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Multiple Chemikalien Sensitivität/MCS

Individuell heterogene Hypersensitivität gegenüber flüchtigen und flüssigen Chemikalien, Duftstoffen, Abgasen, Lösemitteln oder Zigarettenrauch. } Siehe Kapitel 9

Post-Traumatische Belastungs-Störung/PTBS, bzw. „Komplexe PTBS“

Unter (K)PTBS wird eine verzögerte Reaktion auf eine oder mehrere außergewöhnliche Bedrohungen verstanden. Leitsymptome sind: Nachhallerinnerungen, Übererregungssymptome und Vermeidungsverhalten. } Siehe Kapitel 11

Prof. Pall:

„In Anlehnung an andere Wissenschaftler bezeichne ich diese vier Erkrankungen als Multisystemerkrankungen. Ich stelle […] die Behauptung in Frage, dass diese Krankheiten und sogar ihre Symptome ungeklärt sind. Ich beabsichtige, eine detaillierte Erklärung für die allen vier Krankheiten gemeinsamen Mechanismen und Symptome anzubieten.“ 2.2.1/2 Pall

Prof. Pall erläutert, dass diese vier Erkrankungen mutmaßlich ursächlich durch den komplexen Nitrosativen Stress-Zyklus (auch „Biochemischer Teufelskreis“) erklärbar sind und behandelt werden können. Er beschreibt an anderer Stelle weitere, verwandte Multisystem-Erkrankungen.

Krankheitsspektrum Multisystem-Erkrankungen

„Wir behaupten, dass die Multisystemerkrankungen wirkliche Erkrankungen sind, die von diesem Mechanismus verursacht werden, auch wenn es sich um Erkrankungen handelt, die sich von Individuum zu Individuum stark unterscheiden können, weil die zugrunde liegenden biochemischen Prozesse in verschiedenen Geweben auftreten.

Mit anderen Worten: diese Multisystemerkrankungen bilden ein Krankheitsspektrum.“ 2.2.1/3 Pall

Die Annahme, dass sowohl ME/CFS, MCS; FMS und PTBS sowie weitere chronische Erkrankungen eine gemeinsame Ätiologie aufweisen, wurde zuvor schon 1994 von Dedra Buchwald und Deborah Garrity, 2.2.1/4 Buchwald, Garrity 1995 und 1999 von Albert Donnay und Grace Ziem 2.2.1/5/2.2.1/6 Donnay, Ziem und 1999 von Claudia S. Miller postuliert. 2.2.1/7 Miller

Erworbene multisystemische (Komplex-) Erkrankungen/EmKE

ME/CFS, MCS und FMS werden im vorliegenden Buch unter der Bezeichnung „Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE“ zusammengefasst, um sie – da sie den hauptsächlichen Untersuchungsgegenstand darstellen – von verwandten multisystemischen Erkrankungen abzugrenzen. Das schließt nicht aus, dass auch weitere verwandte Erkrankungen als EmKE bezeichnet werden können.

Die Post-Traumatische Belastungs-Störung/PTBS, bzw. die „Komplexe PTBS“, gilt in der etablierten Medizin als psychische Erkrankung und unterscheidet sich in der Ätiologie, nicht jedoch in anderen Merkmalen von ME/CFS, MCS und FMS.

„Erworben“ bedeutet, dass die Beschwerden, bzw. die Erkrankungen im Laufe der Lebensspanne neu aufgetreten sind.

Bezeichnungen für Multisystem-Erkrankungen

In anderen Zusammenhängen werden von Wissenschaftlern und Behandlern weitere Bezeichnungen für komplexe, multisystemische Erkrankungen verwendet. In Kapitel 31 werden Bezeichnungen beschrieben, die von Vertretern einer biopsychosozialen Sichtweise verwendet werden. Sie verstehen die Vielzahl der Symptome als Folge eines dysfunktionalen Verhaltens. Im weiteren wenden wir uns hier jedoch den Bezeichnungen zu, die der komplexmedizinischen Sichtweise entsprechen.

Der US-amerikanische Arzt und Autor Neil Nathan spricht beispielsweise von „Complex medical illnesses“, der US-amerikanische Arzt für funktionelle Medizin Eric Gordon bezeichnet sie als „Complex Chronic Illnesses“, es gibt in Kalifornien ein „Center for Complex Diseases“. Der Begriff „Environmentally Acquired Illness“ betont die umweltbezogene Entstehung.

