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TEIL 2 DIE MULTI-STRESSORISCHE GESAMTLAST

TEIL 2 widmet sich der Erkundung unterschiedlicher Arten und Qualitäten von wahrnehmbaren und nicht-wahrnehmbaren (unterschwelligen) Reizfaktoren, die zusammen als multistressorische, bzw. multifaktorielle Gesamtlast bezeichnet werden.

„Stressforschung“ untersucht klassischerweise die organischen Vorgänge der Stresswahrnehmung und die Wirkung sensorischer, insbesondere psychosozialer Faktoren auf das körperliche und seelische Wohlbefinden. Diesem Thema widmet sich Kapitel 3.1 dieses zweiten Teils. In Kapitel 3.2 wird der Stressbegriff auf weitere, überwiegend nicht sensorisch wahrnehmbare Umweltfaktoren erweitert. Unabhängig von der Art der Trigger – ob psychisch, physikalisch, biologisch oder chemisch – ergeben sich letztlich auf Zellebene ähnliche pathologische Veränderungen – mit weitreichenden gesundheitlichen Folgen. In Kapitel 3.3 werden exemplarisch einige Umweltschadstoffe beschrieben, ihre (toxischen) Eigenschaften, ihr Aufkommen und ihre Wirkung auf unsere Gesundheit. In Kapitel 3.4 wenden wir uns schließlich der multifaktoriellen Gesamtbelastung zu, der die Bevölkerung der industrialisierten Länder heute kollektiv – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – ausgesetzt ist. Die in Kapitel 3.3 vorgestellten Schadstoffe sind ebenso Teil der alltäglichen kollektiven Grundbelastung der Bevölkerung wie unsere hektische Lebensweise.


Abb. T2 Die multistressorische Gesamtlast

Zur Bezeichnung Stressfaktor/Stressor in diesem Buch

Erweiterung des Stressbegriffes

Üblicherweise verstehen wir unter Stress vorwiegend psychosozialen Stress. Zeit- und Termindruck, Arbeitsüberlastung, Doppelbelastung, familiäre Probleme, Mobbing und ähnliche Faktoren. Diese sind üblicherweise gemeint, wenn jemand sagt, er habe Stress. Im Verständnis von Erworbenen Multisystem-Erkrankungen nehmen Stressfaktoren aller Art eine zentrale Stellung ein. Dazu gehören nicht nur die erwähnten psychosozialen Faktoren.

Als Stressfaktoren/Stressoren können alle förderlichen oder belastenden Faktoren gelten, die auf den Organismus einwirken und eine Antwort verlangen. Das Spektrum dieser Einflussfaktoren reicht vom angenehmen Duft einer Blume über Allergene bis zu Viren, Schwermetallen oder Chemikalien – um nur einige Beispiele zu nennen.

Kapitel 3 Die Klassische Stressforschung

Wir Menschen leben und entwickeln uns, weil wir über unsere Sinne, über die Luft, die wir atmen, über die Ernährung, über unsere (Schleim-)Haut mit unserer Umwelt verbunden sind. In diesem Sinne ist unser Organismus ein System, das offen ist für Einflüsse, die wiederum Teil anderer Systeme sind. Diese „Berührungen“ sind das „Salz in der Suppe“ – ohne Sinnesreize werden wir krank. Eine zu reizarme Umgebung kann auf lange Sicht genauso schädlich wirken wie ein Zuviel an herausfordernden Stressfaktoren. Wir leben in permanenter Auseinandersetzung mit der Umwelt und sind auf der Hut vor Bedrohungen. Lebensgefährliche Situationen müssen sofort erkannt werden und fordern eine schnelle physische und psychische Antwort.


Alle Erkrankungen, die wir im Laufe unseres Lebens erwerben, zeigen einen engen Zusammenhang mit Einflüssen, die wir mitbringen, denen wir begegnen, denen wir ausgeliefert sind oder die wir selbst erzeugen.

3.1 Wie verarbeiten wir wahrnehmbare Reize?

Stress hält gesund

Der Duft einer Rose, das Lachen eines Kindes, das Lesen eines Buches – Sinneseindrücke halten uns gesund, fordern uns heraus und sorgen dafür, dass wir körperlich und mental nicht „einrosten“. Durchschnittlich 400.000 Reize treffen pro Sekunde auf unsere Sinnesorgane ein! Die Erwerbsarbeit, das Versorgen der Kinder, einkaufen, Freizeitgestaltung – solange alles bewältigt werden kann, ohne uns zu überfordern, wachsen unsere Kompetenzen im Umgang mit Stressfaktoren und erhöhen unsere Widerstandskraft. Was aber, wenn auf akuten Stress immer wieder akuter Stress folgt?

