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Die Identifizierung solcher großräumiger „Kipppunkte“ und die Vorhersage eines „Umkippens“ von natürlichen Systemen könnte daher großen Schaden verhindern, die Wissenschaft ist davon aber noch ein großes Stück entfernt.“ 2.4.1/2 Wiki.Bildungsserver

Version 2:

„Viele Menschen gehen davon aus, dass in einem komplexen System wie der Medizin kontinuierliche Änderungen der Rahmenbedingungen auch eine allmähliche Reaktion des Systems hervorrufen. Als Beispiel stelle man sich eine Taschenlampe vor, die durch einen Dynamo angetrieben wird: Je stärker man kurbelt, desto heller strahlt die Lampe.

Auch in der Medizin werden komplizierte Systeme oft vereinfacht, indem in einem bestimmten Gültigkeitsbereich ein konstanter Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung angenommen wird. Weil Gesundheit aber nichtlinear ist und es zahlreiche positive Rückkopplungen (Prozesse, die sich selbst verstärken) gibt, ist diese Annahme im Allgemeinen jedoch nicht richtig. Somit kann es insbesondere in dafür anfälligen Regulations-Systemen oder Körper-Regionen zu plötzlichen und drastischen Zell-Gewebe- oder Organänderungen kommen. Auch eine kleine Beeinflussung durch einen Stressfaktor, (zusätzlich zu den bisher scheinbar folgenlos gebliebenen Risikofaktoren) kann dann das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen bringen. Auch wenn die Ursache danach zurückgenommen werden sollte, wird der Organismus nicht unbedingt wieder in den alten Zustand zurückkehren, die Änderung ist also oft, aber nicht immer irreversibel.

Die Identifizierung synergetischer Belastungen und die Vorhersage eines „Umkippens“ von relativer Gesundheit zu multisystemischen (Komplex-)Erkrankungen könnte daher großen Schaden verhindern, die Medizin ist davon aber noch ein großes Stück entfernt.“


Ob ein Einflussfaktor wie z. B. ein Virus zum Kipp-Punkt/System-Sprenger wird, hängt also einerseits von seiner Gefährlichkeit ab – andererseits aber auch von der aktuellen Immunkompetenz/Robustheit des Wirtes.

Das sehen wir z. B. anhand der sehr unterschiedlichen Verläufe bei der derzeitigen COVID-19-Pandemie. Ca. 80 % der COVID-19-Patienten erleben milde Verläufe. Als Risikofaktoren für absehbar schwere Verläufe gelten z. B. chronische Vorerkrankungen und fortgeschrittenes Alter. Die Tatsache, dass scheinbar gesunde, junge COVID-19-Patienten unerwartete, langanhaltende Langzeitfolgen zeigen, (also „nicht unbedingt wieder in den alten Zustand zurückkehren“) ist ein Beispiel für die oben beschriebenen synergistischen Kipp-Punkte.

Ein anderes Beispiel ist, dass manche ME/CFS-, MCS- und auch COVID-19-Langzeit-Patienten den Ausbruch der Erkrankung wie das Umlegen eines Schalters erleben. Eine Patientin berichtete:

„Innerhalb von drei Tagen brach meine Welt einfach zusammen.“

2.5 Drei Exkurse in unübersichtliches Gebiet

Bevor wir uns den Facetten der Systemischen Epimedizin intensiver zuwenden, wagen wir uns in drei Exkursen in medizinische Grauzonen vor.

 Exkurs 1 widmet sich der Frage, ob es eine trennscharfe Definition gibt, die gesund von krank unterscheidet.

 Exkurs 2 behandelt die Frage, ob wir Erkrankungen präzise in somatische (körperliche) und psychische aufteilen können.

 Exkurs 3 untersucht die Trennschärfe von Ursache und Wirkung, verstärkenden Faktoren, Auslösern und Rückkopplungen.

2.5.1 Exkurs 1: Gesund oder krank?

„Befindlichkeitsstörung“ oder diagnostizierte Erkrankung?

