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TEIL 1 GRUNDLAGEN

TEIL 1 führt in das Thema „Erworbene Multisystem-Erkrankungen“ ein. Sie gehören zu den sogenannten Nichtübertragbaren (Zivilisations-) Erkrankungen, die einen engen Zusammenhang mit der Industrialisierung und mit den dadurch gesamtgesellschaftlich veränderten Lebensbedingungen haben. Diese umweltbedingten Einflüsse sind das Grundrauschen, dem wir alle – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – ausgesetzt sind.

Durch die Vielzahl und Vielfalt moderner Einflussfaktoren sind wir körperlich und seelisch permanent damit beschäftigt, auf Reize angemessen zu reagieren. Um auf allen Ebenen im Gleichgewicht zu bleiben, ringen wir lebenslang mithilfe komplexer, störungsanfälliger biochemischer Regulationskaskaden um ein dynamisches Gleichgewicht. Dieser volatile Balanceakt wird Homöostase genannt. Vor allem das Gehirn und die Regulations-Systeme reagieren sensitiv auf Einflüsse und werden extrem belastet. Im Grunde ist das Immunsystem „gutmütig“ und einsatzfreudig – das Trommelfeuer an Reizen überfordert jedoch die Kapazitäten. Das führt letztendlich zu einer langen Liste unklarer Ganzkörper-Beschwerden wie Schmerzen, Fatigue und geringer Stresstoleranz – und auch die Seele leidet.

Diese multisystemischen, heterogenen Beschwerdebilder lassen sich aufgrund der diffusen Symptomatik nicht leicht verstehen und widersetzen sich den üblichen Einordnungen. Hier gelangen wir auf mehreren Ebenen in einen Grauzonen-Bereich zwischen gesund und krank, zwischen Psyche und Soma und auch die Frage nach Ursache und Wirkung, bzw. nach Dosis und Wirkung stellt sich.

Diese Komplexität dieser Erkrankungen erfordert eine veränderte Herangehensweise in Diagnostik und Therapie. Daher wird im vorliegenden Buch die Bezeichnung Systemische Epimedizin als Grundidee für ein umfassendes, interdisziplinäres, systemisches Medizinkonzept vorgeschlagen.

Dieses Konzept wird in TEIL 1 skizziert und in späteren Kapiteln vertieft.

Kapitel 1 Jedes Zeitalter hat seine Erkrankungen

Moderne Lebensbedingungen

Mit Beginn der Industrialisierung hat sich unsere Lebenswelt umfassend verändert. Industrialisierung, Globalisierung und Digitalisierung sind Schlagworte, die uns allerorten begegnen. Noch nie unterschied sich die Art und Weise zu leben innerhalb weniger Generationen so grundsätzlich wie heute. Wir erleben seit etwa 100 Jahren zunehmend an einem einzigen Tag so viele Reize, wie sie ein „vorindustrieller“ Mensch in einer Woche oder gar in einem Monat erlebt hat: Hektik, Mobbing, Lärm, visuelle, auditive und/oder digitale Reizüberflutung. Dazu kommen Umweltschadstoffe und neue Arten elektromagnetischer Strahlung.


Wir leben heute nicht nur grundlegend anders als unsere nahen Vorfahren – unsere Lebensweise unterscheidet sich auch fundamental von allen Lebensformen der bisherigen Menschheitsgeschichte. Wir sind Zeitzeugen eines radikalen Wandels ohne historisches Vorbild. Wir werden sehen, dass gerade dieser Sachverhalt uns blind macht für die Risiken, die damit verbunden sind.

Unsere Ururgroßeltern wären hoffnungslos überfordert durch Autoverkehr, Medien und durch den allgegenwärtigen Stress. Sie würden staunen:

 Über Regale voller Halbfertig- und Fertigprodukte, die Konservierungsmittel, Geschmackstoffe, künstliche Aromen und/oder Geschmacksverstärker enthalten.

 Unsere Vorfahren würden hilflos einer visuellen, sensorischen und auditiven Informationsflut gegenüberstehen und müssten sich ständig entscheiden: Welches der 30 Shampoos ist das Richtige? Facebook oder Instagram? Elektroauto oder Diesel?

 Nicht wahrnehmen könnten die Ururgroßeltern z. B. den Feinstaub und die Pestizide oder die ca. fünf Gramm Mikroplastik-Partikel, die wir heute pro Woche aufnehmen (WWF-Studie 2019) – das entspricht dem Gewicht einer Kreditkarte. Auch die kannten unsere Vorfahren nicht.

Diese Liste lässt sich nahezu unendlich verlängern.

Veränderte Umwelt – veränderte Erkrankungen

Bei nüchterner Betrachtung muss man konstatieren: Die moderne Lebensweise hat eine Ereignisdichte und Reizintensität erreicht, die eine Zumutung für den Organismus darstellt. Das Gleichgewicht zwischen der Fülle an Reizen und unseren körperlichen und seelischen Antworten ist nachhaltig gestört, wir betreiben tagtäglich Raubbau an unseren Ressourcen. Das Gehirn als das primär stresswahrnehmende Organ wird besonders herausgefordert.

Nicht nur chronisch-entzündliche Erkrankungen nehmen zu, auch die Zahl psychischer und neuro-degenerativer Erkrankungen steigt bedrohlich an.