Es gibt eine ganze Reihe von Erkrankungen, die unter diesen Begriffen subsummiert werden. Dazu gehören: Dysautonomie, Mastzell-Aktivierungs-Erkrankung, Sick-Building-Syndrom/SBS, Elektromagnetische Hypersensitivität/EHS, Chronisches Schmerzsyndrom, das Golfkriegs-Syndrom, Borreliose, Ehlers-Danlos-Syndrome und viele weitere. } Siehe Kapitel 10 und folgende


Was ist ein Syndrom?Ein einzelnes Krankheitszeichen (wie z. B. Fieber) wird „Symptom“ genannt; mehrere Krankheitszeichen zusammen ergeben Symptom-Muster, bzw. einen „Symptomkomplex“. Musterhaft gemeinsam auftretende Symptomkomplexe (körperliche, emotionale oder kognitive Symptome) werden als Syndrom zusammengefasst.

Medizinisch unerklärlich?

Um eine Diagnose zu stellen, verschafft sich der Behandler im ärztlichen Vorgespräch (fachsprachlich Anamnese), ein umfassendes Bild der Krankheitsvorgeschichte des Patienten. Er fragt nach aktuellen Beschwerden, Schmerzen, Allergien, bisherigen Krankheiten und Operationen. Von der Anamnese hängen die weiteren Schritte ab: die körperliche Untersuchung, Labordiagnostik (Blut- und Urinstatus), danach gegebenenfalls weiterführende apparative Untersuchungen wie EKG oder bildgebende Verfahren (Röntgen oder Ultraschall). Im besten Fall wissen Arzt und Patient am Ende, welche Erkrankung vorliegt und wie sie zu behandeln ist.

 Multisystemische (Komplex-)Erkrankungen werden jedoch häufig als „Medizinisch nicht erklärbare Symptome“, bzw. „Medizinisch nicht erklärbare (körperliche) Erkrankung“ beschrieben. Englischsprachig: Medically unexplained (physical) symptoms (MUS oder auch MUPS)/} Siehe Kapitel 31


Abb. 2.2.1/1 Medizinisch unerklärlich?

Die biopsychosoziale Behandlung: Psychosomatiker, Psychotherapeuten, Psychologen oder Psychiater untersuchen und behandeln das Erleben und Verhalten, z.B. Kindheitsprobleme, familiäre Spannungen, psychosoziale Belastungen, innere Konflikte. Die Diagnosefindung beruht auf Interviews, Fragebogen, Selbstbeschreibungen, Verhaltensbeobachtung oder Zeichnungen. Diese Erhebungen müssen interpretiert werden und sind damit subjektiv. Ergänzende objektive komplexmedizinische Laborparameter, die über die Regelversorgung hinausgehen, z.B. zum Zustand der Mitochondrien, werden üblicherweise nicht erhoben.


Abb. 2.2.1/2 Die komplexmedizinische Behandlung basiert auf klinischer Beobachtung und objektivierenden Befunden.


Abb. 2.2.1/3 Zwei Faktoren bewirken, dass EmKE seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert werden


„Medizinisch unerklärlich“ bedeutet, dass mit Hilfe der verwendeten diagnostischen Routine-Methoden kein organischer Befund erhoben werden konnte und von dem Behandler angenommen wird, dass auch weiterer diagnostischer Aufwand keinen organischen Befund erbringen würde.

Möglicherweise werden Patienten aber auch an Fachärzte weiterverwiesen. In Deutschland gibt es 34 medizinische Fachdisziplinen, wie die Allgemeinmedizin, die Immunologie oder die Neurologie. Mehrere dieser Facharztrichtungen sind wiederum in weitere medizinische Spezialgebiete unterteilt. Betroffene Patienten verbringen sehr viel Lebenszeit in mehreren unterschiedlichen (Fach-)Arztpraxen – doch auch hier ergibt sich keine Erklärung für die Beschwerden. Die werden daher als psychisch bedingt interpretiert. } Siehe Kapitel 31 Multisystemische Erkrankungen sind jedoch „Ganzkörper-Erkrankungen“, die die patientenzentrierte interdisziplinäre Kooperation mehrerer Fachdisziplinen und spezifische Untersuchungen erfordern. Die üblichen sieben bis acht Minuten, die ein Hausarzt pro Patientenkontakt investiert, reichen für eine effektive Versorgung komplexer, chronischer Multisystem-Erkrankung bei weitem nicht aus. Die „Sprechende Medizin“ muss besser honoriert werden.