Stress macht krank

Zu viel Stress macht krank. Mittlerweile ist durch Studien aus der Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie gut belegt, dass durch körperliche und psychische Überforderung eine erhöhte Infektanfälligkeit entsteht. Der Psychoimmunologe Prof. Christian Schubert erläutert diese Zusammenhänge in dem Artikel Psychoneuroimmunologie und Infektanfälligkeit. 3.1/1 Schubert

Akut-Stress plus Akut-Stress plus Akut-Stress wird zu chronischem Dauerstress. Für chronischen Stress gelten andere Gesetzmäßigkeiten als für Akutstress:

Aus dem biologisch sinnvollen, physiologischen Prozess der Stressverarbeitung kann sich durch zu viele Stressoren (} chemischer, physischer, psychischer, biologischer Dauerstress) oder zu starke Reize (} chemisches, physisches, psychisches, biologisches Trauma) ein pathologisches Geschehen entwickeln.} Siehe Kapitel 3.1.5


Abb. 3.1/1 Reizüberflutung und Ereignisdichte

Wir erleben heute quantitativ deutlich mehr Sinnesreize als unsere Vorfahren in vorindustrieller Zeit. Qualitativ kommen zu den natürlichen Alltagswahrnehmungen wie Vogelgezwitscher (Hören), natürliche visuelle Umgebung (Sehen), natürliche Gerüche (Riechen), natürliche Lebensmittel (Schmecken), natürliche Oberflächen (Tasten) eine Vielzahl künstlicher Quellen, z.B. Fernsehen und Digitaltechnik (Sehen, Hören); Beschallung (Hören), Beduftung in Warenhäusern (Riechen), künstliche Aromen in Lebensmitteln (Schmecken) und, Kunststoff-Oberflächen (Tasten).

3.1.1 Die erste Kaskade der Stressreaktion

„Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ („Fight or Flight Response“)

Nehmen wir an, Sie sitzen im Flugzeug, in wenigen Minuten werden Sie zum ersten Mal mit einem Fallschirm springen. Alle Sinne sind hellwach. Unsere Sinneswahrnehmungen werden zuerst in einem Teil der Großhirnrinde, dem Neokortex wahrgenommen. Nur 400–600 Millisekunden sind nötig, um Sinneswahrnehmungen als bedrohlich oder als harmlos einzustufen. Diese Informationen werden über Botenstoffe unverzüglich an das Limbische System weitergegeben: Das ist ein mit der Großhirnrinde eng verbundenes Nervenzell-System, das als „Zentrum für emotionale Intelligenz“ gilt. Hier ist die Quelle unserer Befindlichkeiten, unserer Gefühle, unserer Motivationen. Hier erfahren wir unsere individuelle emotionale Prägung, die auf unseren individuellen Vorerfahrungen basiert. Diese reichen bis in das frühe Kindesalter und sogar bis in die Embryonalzeit.


Sie springen! Das limbische System aktiviert den Sympathikus-Nerv, der bewirkt, dass Kaskaden von Adrenalin und Noradrenalin aus dem Nebennierenmark freigesetzt werden. Die Werte dieser Katecholamine können um das 50fache ansteigen. Sie binden an die alpha- und beta-adrenergen Membranrezeptoren vieler, sehr unterschiedlicher Zellen im ganzen Körper. Diese Information setzt unmittelbar zahlreiche Stoffwechselprozesse in Gang.

Innerhalb von Sekundenbruchteilen entscheiden wir in Stress-Situationen, ob wir flüchten können, ob wir angreifen – oder ob wir uns totstellen. Diese unmittelbare, erste, vegetativ (vom Sympathikus) gesteuerte Stressreaktion wird nach dem US-amerikanischen Physiologen Walter B. Cannon als „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ („Fight or Flight Response“) bezeichnet.


Abb. 3.1.1/1 Die Stress-Antwort auf wahrgenommene Stressreize verläuft in zwei Phasen


Abb. 3.1.1/2 Die vollständige und die unvollständige Stress-Antwort

Das Autonome Nervensystem

Das Autonome Nervensystem/ANS oder auch kurz Vegetativum genannt, ist der autonom gesteuerte, d.h. nicht willkürlich beeinflussbare Teil des Nervensystems. Seine Neuronen befinden sich sowohl im zentralen Nervensystem (ZNS) als auch im peripheren Nervensystem (PNS).

Synonym verwendet werden die Bezeichnungen Vegetatives Nervensystem oder Viszerales Nervensystem/VNS. Viszeral bedeutet „die Eingeweide betreffend“.