Viele Patienten erleben eine diagnostische Odyssee. Das betrifft zum einen Menschen, die an sehr seltenen Erkrankungen leiden, zum anderen Patienten mit unspezifischen Symptomen wie z. B. Fatigue, Schmerzen oder Schlafstörungen. Langandauernde unklare Beschwerden gehören zu den häufigsten Gründen für Arztbesuche. Diese Beschwerden treten bei vielen Krankheitsbildern auf. Die Diagnostik erfordert Zeit und detektivisches Gespür.


Unspezifische Beschwerden werden auch verharmlosend „Befindlichkeits-Störungen“ genannt. Tatsächlich aber ist das Fundament erschüttert – die vitalen Grundfunktionen unseres Lebens: Schlafen, Atmen, Verdauen und die Mentalprozesse.

Ab wann sind wir „krank“?

„Gesund-sein“ oder „Krank-sein“ sind keine statischen Zustände, sondern Prozesse, die mehr in die eine oder mehr in die andere Richtung tendieren. Man schläft schlecht, im Magen zwickt es schon mal, man ist müde („ach, das Wetter“) oder hellwach („zu viel Stress“); die Verdauung ist zu rasant oder zu langsam. Kurz und gut, man ist nicht krank. Aber auch nicht kerngesund. Die Frustrationstoleranz gegenüber diesen „Zipperlein“ ist enorm. Man muss nicht zwingend zum Arzt und es gibt keinen Grund, nicht arbeiten zu gehen. Eine Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes/DGB vom Februar 2018 zeigte, dass 67 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trotz Krankheit zur Arbeit gingen.

Unter „krank“ versteht man gemeinhin einen Zustand, der mit akuten, einschränkenden Symptomen einhergeht. Wer eine schwere Grippe hat, ist krank. Wer einen Schlaganfall erlitten hat, ist krank. Wer gepflegt werden muss, ist krank. Wer „nur“ funktionelle Störungen hat, ist kraftlos, schlapp, matt, müde, unkonzentriert oder wie gelähmt vor Schmerzen, ohne Schwung oder apathisch. Aber krank?

Viele Patienten mit sogenannten funktionellen Beschwerden ringen sich tagtäglich die Leistungen ab, die der Alltag fordert. Diese Störungen können zu erheblichen Einbußen an Lebensqualität führen. Alles wird mühsamer: verdauen, bewegen, arbeiten. Man braucht mehr Pausen – aber irgendwie kämpft man sich durch. Auch die Teilnahme an sozialen Aktivitäten nimmt mehr und mehr ab: man beschränkt seine Aktivitäten notgedrungen auf das, was „machbar“ ist.

Ein Knochenbruch ist ein handfester Befund: er lässt sich röntgen, man sieht deutlich den Schaden und weiß im Allgemeinen, wie er zu beheben ist. Für das Maß funktioneller Erkrankungen gibt es keine „Richterskala“. Schmerzen, Erschöpfung oder Müdigkeit sind stets eine ausschließlich persönliche Empfindung – kaum nachvollziehbar für andere.

2.5.2 Exkurs 2: Physische oder psychische Erkrankung?

„Ihre Beschwerden sind psychisch bedingt“

Sofern kein organischer Befund vorliegt, gehen Behandler üblicherweise davon aus, dass die körperlichen Beschwerden als Folge eines inneren (psychischen) Konflikts entstanden sind und nicht organisch erklärt werden können. Betroffene Patienten profitieren dann ggf. von psychotherapeutischen Therapien. Wir wissen beispielsweise aus der Psycho-Onkologie, dass begleitende psychotherapeutische Unterstützung lebensverlängernd wirken kann.

Kein Behandler würde jedoch auf die medizinische Basisbehandlung des diagnostizierten organischen Krebsleidens verzichten und sich auf Psychotherapie als einzige und Primärtherapie beschränken – das wäre fahrlässig.