Medizinisch erklärbar

Der Titel des Buches, Explaining unexplained Illnesses von Prof. Pall weist darauf hin, dass zwischen „medizinisch unerklärlich“ und „medizinisch erklärbar“ offenbar eine Wahrnehmungs- bzw. Wissenslücke vorliegt. Zuordnungen zu psychogenen Klassifizierungen sind folglich an der Tagesordnung, wie man zahllosen Patienten-Berichten entnehmen kann.


Die Tatsache, dass mit üblichen Standard-Untersuchungen und der Routine-Labordiagnostik keine auffälligen Befunde ans Licht kommen, lässt jedoch nicht den Umkehrschluss zu, dass diese nicht vorhanden sind!

Die komplexmedizinische Diagnostik

Vielfach entpuppen sich „Unerklärliche Beschwerden“ anhand objektivierbarer Befunde als (schwerwiegende) behandlungsbedürftige immunologische, neurologische und/oder metabolische Entgleisungen.

Wenn nachweisbare molekularbiologische und umweltmedizinische ursächliche Aspekte nicht untersucht werden, bleiben „rätselhafte“ chronische Erkrankungen medizinisch ungeklärt. Diese spezifischen Untersuchungen nenne ich „komplexmedizinische“ Diagnostik.

Mit Hilfe der NextGen Metabolomics können heute mit einer einzigen Blutprobe über 500 Moleküle aus mehr als 60 verschiedenen biochemischen Stoffwechselwegen gemessen werden. Diese innovativen, massenspektrometrischen Technologien werden in der Forschung eingesetzt. Moderne Technologien führen zu einer riesigen Kluft zwischen (alltäglicher) klinischer Anwendung und (Spitzen-)Forschung.


Wir werden sehen, dass engagierte Behandler in der Zusammenarbeit mit ebenso engagierten Laboren eine ganze Reihe praktikabler und bezahlbarer komplexmedizinischer Untersuchungen und Therapien entwickelt haben, die die Lebensqualität multisystemisch erkrankter Patienten in zahllosen Fällen moderat bis massiv verbessert haben.Die Kosten dieser komplexmedizinischen Versorgung werden derzeit dennoch nicht regelhaft von den Krankenkassen übernommen. Viel EmKE-Patienten haben kein Arbeits-Einkommen und können sie sich unter diesen Rahmenbedingungen diese Versorgung nicht leisten.

Was sind Omics?

Die Endsilbe -omic (auf Deutsch -omik) wird verwendet, um die Gesamtheit eines Untersuchungsobjektes zusammenzufassen. „Omics“-Technologien umfassen molekularbiologische Methoden, die mit Hilfe von Hochdurchsatz-Technologien in kürzester Zeit globale, hochaufgelöste molekulare Profile von Zellen und Geweben erstellen. Etymologisch geht der Begriff auf das Sanskrit-Wort OM zurück, das „Vollkommenheit und Fülle“ bedeutet.

Zu den -Omiks zählen z. B.:

Genomik: Gesamtheit der Gene

Proteomik: Gesamtheit der Proteine

Metabolomik (auch Metabonomik): Gesamtheit der Metaboliten/Stoffwechselprodukte

Proteomik: Gesamtheit der Proteine

Transkriptomik: Gesamtheit der Transkriptomen (mRNA). Sie zeigt, welche Gene gerade aktiv abgelesen werden.

Lipidomics: Gesamtheit der Lipide.

Glycomics: Gesamtheit der Zucker und Kohlenhydrate.

Epigenomik: Gesamtheit der epigenetischen Modifikationen.

Mikrobiomik: Genome der Mikroorganismen.

Connectomics: Connectome, der Gesamtheit der neuronalen Verbindungen im Gehirn.

Individuell

Regional, national und international gleicht kein Mensch dem anderen: wir haben individuell sehr unterschiedliche Genom-, Proteom-, Metabolom- und Mikrobiom-Identitäten. Jeder Mensch hat schon allein genetisch und epigenetisch einen einzigartigen und individuellen Fingerprint unterschiedlicher Merkmale: z. B. Polymorphismen, Mutationen oder RNAs.

Mit Hilfe der Omic-Technologien können Schadstoff-Expositionen ebenso nachgewiesen werden wie Veränderungen im Stoffwechsel als Reaktion auf Expositionen. Diese Technologien haben das Potenzial, unser Verständnis über Krankheitsursachen und über Krankheitsverläufe maßgeblich zu erweitern.