Das ANS erhält ununterbrochen sensible Informationen aus unseren Organen und Geweben sowie aus der Umwelt. Über die Nervenstränge des Sympathikus und des Parasympathikus, die vom Gehirn in die Peripherie laufen, ist das vegetative Nervensystem direkt mit den Organsystemen und Geweben – wie Herzmuskel, glatte Muskulatur der Eingeweide, Blutgefäße sowie die Drüsen des Körpers – vernetzt. Und auch mit den Immunorganen, -geweben und -zellen.


Die Nervenfasern haben synaptische Endknöpfchen, die den direkten Kontakt mit Immunzellen ermöglichen. Hier verbindet sich das Gehirn mit dem Immunsystem.

Bei Gefahr werden die lebenswichtigen Funktionen/Vitalfunktionen blitzschnell angepasst.

Das Vegetativum gliedert sich in drei Bereiche:

 Das Sympathische Nervensystem/Sympathikus

 Das Parasympathische Nervensystem/Parasympathikus

 Mittlerweile wird auch das Enterische Nervensystem, unser „Bauchhirn“ als Teil des ANS verstanden } Siehe Kapitel 21


Abb. 3.1.1/3 Dauerstress belastet das Autonome Nervensystem

Das sympathische Nervensystem – das Gaspedal

Der Sympathikus hat während des Tages seine aktive Phase. Er bewirkt die Anpassung an Stress-Situationen und ist damit auch zuständig für die Notfall-Antwort des Körpers auf Bedrohungen. Er wirkt anregend und leistungsfördernd. Er versetzt uns in einen Zustand höherer Aufmerksamkeit und Fluchtbereitschaft. Seine Kennzeichen sind die Energieentladung und die abbauenden Stoffwechselprozesse. Über die alarmierte Sympathikus-Nebennierenmark-Achse (das „Adrenalin-Netzwerk“) werden blitzschnell proinflammatorische Zytokine freigesetzt. } Siehe Kapitel 5.4 Ist der Sympathikus aktiv, wird sein Gegenspieler, der Parasympathikus, entthront.


Die Leistungsgesellschaft, wie wir sie heute erleben, ist Sympathikus-betont. Eine dauerhafte Sympathikonie (erhöhte Erregbarkeit des Sympathikus) fördert die Entzündungsbereitschaft und erhöht das Risiko z. B. für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

In Kapitel 19 werden wir sehen, dass auch eine instabile Halswirbelsäule zu einer Dominanz des Sympathikus führen kann.

Das Parasympathische Nervensystem

Der Parasympathikus („Vagus“) wird auch Erholungsnerv genannt, denn er füllt verbrauchte Reserven wieder auf und sorgt so für Ruhe, Schonung, Reparatur der Zellen, Entgiftung, Verdauung etc. Er drosselt die allgemeinen Funktionen und bringt den Menschen in einen Ruhezustand – je aktiver der Parasympathikus ist, desto besser erholen wir uns. Seine Kennzeichen sind die Energiespeicherung und die aufbauenden Stoffwechselprozesse. Der Parasympathikus reguliert die Hemmfunktion der Organe über die Ausschüttung von Acetylcholin.


Entspannung hemmt EntzündungDer Vagusnerv kann über den cholinergen Transmitter Acetylcholin überschießende, inflammatorische Antworten regulieren. (Fachsprachlich: „Inflammatorischer Reflex“)

Die beiden Gegenspieler Sympathikus und Parasympathikus verbinden das Gehirn mit den inneren Organen – und umgekehrt. Wenn wir gesund sind, arbeiten unsere Organe auch unter Anforderungen und Stress ohne Funktionsstörungen – ein Zeichen, dass die Wirkungen der beiden Kräfte im dynamischen Gleichgewicht sind.


Der gesunde Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung ist die Grundvoraussetzung für unser Wohlbefinden.

Unter Dauerstress kann es zu vegetativen Fehlregulationen kommen, dann sind Sympathikus und Parasympathikus gleichzeitig und überall aktiv, während sie im gesunden Organismus rhythmisch abwechselnd und räumlich differenziert Impulse geben. So entstehen widersprüchliche Situationen: Wir haben Hunger und sind nach drei Bissen satt; wir schwitzen und haben kalte Hände und Füße, die Verdauung wechselt zwischen Verstopfung und Durchfall, der Kreislauf spielt verrückt. Wenn der Sympathikus auch in der Nacht aktiv bleibt, kann der Parasympathikus, der nachts für die Regeneration, für das Herunterfahren von Entzündungen und für die Entspannung des Organismus verantwortlich ist, seine Aufgabe nicht erfüllen.