Für multisystemisch erkrankte Patienten stimmt das reale Erleben ihrer vielfältigen Beschwerden überwiegend nicht mit dem psychotherapeutischen, bzw. biopsychosozialen Ansatz überein. Die Folge: Diesen Patienten wird mangelnde Kooperation vorgeworfen. Das Beharren der Patienten auf körperlichen Ursachen wird als weitere Bestätigung der Einordnung als psychisch bedingte Störung interpretiert. } Siehe Kapitel 31


Abb. 2.5.2/1 Biopsychosoziale Sichtweise versus komplexmedizinisches Verständnis

Die biopsychosoziale Sichtweise und das komplexmedizinische Verständnis entfernen sich diametral voneinander, sofern die biopsychosoziale Sichtweise darauf beharrt, dass im Rahmen der haus- und fachärztlichen Routine-Untersuchungen keine organischen Ursachen für die EmKE-typischen Beschwerden gefunden worden seien und daher eine biopsychosoziale Behandlung ausreichend sei.

Aus Sicht der Systemischen Epimedizin sind weitergehende komplexmedizinische Untersuchungen, z.B. auf subklinische Entzündung/Silent Inflammation sowie auf neurologische, endokrine und weitere immunologische Fehlsteuerungen notwendig. Diese bleiben bei einer ausschließlich biopsychosozialen Diagnostik und Behandlung auf Basis eines „psychoneurobehavioralen“ Erklärungsmodells verborgen – und werden folglich nicht behandelt.

Dualismus ist das herrschende Prinzip derzeitiger Medizin

Thure von Uexküll (1908–2004) prägte die Begriffe „Medizin für seelenlose Körper“ und „Medizin für körperlose Seelen“. Auch wenn diese Unterteilung von vielen Behandlern im Alltag durchbrochen wird – sie ist noch immer das wirkende Grundprinzip unserer Gesundheits-Versorgung.

 Haus- und Fachärzte untersuchen und behandeln vor allem körperliche Ursachen von Beschwerden und Krankheiten. Die Diagnosefindung beruht im Wesentlichen auf den objektiven Parametern der Standardversorgung.Patienten ohne organischen Befund wird häufig empfohlen, sich psychotherapeutisch behandeln zu lassen.

 Psychosomatiker, bzw. Psychotherapeuten, Psychologen oder Psychiater untersuchen und behandeln das Erleben und Verhalten, z. B. Kindheitsprobleme, familiäre Spannungen, psychosoziale Belastungen, innere Konflikte. Die Diagnosefindung beruht auf Interviews, Fragebogen, Selbstbeschreibungen, Verhaltensbeobachtung oder Zeichnungen. Diese Erhebungen müssen interpretiert werden und sind damit immer subjektiv. Ergänzende objektive komplexmedizinische Laborparameter, die über die Regelversorgung hinausgehen, werden üblicherweise nicht erhoben.

Psychische Erkrankungen nehmen stark zu

„In Deutschland sind jedes Jahr etwa 27,8 % der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspricht rund 17,8 Millionen betroffenen Personen, von denen pro Jahr nur 18,9 % Kontakt zu Leistungsanbietern aufnehmen. Zu den häufigsten Erkrankungen zählen Angststörungen (15,4 %), gefolgt von affektiven Störungen (9,8 %, unipolare Depression allein 8,2 %) und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum (5,7 %).

Psychische Erkrankungen zählen in Deutschland nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bösartigen Neubildungen und muskuloskelettalen Erkrankungen zu den vier wichtigsten Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben zudem im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine um 10 Jahre verringerte Lebenserwartung. 2018 nahmen sich in Deutschland etwa 9.300 Menschen das Leben. Zwischen 50 % und 90 % der Suizide lassen sich auf eine psychische Erkrankung zurückführen.“ [Quellenhinweise im Originaltext] 2.5.2/1 DGPPN

so fasste die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde/DGPPN im Oktober 2020 die Prävalenz Psychischer Erkrankungen zusammen. Mehr als 44 Milliarden Euro werden für die Behandlung psychischer Erkrankungen jedes Jahr ausgegeben – keine anderen Krankheiten verursachen so viele Erwerbsminderungsrenten wie psychische Störungen, im Jahr 2018 betrug der Anteil 16 %.