Big Data

Die Methoden der Molekularbiologie (-Omics) werden ergänzt durch weitere KI (Künstliche Intelligenz) Technologien. Der Einsatz dieser Technologien, die zu riesigen Datenansammlungen, zu „digitalen Zwillingen“ und zu „gläsernen Patienten“ führt, hat Licht- und Schattenseiten. } Siehe Kapitel 35

2.2.2 Definitions- und Klassifikationsprobleme


Zwischen allen StühlenDa multisystemisch erkrankte Patienten so viele Variable aufweisen, erleiden sie Defizite in Diagnostik, Therapie und Versorgung. Sie erleben oft über Jahre diagnostische Unsicherheiten, eingeschränkte Behandlungs-Optionen und ggf. schädigende Fehlbehandlungen. Es besteht ein enormer Leidensdruck und damit ein dringender Handlungsbedarf.

Das „zweite Buch der Medizin“

Erworbene multisystemische (Komplex-)Erkrankungen erfordern als systemische „Ganzkörper-Erkrankungen“eine Erweiterung des Krankheitsbegriffes bzw. ein neues Krankheitskonzept.


Prof. Pall spricht von einem neuen „10. Paradigma“. } Siehe Kapitel 5.5

Prof. Robert K. Naviaux leitet das Robert Naviaux Labor an der University of California San Diego School of Medicine/UCSD. Der international anerkannte Experte, forscht zu mitochondrialen und anderen stoffwechselbezogenen Faktoren. In Kapitel 27.3 wird die von Prof. Naviaux erforschte „Cell danger response/CDR (Deutsch: Antwort auf Zellgefahren) beschrieben, die für das Verständnis chronischer Krankheiten wesentlich ist. Prof. Naviaux spricht von einem ersten und zweiten „Buch der Medizin“.

Das erste Buch der Medizin

„Seit 5.000 Jahren geschriebener Geschichte konzentriert sich die Medizin auf die Behandlung von akuten Verletzungen durch Traumata, Infektionen und Vergiftungen. Dies ist das Thema des Ersten Buches der Medizin („Buch I“). Das Erste Buch der Medizin wird im 21. Jahrhundert von jedem Arzt und biomedizinischen Wissenschaftler gelehrt. Wenn jedoch eine Verletzung oder Krankheit nicht innerhalb von sechs Monaten geheilt ist, wird sie als chronische Krankheit betrachtet, und die Regeln der Akutmedizin reichen nicht mehr aus. Um chronische Krankheiten effektiv zu behandeln, brauchen wir ein neues Buch der Medizin. Die Behandlung und Vorbeugung von chronischen Krankheiten ist der Schwerpunkt des Zweiten Buches der Medizin („Buch II“). [Ü.d.A.] 2.2.2/1 Naviaux

Ein zweites Buch der Medizin

„Um die steigende Flut chronischer Krankheiten zu behandeln, ist ein Zweites Buch der Medizin erforderlich. Das Erste Buch der Medizin enthält den Korpus medizinischen Wissens aus den letzten 5.000 Jahren geschriebener Geschichte. Aus dem Ersten Buch der Medizin lernten Ärzte, wie sie akute Krankheiten behandeln können, die durch Infektionen, Vergiftungen und körperliche Verletzungen verursacht wurden. Typische akute Krankheiten dauern weniger als sechs Monate. Das Thema des Zweiten Buches der Medizin wird die Ursache und Behandlung chronischer Krankheiten sein, die länger als sechs Monate dauern.“ [Ü.d.A. Quellenhinweise im Originaltext] 2.2.2/2 Naviaux

Ein epochaler Wandel

Wir haben es heute kaum mehr mit abgrenzbaren, eindeutigen Krankheits-Manifestationen zu tun, sondern mit komplexen Krankheitsbildern, die miteinander verflochten sind und sich überlappen. Diese Krankheitsbilder sind unscharf, die Diagnosestellung ist aufwändig.

Statistisch inexistent

Insbesondere ME/CFS und MCS werden selten korrekt diagnostiziert und finden derzeit keinen Eingang in offizielle behördliche Statistiken. Die jeweiligen Diagnosekodes werden weder von Haus- noch von Fachärzten auch nur annähernd angemessen vergeben. Die Lehrbücher schweigen, wer Medizin studiert, wird – wenn überhaupt – nur rudimentär aufgeklärt. Weder Kranken- noch Rentenkassen liefern verlässliche Daten. Antworten der Bundesregierung auf mehrere Kleine Anfragen trugen bislang auch nicht zur Aufklärung bei. Unklar sind auch die direkten und indirekten Krankheitskosten. FMS und PTBS sind zumindest als Diagnosebegriffe bekannt, belastbare Daten fehlen dennoch in vielerlei Hinsicht. Keine dieser vier Krankheiten gehört zu den sogenannten „Seltenen Erkrankungen“.