Erschöpfungszustände wie das Burnout-Syndrom (Überbetonung des Sympathikus; Daueraktivierung) einerseits und der Wellness-Boom andererseits (Erholung, Parasympathikus) spiegeln die Ausschläge der Wirkungsweisen unseres Vegetativen Nervensystems wider.

3.1.2 Die zweite Kaskade der Alarm-Reaktion

Jedem Stress-Ereignis folgt in einer zweiten Kaskade die Freisetzung von Cortisol. Dieses Schlüsselhormon reguliert das weitere Geschehen in Interaktion mit einem Netzwerk von weiteren Botenstoffen. „Cortison“ ist die synthetische Form des Hormons, die wir als Medikament kennen.


Stimulation der Cortisol-Netzwerk-AchseCortisol unterdrückt das Immunsystem und hemmt die Entzündungs-Prozesse, die bei jeder Stress-Antwort entstehen. Zudem vermindert es die Schmerzempfindung.

Zurück zu unserem Fallschirm-Absprung: Sie sind gesprungen! Nach kurzer Zeit im freien Fall landen Sie, alles ist gut gegangen. Jetzt beginnt Ihr Körper über komplexe Cortisol-gesteuerte Rückkopplungs-Systeme wieder in ruhige Bahnen zu kommen. Die mit der Stimulation der Cortisol-Netzwerk-Achse verbundene Abgabe von Cortisol aus der Nebennierenrinde fährt die gesteigerte Entzündungsaktivität zurück.


Abb. 3.1.2/1 Stress ist ein Ganzkörper-Ereignis

Im gesunden Organismus werden innerhalb von 2–3 Stunden die Stressreaktionen durch mehrere komplizierte (und dadurch störungsanfällige) hormonelle, immunologische und neurale Schaltkreise herunter geregelt. Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol und weitere interagierende Botenstoffe werden durch Enzyme abgebaut.


Das Netzwerk der BotenstoffeFür eine adäquate Stress-Antwort ist die rasche Wiederherstellung eines ausgeglichenen Zustandes (Homöostase) durch die koordinierte Aktivierung und Deaktivierung unterschiedlichster Botenstoffe entscheidend.

Jetzt wird der Parasympathikus aktiv. Der Botenstoff Acetylcholin senkt Herzrate und Blutdruck, der Atem wird wieder gleichmäßiger, Sie entspannen sich. Das Adrenalin wird schnell wieder ausgeschieden. Cortisol bzw. die von ihm „angeforderten“ Substanzen verbleiben jedoch noch bis zu 72 Stunden im Organismus.

Die Landung mit dem Fallschirm hätte schief gehen können, Sie hätten stürzen und sich verletzen können – der Organismus war durch die Bereitstellung von schnell verfügbarer Energie auf diese Bedrohung vorbereitet. Die Stressreaktion ermöglicht den unmittelbaren Einsatz der Muskeln. So sind unter Stress unglaubliche Leistungen möglich, die aus einer Ruhesituation nicht leistbar wären.

3.1.3 Alarm – Widerstand – Erschöpfung

Die Stressforschung unterscheidet drei Phasen der Stress-Antwort: Die Alarmreaktion, die Widerstandsphase und die Erschöpfungsphase.

1. Die Alarmreaktion

Droht Gefahr, ermöglicht die Alarmreaktion den unmittelbaren Einsatz von Muskeltätigkeit. Diese erste Sofortreaktion auf Stressoren, die im vorausgehenden Kapitel am Beispiel des Fallschirmsprungs geschildert wurde, ist seit Jahrtausenden unverändert, schon unsere Vorfahren zeigten im Angesicht des Säbelzahntigers das gleiche Stress-Muster: Jetzt ist kein Raum für Neugierde, Kreativität und flexibles Handeln – die Lösungsstrategie ist automatisiert – keine Zeit für wohlüberlegte, langfristige Auswege! Es geht um die Rettung aus akuter Gefahr.

Alle Regulations- und Stoffwechsel-Systeme sind während der Alarmreaktion im Einsatz: Der Organismus ist bereit zu flüchten oder zu kämpfen.


Diese Mobilisierung von Energiereserven, die Bereitstellung der Stresshormone und der Entzündungs-Zytokine verbraucht viele Vitalstoffe. Der Organismus befindet sich in einem zeitlich begrenzten Verteidigungs- und Überlebensmodus.Alle Körpertätigkeiten, die nicht direkt der überlebensnotwendigen Stress-Anpassung dienen, wie Verdauung, Wachstum, Sexualität oder Schlaf, werden während der Stress-Antwort heruntergeregelt.