„Die Dauer von Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen liegt durchschnittlich bei 42 Tagen. Psychische Erkrankungen sind heute mit 42 % auch der häufigste Grund für Frühverrentungen. Die Gesamtkosten aufgrund psychischer Erkrankungen inklusive direkter Kosten für die medizinische Versorgung und Sozialleistungen sowie indirekter Kosten, z. B. durch Produktivitätseinbußen, werden für Deutschland auf rund 147 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Das entspricht einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 4,8 %.“ 2.5.2/2 DGPPN

Ein unklarer, aber vermutlich nicht unwesentlicher Anteil psychischer Erkrankungen dürfte auf Fehldiagnosen beruhen, da komplexmedizinische (z. B. genetische, metabolische, immunologische) Untersuchungen üblicherweise nicht durchgeführt werden. } Siehe Kapitel 31 Manche Kritiker sprechen von einer „Psychiatrisierung der Gesellschaft“. In Bezug auf Depressionen wird von Experten wie dem renommierten Psychiater Ludger Tebartz van Elst darauf verwiesen, dass bei etwa 20 % der Betroffenen eine Reaktion des Immunsystems vorliegt, die zu einer Gehirnentzündung führt. Dennoch wird dieser Verdacht nicht regelhaft abgeklärt.

Was bedeutet „psychosomatisch“?

Seelisches Erleben drückt sich körperlich aus: Seelische Belastungen („Psycho-“) führen zu körperlichen Beschwerden („Soma“: Körper). Vor Prüfungen kann es zu Übelkeit und/oder Harndrang kommen, bei Schockreaktionen zu Ohnmacht. Weitere Beispiele sind Lampenfieber vor einem Auftritt oder verstärktes Herzklopfen in bedrängenden Situationen. Langandauernde seelische Belastungen können sich z. B. als verspannungsbedingte Rückenbeschwerden oder Kopfschmerzen äußern.

Was bedeutet somatopsychisch?

Weniger bekannt ist der umgedrehte Fall: Körperliche Balance oder Dysbalance drückt sich in Wohlbefinden oder in psychischen Störungen aus. Die Somatopsychologie untersucht die Auswirkungen von körperlichen Veränderungen auf emotionale und kognitive Prozesse. Nerven-Degenerationen in Gehirnarealen durch Pestizidbelastungen können psychische Symptome hervorrufen. Die Schäden lassen sich durch bildgebende Verfahren nachweisen. Sie sollten als primäre, zu untersuchende und zu behandelnde Ursache erkannt werden, denn die Reihenfolge ist entscheidend: Die psychischen Symptome sind die Folge der Pestizidbelastung.

In einer Studie des Max-Planck-Instituts München wurde gezeigt, dass eine genetische Hochregulierung der Interleukin-6/IL-6-Signalisierung mit Suizidalität assoziiert war. 2.5.2/3 Kappelmann et al. Ein ähnlicher entzündlicher (also immunologischer) Zusammenhang wird für eine Subgruppe von Patienten mit Depression beschrieben. } Siehe Kapitel 15

Von einem extremen, aber vermutlich nicht seltenen Beispiel berichtete der oben erwähnte Psychiater Ludger Tebartz van Elst in einem Interview mit Stefan Schleim:

„Ich muss hier insbesondere an eine Patientin denken, die uns auch die Zustimmung gegeben hat, Ihren Fall für Fortbildungen zu verwenden. Sie hörte nicht nur Stimmen, sondern litt auch unter Wahnvorstellungen: Sie meinte, Menschen wollten überall Sex mit ihr haben. Sie roch auch überall sexuelle Düfte. Das war für sie sehr schwer. Nun konnten wir zwar mit sogenannten Neuroleptika das Stimmenhören behandeln. Die führten aber einerseits zu Nebenwirkungen und andererseits blieb der Wahn bestehen. Nach sieben Jahren des Suchens und Ausprobierens folgten wir noch einmal einer Spur, die auf eine Hirnentzündung deutete, und behandelten die Frau mit Kortison. Nach einer Woche waren die Probleme verschwunden.“ 2.5.2/4 Schleim

Die dualistische Sichtweise verlassen

Unser derzeitiges dualistisches Gesundheitsverständnis bewirkt, dass man als Patient entweder der einen oder der anderen Fachgruppe zugewiesen wird. Diese Einteilung ist mit Risiken verbunden: Einerseits werden Psychische Erkrankungen zu spät erkannt, andererseits führt dieses Entweder-oder-Denken zu oft zu der Annahme, dass medizinisch „unerklärliche“ Symptome psychogen seien. Patienten, bei denen eine „Etikettierung“ nicht gelingt, stellen Behandler vor erhebliche diagnostische und therapeutische Schwierigkeiten.