Für Multisystemische (Komplex-)Erkrankungen besteht durch die Daten-Lücke eine Wahrnehmungs-Lücke und folglich eine Versorgungslücke.Bis zu einem umfassenden Problembewusstsein liegt offensichtlich noch ein weiter Weg vor uns.

Hidden diseases

Das Europäische Parlament beschrieb ME/CFS im Jahr 2020, (also im Jahr 51 nach der offiziellen, weltweit gültigen WHO-Klassifizierung von ME/CFS im Jahr 1969!) in einer vielbeachteten Resolution als „verborgenes Problem im Gesundheitswesen“ und forderte die Mitgliedsstaaten auf, aktiv zu werden. Diese Resolution war ein Plädoyer für die Anerkennung von ME/CFS und sie forderte Aufklärung über die Erkrankung. 2.2.2/3 EU-Parlament Auch weitere multisystemische (Komplex-)Erkrankungen werden zunehmend international als Hidden Diseases/verborgene Erkrankungen wahrgenommen.

Licht am Horizont?!

Zumindest für ME/CFS-Patienten könnte die Corona-Pandemie zum Game-Changer werden. Jeder zehnte COVID-19-Patient leidet unter Langzeitfolgen, wir erleben in Echtzeit die Entstehung der neuen multisystemischen Erkrankung „Post-COVID-19-Syndrom“. Geschätzt zwei Prozent aller positiv Getesteten entwickeln ein ME/CFS.


In allen führenden Medien wird nun nicht nur über die Corona-Pandemie, sondern auch über die weitverbreitete, aber ignorierte Erkrankung ME/CFS berichtet.

Der komplette Mangel an Versorgungs-Strukturen für Post-COVID-19-Patienten offenbarte das Versorgungsdesaster, das (seit Jahrzehnten) für multisystemische Komplex-Erkrankungen besteht. Unter diesem Druck reagiert die Bundesregierung mittlerweile mit ersten Förderprogrammen und wissenschaftlichen Evaluationen. } Siehe Kapitel 7 und Kapitel 10

2.2.3 Die medizinische Seite des Anthropozän

In der jüngeren Vergangenheit fanden innerhalb weniger Jahrzehnte revolutionäre Umwälzungen statt. Unsere biologische, geologische und atmosphärische Umwelt veränderte sich durch neue Technologien und Elektrotechnik nachhaltig und, wie wir heute wissen, zum Teil irreversibel. Unsere menschengemachten Spuren werden über lange geologische Zeiträume hinweg erhalten bleiben. Der Weltbiodiversitätsrat/IPBES berichtet:

 Das Artensterben ist heute mindestens dutzende bis hunderte Male größer als im Durchschnitt der letzten zehn Millionen Jahre.

 75 % der Landoberfläche und 66 % der Meeresfläche sind stark verändert. Über 85 % der Feuchtgebiete sind verloren gegangen.

 Diese negative Entwicklung ist auf zahlreiche direkte Treiber wie beispielsweise Landnutzungsänderungen, Umweltverschmutzung und Klimawandel zurückzuführen.

Unter Wissenschaftlern wird zunehmend der Begriff „Anthropozän“ diskutiert oder schon verwendet, Dieser Begriff wurde 2002 in dem Artikel Geology of mankind in der Zeitschrift Nature von dem Nobelpreisträger für Chemie, Prof. Paul J. Crutzen vorgeschlagen. „Anthropozän“ steht für das derzeitige neue Zeitalter, in dem der Mensch als wichtigster Einflussfaktor auftritt. Prof. Crutzen beschrieb, dass die durch Menschen verursachten Veränderungen seit dem Beginn des industriellen Zeitalters so massive Auswirkungen auf die Atmosphäre unseres Planeten haben, dass sie eine neue geologische Epoche rechtfertigen.

Mittlerweile lassen sich in Sedimentschichten Aluminium, Betonreste, Plastikteilchen, Kohlenstoffverbindungen wie CO2, Fallout aus Atombombenversuchen u.a. nachweisen. Selbst im Weltraum nimmt der Schrott zu. Kunststoffe im Atlantik bedecken eine Fläche, die das dreifache Ausmaß von Deutschland umfasst, unsere Atmosphäre ist durch Kohlendioxid- und Methanmoleküle verändert.