Die akute Stress-Antwort kann unter Umständen lebensbedrohliche Folgen haben: So war beispielsweise 2006 die Herzinfarkt-Rate in Münchner Kliniken um das Dreifache erhöht, als Deutschland bei der WM um den Titel kämpfte.

2. Die Widerstandsphase

Die Stressfalle

Wenn Anzahl, Dauer und/oder Intensität der Stressfaktoren die Kompensationsfähigkeit des Organismus nahezu ununterbrochen herausfordern, befinden wir uns im Dauerstress. Die negative Rückkopplung wird außer Kraft gesetzt, der Stresshormonlevel bleibt dauerhaft erhöht, die Regeneration geht verloren. Wir sind in der Stressfalle. Hohe Stresshormon-Spiegel täuschen nun permanent lebensbedrohliche Situationen vor.


Alle körperlichen Veränderungen, die bei akutem Stress zeitlich begrenzt geschehen, laufen nun andauernd ab und führen zu ständiger Bereitstellung von Energie, gleichzeitig zu hohem Energieverlust, zu Substanzabbau und zu anhaltenden Entzündungsreaktionen. Das Immunsystem ist dauerhaft aktiv.

Im Überlebens-Modus

Zugespitzt könnte man sagen, dass sich Menschen in Industriegesellschaften im permanenten Überlebens-Modus befinden. Das Alarmprogramm, das ursprünglich für Ausnahmesituationen vorgesehen war, ist heute Alltag. Unsere arhythmische, überaktive Lebensweise fördert Fehlfunktionen. Wir sind ausgestattet mit einem seit Jahrtausenden bewährten, aber „altmodischen“ Stresshormonsystem. Ohne Regenerationszeiten verbleiben die Stresshormone zu lange im Körper, sie werden nicht angemessen abgebaut. Die Widerstandsphase ist verbunden mit Hyper-Cortisol, einem anhaltenden, durch den Sympathikus bedingten Erregungszustand und gleichzeitiger Erschöpfung. Diese Phase kann Monate oder Jahre anhalten. Unter solchen Bedingungen geht auf Dauer die Anpassungsfähigkeit verloren.

Der Organismus ist jetzt dauerhaft einer zu hohen Glucocorticoid-Konzentration ausgesetzt. Die Sensitivität der Glucocorticoid-Rezeptoren kann deshalb abnehmen (Glucocorticoid-Resistenz). Langfristig verringern die erschöpften Nebennieren die Cortisol-Ausschüttung (} Hypo-Cortisolismus). Die Aktivität der Stressachsen ist gestört, die Rezeptoren reagieren nicht mehr auf Cortisol – der Organismus ist jetzt nicht mehr in der Lage, die stressbedingte Entzündungsreaktion herunterzufahren.


Dauerstress erhöht die Anfälligkeit für Infektionen und reduziert zudem fatalerweise die Abwehrbereitschaft.

Die Stress-Studie 2016 der Techniker Krankenkasse mit dem Titel Bleib locker, Deutschland zeigte: Fast sechs von zehn Deutschen empfanden ihr Leben als stressig – jeder fünfte stand unter Dauerdruck. Mehr als jeder zweite Deutsche hatte das Gefühl, dass sein Leben in den letzten drei Jahren stressiger geworden war.

Die Nebennieren

Die Nebennieren sind zwei walnussgroße Drüsen, die huckepack wie kleine Kappen auf beiden Nieren sitzen. Funktionell haben die Nebennieren mit der Funktion der Nieren nichts zu tun. Die Aufgabe der Nebennieren ist es, lebenswichtige Hormone zu bilden. Eine Nebenniere ist circa 4 cm lang, 4 cm dick und ungefähr 2 cm breit, sie wiegt nicht mehr als eine Weintraube (ca. 5 bis 15 Gramm). Man unterscheidet zwischen Rinde und Mark, die Rinde ist wiederum in drei Zonen mit unterschiedlichen Aufgaben unterteilt.

Das Nebennierenmark macht ca. 20 % der Nebenniere aus – also nur federleichte 1–3 Gramm! Es ist das Zielorgan, bei dem sämtliche Situationen ankommen, die uns herausfordern und denen wir uns anpassen müssen. Vom Nebennierenmark wird als Stressreaktion unverzüglich Adrenalin und Noradrenalin ausgestoßen, die für die „Kampf oder Flucht“-Reaktion verantwortlich sind.

