Lebensräumen, bzw. auch Innenräumen möglich machen.


Viren im ExposomDie Münchner Epidemiologin Annette Peters wies darauf hin, dass die Untersuchung des Exposom auf Viren frühzeitig Hinweise auf Erkältungswellen liefern könnte. Diese Aussage bekommt in diesen Zeiten der COVID-19-Pandemie besonderes Gewicht.

Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung

Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH – UFZ in Leipzig ist eines der weltweit führenden Forschungszentren im Bereich der Umweltforschung. Der Forschungsschwerpunkt IP Exposome (IP = Integriertes Projekt) betreibt interdisziplinäre Forschung zu molekularen Mechanismen der Toxizität. Der Schwerpunkt liegt derzeit zunächst auf der Erforschung der Wirkung von Chemikalien auf biologische Regelkreise in Organismen.

1 531,18 ₽
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9783754949412
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