Im April 2019 fand in der Universität Wien die Tagung The Anthropocene – Challenging the Disciplines statt. Es war die erste Veranstaltung des neu gegründeten Vienna Anthropocene Network, die das vorgeschlagene neue Erdzeitalter aus unterschiedlichen Fachrichtungen beleuchtete.

Die medizinische Signatur des Anthropozän


Erde, Wasser, Licht und Luft haben ihre Reinheit verloren. Synthetische Substanzen gehören zum Alltag – und finden sich in unserem Organismus wieder: In allen Körperflüssigkeiten und in (Fett-)Geweben.

Der gemeinsame Lebensraum hat sich seit dem Beginn des industriellen Zeitalters drastisch verändert. Tausende Generationen vor uns lebten zwar nicht gefahrlos – aber ohne synthetisch hergestellte (Gefahr-)Stoffe. Unsere Lebensgrundlagen sind teilweise so vergiftet oder verstrahlt, dass sie als Lebensräume für Menschen nicht mehr geeignet sind. Die Katastrophe von Fukushima ist dafür eines der deutlichsten Beispiele.

Die „Innenweltverschmutzung“ durch synthetische Substanzen, Strahlen und Partikel spielt ursächlich bei nahezu allen neuzeitlichen Krankheiten zumindest anteilig eine bedeutende, vielfach unterschätzte Rolle. Chronisch entzündliche Erkrankungen, Allergien, Haut- und Umwelterkrankungen nehmen rasant zu.


Erworbene multisystemische Erkrankungen sind „die medizinische Signatur des Anthropozän“Die maximale biologische, psychische und chemische Belastbarkeit wird zunehmend überschritten, der Organismus wird überfordert, chronisch geschwächt und vulnerabel.Multisystemische Erkrankungen können als die strategische Antwort des Organismus auf herausfordernde Zeitumstände verstanden werden. Derzeit werden sie aber (noch!) nicht als kollektives, der Moderne geschuldetes Gesundheitsproblem erkannt.Erworbene Multisystemische Erkrankungen können allmählich auftreten, wie eine lange Dämmerung – dann bleiben sie lange unter der Wahrnehmungsgrenze. Dort, wo sie schlagartig und mit schweren Verläufen auftreten, „verschwinden“ die Betroffenen meist aus der Gesellschaft.

Die COVID-19-Pandemie


Die Wurzel der derzeitigen Corona-Pandemie liegt in der menschengemachten Zerstörung gewachsener Lebensräume und dem dadurch ermöglichten Übersprung von Corona-Viren vom Tier zum Menschen.

Epidemiologen und Umweltmediziner haben wiederholt auf diese Gesundheitsbedrohungen hingewiesen, sie wurden kaum gehört, als noch Prävention möglich war. Das noch junge Fachgebiet der Gesundheitsökologie untersucht die Bedeutung kranker und gesunder Ökosysteme für den Menschen. Dieser Wissenschaftszweig verweist nicht nur auf die anthropogene Verursachung der Pandemie, sondern macht auch darauf aufmerksam, dass Umweltbelastungen Effekte auf den Verlauf der COVID-19-Erkrankung haben. Feinstaub und andere Umweltbelastungen zerstören wichtige Immunzellen, u.a. die Natürlichen Killerzellen, die eine wichtige Rolle bei der Abwehr von Viren spielen. Es verwundert nicht, dass durch Langzeit-Expositionen die Infektionssterblichkeit mit jedem zusätzlichen Mikrogramm Feinstaub (PM 2.5) in der Atemluft ansteigt. Das zeigte eine US-amerikanische Studie, die im November 2020 veröffentlicht wurde. 2.2.3/1 Wu et al.

Die Kapitulation

In den folgenden Kapiteln wird der Prozess des allmählichen oder plötzlichen Kollabierens durch eine Vielzahl unterschiedlicher Variablen beschrieben, die in der Summe nicht bewältigt werden können. Die Fülle moderner Stressoren (Umweltallergene, Schadstoffe, Zusatzstoffe in Nahrungsmitteln, psychosoziale Belastung, ständige Erreichbarkeit u.a.) haben an Quantität und Qualität ein Ausmaß erreicht, das durch die synergistische Dauer-Reizung als Dauer-Entzündung unser Immunsystem überfordert und zu einer allmählichen oder plötzlichen gesundheitlichen Kapitulation führt.


Diese Kapitulation ist die Wurzel der Entstehung der multisystemischen Krankheitsbilder.