Der äußere Bereich, die Nebennierenrinde, macht 80 % der Nebenniere aus und ist für die Produktion von über 50 verschiedenen Steroid-Hormonen in drei Hauptkategorien verantwortlich: die Glucocortcoide, die Mineralkorticoide und die Sexualhormone (Androgene).

Dauerstress blockiert Hormonwege

Die Cortisol-Netzwerk-Achse ist die Lebensretter-Achse, denn sie sichert in gefährlichen Situationen unser Überleben. Cortisol dominiert daher die anderen Hormon-Ausschüttungen der Nebenniere, die über den Hypothalamus miteinander vernetzt sind. Bei permanenter Stressaktivierung ohne Erholungszeiten können sich die Nebennieren kaum mehr regenerieren.

Pregnenolon ist die Vorläufer-Substanz für die Produktion von mehr als 150 Steroidhormonen. Die Substanz wird daher auch als „die Mutter aller Steroide“ bezeichnet. Bei überschießender Cortisol-Produktion wird die Basissubstanz Pregnenolon verbraucht und steht z. B. für die Bildung der Geschlechtshormone Testosteron und Östrogen oder für Wachstumshormone wie DHEA als Vorläufersubstanz nicht mehr zur Verfügung. Das hat weitreichende Folgen für die Gesundheit und für die Lebensqualität. Der Mangel an Sexualhormonen kann bei Frauen zu stressbedingten Beschwerden wie Brustspannen (Mastodynie), zu Zyklus-Unregelmäßigkeiten, zu Menstruations- und Wechseljahresbeschwerden, zum Ausbleiben des Zyklus, zu Störung der Empfängnisfähigkeit führen. Bei Schwangerschaft ist das Risiko einer Frühgeburt erhöht. Bei Männern kann es zu Störungen des sexuellen Antriebs und der Zeugungsfähigkeit oder zu Erektionsschwierigkeiten kommen. DHEA ist ein Gegenspieler zu Cortisol und wird auch als „Jungbrunnen-Hormon“ bezeichnet. Das Hormon beeinflusst den Energieverbrauch und den Alterungsprozess. Auch DHEA ist wiederum eine „Muttersubstanz“ für viele andere Hormone. Potenziert wird ein möglicher Hormonmangel durch Fehlernährung, chronische Infektionen, Schwermetalle sowie weitere Stressoren.

Manche Steroide werden für Doping verwendet, um leistungsfähiger und ausdauernder zu werden. Die Nebenwirkungen können jedoch erheblich bis tödlich sein. Glucocortcoide, z. B. Hydrokortison, sind andererseits lebenswichtige Medikamente. Der Wirkstoff Dexamethason wird seit September 2020 von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA bei schweren COVID-19-verläufen empfohlen.

Die Nebennieren sind stresssensibel

Prinzipiell können alle Arten von Stressoren als Auslöser oder als Verstärker die Nebennieren schwächen. Eine reversible Funktionsschwäche der Nebennieren tritt z. B. auf, wenn dauerhafte Anspannung/Belastung nicht mehr durch Entspannung ausgeglichen werden kann. Oftmals überlagern sich jedoch auch unterschiedliche Belastungen. Besonders häufig sind Infektionen mit Borreliose, mit dem Eppstein-Barr-Virus, Herpes simplex oder mit dem Zoster Virus an der Entstehung einer Nebennieren-Unterfunktion beteiligt. Auch Funktionsstörungen des Darms, Entzündungen oder Schwermetallbelastungen schwächen die sensiblen Organe.

Mit einem Speichel-Hormontest kann zuverlässig der Status der Stress-Hormone erfasst werden. Laboradressen finden Sie auf den Serviceseiten.

3. Die Erschöpfungsphase

„Sei nicht frevelhaft gegen deinen Körper, indem du mehr von ihm verlangst, als er zu leisten vermag.“ Sebastian Kneipp

In der Erschöpfungsphase kommt es zur zentralen Blockade der Anpassungs-Reaktionen und zu einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Regulationsstarre. Die überforderten Kompensations-Mechanismen zerbrechen.


Unsere fragilen (Stress-)Hormondrüsen, die alle gemeinsam gerade einmal das Gewicht eines Standardbriefes (nur etwa 20 Gramm!) auf die Waage bringen, sind der heutigen Dauerbeanspruchung nicht gewachsen. Genau die lebenswichtigen Organe, die uns in einer akuten Stress-Situation das Überleben sichern, werden durch das permanente Trommelfeuer des heutigen Alltags gefährdet.