„Psychisch“ ist kein Gegensatz zu „organisch“

In Kapitel 26 wird die noch junge Wissenschaftsdisziplin Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie vorgestellt. Sie beschäftigt sich mit den engen und unmittelbaren Verflechtungen zwischen unserer Psyche und unseren Regulationssystemen. Mittlerweile ist die Überzeugung widerlegt, dass Psyche, Nervensystem, Hormonsystem und Immunsystem jeweils unabhängige Funktionskreisläufe darstellten, die nicht viel miteinander zu tun haben. „Psychisch“ ist daher kein Gegensatz zu „organisch“. Vielmehr beschreibt der Begriff „Psychisch“ den Schauplatz der Beschwerden: die Veränderungen im Denken und Erleben, in der Gestimmtheit. Wie bei einem Marionettentheater ist das Geschehen auf der Bühne (die psychischen Beschwerden) jedoch nur ein Teil des Ganzen. Möglicherweise sind die ursächlichen, organischen „Strippenzieher“ geheimnisvoll verborgen.


Multisystemisch komplexerkrankten Patienten wird häufig aufgrund der (scheinbar!) unauffälligen organischen Befunde dysfunktionales Denken und Verhalten attestiert.

Viele Patienten mit unklaren, „medizinisch unerklärlichen“ Symptomen fühlen sich alleingelassen. Die Beschwerden, unter denen der Patient real – aber „subjektiv“ – leidet, sind nicht durch die üblichen Standard-Untersuchungen objektivierbar. Aus Patientensicht verlaufen solche Arztgespräche frustrierend, aus Sicht des Arztes fordern solche Patienten zu viel und das Falsche, sind übertrieben wehleidig und/oder undankbar für die angebotenen Hilfen. Das kann zu häufigem Wechsel der Behandler führen („doctor hopping“) und lässt Raum für jede Menge Spekulationen: „Übertreibst Du nicht ein wenig?“ „Der simuliert wahrscheinlich, um an die Rente zu kommen“ „Reiß Dich doch zusammen“, „Bist wohl hypochondrisch veranlagt“. Derlei Vermutungen belasten den Patienten, das Familien- und Berufsleben und auch das Therapeuten-Patienten-Verhältnis.

Krankheitsgewinn

Wer krank ist, hat den „Vorteil“ eines Schonraumes. Sigmund Freud entwickelte den Begriff des „Krankheitsgewinns“. Damit ist gemeint, dass es sinnvoll sein kann, krank zu sein und diesen Zustand aufrecht zu erhalten.

 Der primäre Krankheitsgewinn: Die (unbewusste) Flucht in die Krankheit entbindet vor unangenehmen Anforderungen, z. B. vor beruflichen oder sozialen Verpflichtungen. Auf diese Weise lassen sich bestimmte Situationen oder Konflikte vermeiden. Die Krankheit ist „nützlich“ für den Patienten.

 Der sekundäre Krankheitsgewinn: der Patient stellt sich auf seine Erkrankung ein. Er genießt die Fürsorge, Entlastung und Rücksicht der sozialen Umgebung und hat keine Veranlassung, diese Situation zu ändern.


Viele multisystemisch erkrankte Patienten verlieren ihre Arbeitsfähigkeit, sind behindert oder pflegebedürftig, erleben eine erhebliche Einbuße an Lebensqualität und geraten überdurchschnittlich oft in prekäre Verhältnisse. Sie empfinden es als (weiteren) Schlag ins Gesicht, wenn ihre Krankheits-Situation als „Krankheitsgewinn“ gedeutet wird.

2.5.3 Exkurs 3: Ursache und Wirkung

Systemische Wirkketten

Vielleicht hatten Sie mal Schmerzen an der Fußsohle, und Sie haben über längere Zeit gehumpelt. Das belastete die Hüftknochen und die Wirbelsäule. Die Wirbelsäule hat versucht, den Kopf möglichst gerade zu halten – in der Folge entstanden Nackenverspannungen. Der Ort der Ursache (Fußsohle) ist also nicht identisch mit dem Ort der Schmerzen (Nackenmuskulatur). Das ist ein sehr grobes Beispiel für kompensatorische Vorgänge, die bis in den Molekularbereich reichen: Der Ort der Ursache ist auch hier vielfach nicht der Ort der Wirkungen.