2.3 Systemische Epimedizin


Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen entstehen aus der unübersichtlichen Gemengelage zwischen sehr vielen, sehr unterschiedlichen Reizfaktoren, variablen körperlichen und seelischen Stressantworten, den daraus entstehenden multiplen Regulations-Störungen und den wiederum daraus entstehenden vielfältigen Symptomen.

Die Komplexität moderner Erkrankungen erfordert eine veränderte Herangehensweise in Diagnostik und Therapie. Daher wird im vorliegenden Buch die Bezeichnung „Systemische Epimedizin“ für ein umfassendes, interdisziplinäres, systemisches Medizinkonzept vorgeschlagen, das dem Netzwerkcharakter dieser Erkrankungen gerecht wird. Erforderlich ist die Kooperationen zwischen Haus- und Fachärzten, Molekular- und Systembiologen, der Klinischen Umweltmedizin, Ökotoxikologen und ggf. weiteren medizinischen Fachrichtungen.


Der Leitbegriff „Systemische Epimedizin“ verweist auf die systemischen Zusammenhänge zwischen unseren Regulations-Systemen und auf die Wechselbeziehungen der Umwelt mit unseren Genen und den Mitochondrien.Die Systemische Epimedizin und ihre Wissenschaftsdisziplinen werden in TEIL 5 ausführlich beschrieben.

 Die Benennung lehnt sich an die in Kapitel 28 beschriebene neue Wissenschaftsdisziplin der Epigenetik an.

 Die Systemische Epimedizin basiert auf einem systemmedizinischen Krankheitsverständnis, das z. B. in großangelegten Förderprojekten wie e:med vom Bundesministerium für Bildung und Forschung vorangetrieben wird. } Siehe Kapitel 25


EmKE sind noch lange nicht vollständig verstanden, aber Segmente dieser Erkrankungen sind schon nach heutiger Datenlage ursächlich behandelbar. Die Systemische Epimedizin bietet ein wissenschaftlich begründetes, systemmedizinisches Konzept für das Verständnis Erworbener multisystemischer (Komplex-)Erkrankungen.

2.4 Homöostase: Stabilisierungs-Strategien

Unser Überleben hängt davon ab, dass wir uns den ständig wechselnden Lebens- und Umgebungszuständen anpassen können. Alle lebenden Organismen sind permanent damit beschäftigt die biologische Balance zu erhalten. Unser Blutzuckerwert wird ständig reguliert, unser Immunsystem ist gesund, wenn es weder überschießend noch defizitär reagiert. Der Energiestoffwechsel, das Herz-Kreislauf-System, die Atmung – die Anpassung unserer Körperchemie an die aktuelle Situation ist ein Wunderwerk, das, wenn wir gesund sind, unbemerkt und reibungslos in unserem Organismus abläuft.


Die HomöostaseGesundheit ist kein statischer Zustand, sondern ein permanentes Kreisen um ein volatiles Gleichgewicht. Alle Regelkreise in unserem Organismus kreisen um eine „goldene Mitte“ innerhalb eines engen Korridors. Dieses lebenslange Ringen wird Homöostase genannt.Die lebenserhaltende Anpassungsleistung stellt höchste Anforderungen an das komplizierte Zusammenspiel unseres Organismus und ist deshalb störanfällig.

Reize wie Erreger, niedriger Blutzucker, geringe Sauerstoffversorgung des Gewebes, extreme Hitze oder Kälte, Wunden, Noxen, Schmerzen oder psychische Belastungen verlangen nach einer Reaktion. Unser Organismus ist in einem permanenten Zustand der Selbstverteidigung und ringt um die Selbsterhaltung. Solange alles reibungslos funktioniert, entzieht sich dieses Geschehen weitgehend unserer Wahrnehmung.


Wir bestehen aus 37 Billionen Körperzellen. Jede einzelne Zelle verfügt über rund 3.000 Enzymsysteme, und in jeder Körperzelle geschehen 100.000 Stoffwechselvorgänge pro Sekunde, ca. einhundert Mal pro Minute findet ein Wasseraustausch statt. Pro Sekunde entstehen rund 50 Millionen neue Zellen.

In unserem Organismus summt und brummt es sozusagen ständig. Die Regulationssysteme versenden ihre Botenstoffe (Hormone, Neurotransmitter, Zytokine) mit Nachrichten wie: „Alles gut, keine Gefahr“ bis hin zu „Achtung, Achtung, gefährlicher Eindringling, volle Abwehrpower, Lebensgefahr!“ Diese ständige Anpassungsleistung ermöglicht es uns Menschen sowohl in sibirischer Kälte wie auch im tropischen Regenwald zu überleben.