Die erschöpften Stress-Achsen: Cortisolmangel (Hypo-Cortisolismus)

In der Widerstandsphase wird mehr Cortisol produziert, um den Dauerstress zu bewältigen. Die Nebennieren verausgaben sich und geraten deshalb in der Erschöpfungsphase in einen bedauernswerten Zustand. Im englischsprachigen Sprachraum spricht man von „Adrenal Fatigue“, im deutschsprachigen Raum von sekundärer Nebennierenrinden- oder -mark-Insuffizienz. Im Ärztealltag wird nur der extreme Cortisol-Mangel (Morbus Addison), bzw. der extreme Cortisol-Überschuss (Morbus Cushing) als pathologisch bewertet.

Die individuelle Stressresistenz

Wir reagieren individuell sehr unterschiedlich auf Stress: Es gibt Menschen, die über Jahrzehnte in der Widerstandsphase verbleiben, andere werden schon durch scheinbar unbedeutende Stressfaktoren dauerhaft aus der Bahn geworfen. Wieder andere erleben abwechselnd Widerstands- und Erschöpfungsphasen, bei manchen lässt die Stressresistenz über lange Zeiträume allmählich nach.

Biologische Parameter

Dass Personen unterschiedlich empfindlich auf Stressreize reagieren, hängt auch stark von biologischen Parametern ab, z. B. von der Aktivität des sogenannten Glucocortcoid-Rezeptors. Er nimmt eine Schlüsselfunktion in der Feedback-Regulation der Stressantwort ein, weil er die vielfältigen Botschaften des Cortisols in die Zelle weitergibt. Die Sensitivität dieses Rezeptors kann (wie bei den Beta-2-Rezeptoren) aufgrund genetischer Varianten, aber auch durch (embryonale, frühkindliche oder spätere) Umwelteinflüsse gesteigert oder vermindert (Glucocorticoid-Resistenz) sein.


Abb. 3.1.3/1 Die individuelle Stress-Resistenz/-Toleranz

3.1.4 Das Burnout-Syndrom

In der Erschöpfungsphase gelingt es den Nebennieren kaum noch, ausreichend Cortisol zu produzieren, es entsteht ein Mangel (Hypo-Cortisol). Cortisol wird nachts gebildet, die Werte sind bei Gesunden frühmorgens am höchsten – unter Dauerstress sind jedoch schon die morgendlichen Werte auffallend niedrig. Die chronische Belastung führt nun zu eingeschränkter bis erschöpfter Kompensationsfähigkeit. Diese Konstellation findet sich typischerweise beim „Burnout-Syndrom“.


Das Burnout-Syndrom ist der (reversible) Ausdruck einer „Überdosis“ an Dauerstress.

Die Liste der Beschwerden beim Burnout-Syndrom ist umfassend und individuell sehr unterschiedlich: Sie reicht von Erschöpfung, Energiemangel, Schlafstörungen über Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Ruhelosigkeit bis hin zu Gleichgültigkeit und Verlust an Empathie. Auch Verbitterung, Partnerschaftsprobleme, das Gefühl mangelnder Anerkennung und nicht zuletzt körperliche Beschwerden wie Enge in der Brust, Rückenschmerzen oder Übelkeit werden von Betroffenen berichtet. Die Beschwerden können sich aufschaukeln und Betroffene können in einen Teufelskreis geraten, in dem sie sich nicht mehr als selbstwirksam erleben. Das kann zu purer Verzweiflung führen oder zu Suizidgedanken. Burnout ist ein Risikofaktor für das Auftreten von Depression, Herzinfarkt, Schlaganfall, Osteoporose und Diabetes mellitus.

Das Burnout-Syndrom kann als direkte Folge einer Erschöpfung der Zellkraftwerke verstanden werden. Uschi Eichinger und Kyra Hoffmann zeigen diesen Sachverhalt in dem lesenswerten Buch Der Burnout-Irrtum: Ausgebrannt durch Vitalstoffmangel – Burnout fängt in der Körperzelle an.

3.1.5 Dauerstress und Trauma

Dauerstress

Dauerstress entsteht durch die Aneinanderreihung von akuten Stress-Ereignissen. Da dabei langfristig die Erholungsphase fehlt, hat permanenter Dauerstress (auch „toxischer Stress“) pathologische körperliche und seelische Auswirkungen.


Abb. 3.1.5/1 Dauerstress und Traumata

Dauerstress und Traumata korrumpieren die Selbstheilung

Trauma

Der Begriff „Trauma“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Verletzung“. Im Alltag wird der Begriff Trauma medizinisch unpräzise für Alltagsbelastungen verwendet. Ob ein Ereignis oder Geschehen zu einem Trauma wird, hängt einerseits von dessen Schwere und Ausmaß ab (zum Beispiel Naturkatastrophen, schwere Unfälle, Vergewaltigungen, Terroranschläge, Kriegserlebnisse oder Entführungen), zum anderen, ob das Ereignis oder Geschehen nachhaltige psychische oder körperliche Verletzungen bei den betroffenen Personen hinterlässt. In Kapitel 11 finden Sie Informationen zum Posttraumatischen Belastungs-Syndrom/PTBS.