Zusammenbruch der Kausalitäts-Mechanismen

Das lineare Ursache-Wirkungsprinzip greift zu kurz. Vielmehr handelt es sich um dynamische Prozesse: Permanent treffen vielfältige Umweltfaktoren auf ein komplexes Resonanz-Netzwerk, das sich millisekündlich auf die aktuelle Lebenssituation einpendelt. Jeder einzelne dieser Reize hat das Potential, auf Zellstrukturen (z. B. Mitochondrien oder unser Erbgut) einzuwirken und vergängliche oder bleibende Spuren zu hinterlassen.

Im Zusammenhang mit Erworbenen multisystemischen Komplex-Erkrankungen ist stets von „ungeklärter Ätiologie“ (Ätiologie: Ursache für das Entstehen einer Krankheit) die Rede. Sofern man voraussetzt, dass eine einzige Ursache alles erklären könnte, wird sich daran auch nicht viel ändern. Einen alles erklärenden EmKE-Virus gibt es vermutlich so wenig wie ein alles erklärendes EmKE-Gen. Anders als bei den EmKE scheint bei einer COVID-19-Erkrankung der Auslöser der Beschwerden eindeutig: SARS-CoV-2. Nicht bekannt ist die Ursache für die überaus unterschiedlichen akuten und chronischen Verläufe. Hier spielen also noch weitere Faktoren eine Rolle. Trotz eindeutigem Erreger ist der Verlauf multikausal.


Es gibt unüberschaubar viele individuelle Einflüsse, die ein Geflecht von Ursachen, Auslösern und verstärkenden Faktoren ergeben.


Abb. 2.5.3/1 Lineare Sichtweise


Abb. 2.5.3/2 Systemische Sichtweise: Systemische Effekte in komplexen Netzwerken

Das lineare Ursache-Wirkungsprinzip erklärt einen Sachverhalt als logische Folgewirkung einer Ursache. In komplexen Systemen, ob bei der Erderwärmung oder bei multisystemischen Erkrankungen, sind durch die Vielzahl der beteiligten Faktoren, („Ursachen“) die Vorgänge jedoch so eng miteinander verflochten, dass Ursache und Wirkung sich verschränken können. Der Gesamt-Mechanismus, bzw. -Organismus folgt, aufgrund von dynamischen Wechselwirkungen, Feedback-Schleifen, Blockaden, Verstärkungen und Synergien anderen Gesetzen als die jeweiligen Einzelmechanismen.

Angesichts dieser Fülle und Variabilität ist schwer auszumachen, welche Gewichtung einzelne Faktoren bei einer Erkrankung haben. Vielmehr sehen wir eine sehr persönliche, individuelle Summenbelastung von Reizen, die synergistisch auf unterschiedlich vulnerable Organismen trifft.

Diese Vorgänge sind so eng verflochten, dass Ursache und Wirkung sich verschränken können.

Keine (biomedizinische) Ursache

Das Beharren auf einem ätiologischen Krankheitsverständnis kann im Kontext multisystemischer (Komplex-)Erkrankungen zu einer Argumentationskette der Bagatellisierung komplexmedizinischer Zusammenhänge führen. Diese Argumentationskette lautet: Da bei multisystemischen Komplex-Erkrankungen keine (biomedizinische) Ursache zu finden sei („ungeklärte Ätiologie“), sei weder eine Diagnose noch eine Therapie im biomedizinischen Sinne möglich. Als Hilfsangebot wird auf die kognitive Verhaltenstherapie zur Vermittlung geeigneter Bewältigungsstrategien verwiesen.


Ein ausreichender Wirksamkeitsnachweis dieses Ansatzes konnte jedoch bislang weder für ME/CFS, noch für MCS und nur beschränkt für FMS erbracht werden. } Siehe Kapitel 7

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9783754949412
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