Homöostase ist die Fähigkeit des Organismus, Störung des inneren Gleichgewichts permanent auszugleichen. Gesund bleiben und gesund werden hängt ganz wesentlich von der Fähigkeit zur Selbstregulation/Homöostase ab.Wenn die Stabilisierungs-Maßnahmen nicht mehr greifen, sind Leib und Seele in Not.

Dann versagt die mitochondriale Synchronisation, wir empfinden körperliches und seelischen Unbehagen, das bei dauerhafter Überlastung erst zu Beschwerden, dann zu Krankheiten führt – ggf. bis hin zu einer Regulationsstarre. Mit zunehmendem Alter wird die Fähigkeit zur Homöostase eingeschränkter. Der Tod setzt das eindeutige Zeichen, dass es dem Organismus trotz aller Stabilisierungs-Anstrengungen nicht mehr gelingt, die Homöostase aufrecht zu erhalten.

Allostatische Belastung

Das Autorenduo McEwen und Stellar führten 1993 das Konzept der „allostatischen Belastung“/Englisch: „allostatic load“ ein. 2.4/1 McEwen, Stellar Allostasis bedeutet wörtlich „Stabilität durch Wandel“. Während bei der Homöostase von einem „optimalen Sollwert“ ausgegangen wird, weist das Allostase-Konzept darauf hin, dass alle physiologischen Parameter innerhalb dynamischer Grenzen variieren und sich auf einem neuen Niveau einpendeln können.


Aus Sicht der Systemischen Epimedizin ist jede multisystemische Erkrankung der individuelle Ausdruck einer aus dem Gleichgewicht geratenen Homöostase, bzw. einer überforderten Allostase auf mehreren regulativen Ebenen.

2.4.1 Zum Vergleich: Kipp-Punkte im Klimasystem

Hans Joachim Schellnhuber, Direktor Emeritus des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, entwickelte das Konzept der Kippelemente, bzw. Kipp-Punkte. In der Erdsystem- und Klimaforschung wird von Kipp-Punkten gesprochen, wenn durch relativ geringe äußere Einflüsse ein neuer, labilerer Zustand im globalen Erd- und Klimasystem entsteht: Das Gleichgewicht „kippt“.

„Diese Änderungen können sich abrupt vollziehen und zum Teil unumkehrbar sein. Sie können zudem Rückkopplungen in Gang setzen, Änderungen in anderen Subsystemen des Systems Erde hervorrufen und so Kaskadeneffekte auslösen.“ 2.4.1/1 Wikipedia

Dieses Konzept der Kippelemente kann man eins zu eins auf die Entstehung multisystemischer Erkrankungen und den Verlust der Homöostase beziehen. Das folgende Zitat aus dem Wiki.Bildungs-Server lässt sich zwanglos von klimatischen auf medizinische Zusammenhänge übertragen, dazu wurden in Version 2 alle klimarelevanten Begriffe durch medizinrelevante ersetzt und unterstrichen.

„Viele Menschen gehen davon aus, dass in einem komplexen System wie dem Klima kontinuierliche Änderungen der Rahmenbedingungen auch eine allmähliche Reaktion des Systems hervorrufen. Als Beispiel stelle man sich eine Taschenlampe vor, die durch einen Dynamo angetrieben wird: Je stärker man kurbelt, desto heller strahlt die Lampe.

Auch in der Wissenschaft werden komplizierte Systeme oft vereinfacht, indem in einem bestimmten Gültigkeitsbereich ein konstanter Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung angenommen wird. Weil das Klimasystem aber nichtlinear ist und es zahlreiche positive Rückkopplungen (Prozesse, die sich selbst verstärken) gibt, ist diese Annahme im Allgemeinen jedoch nicht richtig. Somit kann es insbesondere in dafür anfälligen Regionen zu plötzlichen und drastischen Klimaänderungen kommen. Auch eine kleine Beeinflussung durch den Menschen (zusätzlich zu den bisher scheinbar folgenlos gebliebenen Eingriffen) kann dann das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen bringen. Auch wenn die Ursache danach zurückgenommen werden sollte, wird das Klima nicht unbedingt wieder in den alten Zustand zurückkehren, die Änderung ist also irreversibel.

1 531,18 ₽
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878 стр. 48 иллюстраций
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9783754949412
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