Weniger geläufig sind

 Mechanische Traumen, (z. B. durch Unfall, Gewalt),

 Chemische Traumen (z. B. durch Verätzung, Vergiftung) oder

 Physikalische Traumen (z. B. durch Strahlung, Kälte, Druck, Schall)

Alle Arten von Dauerstress und Traumen – also nicht nur, aber auch, psychosozialer Stress – hinterlassen ihre Spuren, sie verändern nachhaltig unsere Physiologie, die Zellkommunikation und den Stoffwechsel und können zu chronischen Erkrankungen führen.

Early Life Stress

Frühkindliche (auch schon embryonale) Stress-Erfahrungen können langanhaltend schädigend auf das sich entwickelnde Immun- und Stress-System wirken. Je instabiler die Stress-Achsen durch frühe Lebensereignisse „eingestellt“ sind, desto stärker können Stressoren lebenslang (!) einwirken. Das lässt sich mit der Grundeinstellung eines Thermostats vergleichen. } Siehe Kapitel 34

Early Life Exposom-Stress

Psychosoziale Early Life Stress-Faktoren sind gut untersucht. Doch die sich entwickelnden Feten und Kinder sind vielen weiteren Faktoren ausgesetzt, deren Gesamtheit als Exposom bezeichnet wird. } Siehe Kapitel 3.2.3 Dazu gehören z. B. Chemikalien. Auch diese Stressoren können die Stress- und Immunregulation nachhaltig negativ beeinflussen – ggf. lebenslang. } Siehe Kapitel 34

3.1.6 Stress verändert unser Verhalten

Unter Dauerstress verändern sich Gehirnstrukturen: Die Dendriten der Amygdala verzweigen sich und werden durch die dauerhafte Beanspruchung „stärker“.


Wenn die Amygdala das Zepter übernimmt, handeln wir weniger vernunftgelenkt, sondern impulsiver, triebhafter, das Denken ist beeinträchtigt oder „blockiert“.

Das kognitive Gehirn und das emotionale Gehirn fallen auseinander, statt Kohärenz entsteht Chaos. Konkret bedeutet das, dass bei Überforderung automatisiertes Handeln zunimmt, während das reflektierte, variable Reagieren auf Situationen abnimmt. Die Nervenfortsätze des Präfrontalen Kortex verkümmern: Neurone bauen Verbindungen ab, wenn sie nicht gebraucht werden.

 Das führt zu Entfremdung: Mit zunehmender Überforderung entfremden wir uns von uns selbst. Der Politikwissenschaftler Hartmut Rosa beschreibt die fehlende Weltbeziehung soziologisch: Wer unter Stress steht, kann nicht mehr mit anderen Menschen und mit der Umwelt in Resonanz treten.

 Zwischen Außenwelt und Innenwelt entsteht ein Spannungsfeld: Dazwischen steht „Eigentlich“. „Eigentlich“ würde ich gerne mehr Zeit haben für meine Familie, eigentlich möchte ich regelmäßig schwimmen gehen, eigentlich habe ich mir mein Leben anders vorgestellt.

 Gestresste können nicht mehr spüren, was guttut und was schadet. Selbst positive Erfahrungen werden nicht mehr gespeichert (Tunnelblick).

 Schlafstörungen treten auf, Nervosität, innere Unruhe, Motivationsverlust und Stimmungsschwankungen.

 Das führt bis hin zu mangelnder Impulskontrolle/Aggressivität, Niedergeschlagenheit, depressiven Episoden. Das Burnout-Syndrom, Depressionen oder Angsterkrankungen können sich entwickeln.

 Stressbedingte Sinnkrisen, Identitätsstörungen, Versagensängste werden berichtet.

 Dauerstress kann zu gesundheitsschädlichem Suchtverhalten führen: Rückzug, Rauchen, vermehrter Alkoholkonsum, Drogen- und Arzneimittel-Missbrauch.

All diese Auswirkungen spiegeln sich in aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Ist es Zufall, dass mit steigender Stressbelastung, die derzeit zu beobachtende Verrohung zunimmt und auch sie sogenannten „Hasspostings“?

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878 стр. 48 иллюстраций
ISBN:
9783754949412
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