Unser Immunsystem ist „gutmütig“ und einsatzfreudig, wird aber überflutet mit einem Trommelfeuer an Reizen. Die übergreifenden Regulations-Systeme – das Immun-, das Hormon- und das Nervensystem – sowie deren Subsysteme reagieren sensitiv auf diese Einflüsse und sind daher vulnerabel.

Klimawandel und Gesundheit

Kurz vor Veröffentlichung dieses Buches führte Starkregen zu Hochwasserkatastrophen, nicht nur in mehreren Regionen Deutschlands, sondern auch in weiteren Ländern. In Griechenland und in der Türkei hingegen ist es derzeit so trocken, dass die Feuerwehren die Waldbrände kaum mehr löschen können. Damit wird zunehmend real, wovor Klimaforscher schon so lange warnen.

Die Erderwärmung entsteht vor allem durch die Verbrennung fossiler Energien wie Braunkohle, Steinkohle und Erdöl, die zu einem CO2 Ausstoß führt. CO2 ist keine neuartige Substanz, aber die Verdoppelung des Anteils in der schützenden Atmosphäre, die die Erde umgibt, trägt zum Treibhauseffekt bei.

„Der Klimawandel ist die größte globale Gesundheitsbedrohung des 21. Jahrhunderts.“

fasste Richard Horton, Chefredakteur des renommierten Wissenschaftsmagazins The Lancet schon 2009 in einem Kommentar die zentrale Aussage eines Berichts zusammen, den das University College London/UCL in Kooperation mit dem Lancet herausgebracht hatte und der sich mit den gesundheitlichen Folgen der Erderwärmung befasste. 1/1 The Lancet

Der Weltärztebund rief im Oktober 2017 in seiner Declaration On Health and Climate Change die nationalen Ärzteverbände dazu auf, Klimawandel und Gesundheit als prioritäre Aufgabe auf ihre Agenda zu setzen. 1/2 Weltärztebund

Die Hitzeperioden dauern auch in Deutschland mittlerweile länger an und sind intensiver, das stellt eine zusätzliche Belastung insbesondere für vorerkrankte Menschen dar und kann zu hitzebedingter Sterblichkeit führen. The 2020 report of The Lancet Countdown on health and climate change: responding to converging crises lautete der Titel einer Lancet-Berichtes, der rund 20.200 Todesfälle bei über 65-Jährigen im Jahr 2018 in Deutschland errechnet hatte, die im Zusammenhang mit Hitze standen. 1/3 Watts et al. Ist die Haut wiederholt ultravioletten Strahlen/UV-Licht ausgesetzt, erhöht sich zudem auch das Risiko für weißen und schwarzen Hautkrebs.

Das Bundesumweltamt informiert über weitere klimabedingte Auswirkungen auf unsere Gesundheit:

„Der Klimawandel kann zukünftig zu einer Zunahme weiterer Extremwettererscheinungen mit direkter, potentieller Gesundheitsbedeutung führen, worunter z. B. vor allem die Auswirkungen von Stürmen und Orkanen, sowie Hochwasser/Überschwemmungen bedingt durch Stark- oder Dauerregen zählen. Die hierdurch ausgelösten gesundheitlichen Auswirkungen können nicht nur physischer Art sein, wie z. B. Infektionen, Verletzungen oder im Extremfall auch Todesfälle, sondern auch psychische Belastungen wie Stress, Angstzustände, Traumata und Depressionen verursachen.

Indirekte gesundheitliche Auswirkungen und Risiken treten durch nachteilig veränderte Umweltbedingungen als Folge der Klimaänderungen auf. Hierzu gehören u.a. die Beeinträchtigung der Qualität und Quantität von Trinkwasser und Lebensmitteln, das veränderte bzw. verlängerte Auftreten biologischer Allergene (zum Beispiel Pollen) sowie von tierischen Krankheitsüberträgern, sogenannten Vektoren, wie Zecken oder Stechmücken. 1/4 Umweltbundesamt

Der Arzt und Kabarettist Eckart von Hirschhausen engagiert sich seit 2018 für eine medizinisch und wissenschaftlich fundierte Klimapolitik. Er ist Mitbegründer von Scientists for Future und Unterstützer der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit/KLUG. Er fasst treffend zusammen:

„Wir müssen nicht ,das Klima‘ retten – sondern uns.“


⇒ Weitere InformationenDeutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V./KLUG„Die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V. /KLUG ist ein Netzwerk von Einzelpersonen, Organisationen und Verbänden aus dem gesamten Gesundheitsbereich, deren Ziel es ist, deutlich zu machen, welche weitreichenden Folgen die Klimakrise auf die Gesundheit hat. 1/5 KLUG

1.1 Nichtübertragbare (Zivilisations-)Erkrankungen/NCDs

Typhus, Diphtherie und Tuberkulose – die Erkrankungen unserer Vorfahren traten akut und virulent auf. Das Krankheitsspektrum hat sich verändert, heute überwiegen Chronische (Zivilisations-)Erkrankungen. Im Gegensatz zu den Infektions-Erkrankungen gelten diese Erkrankungen als nicht übertragbar. Diese im Laufe des Lebens erworbenen, nicht durch „Ansteckung“ übertragbaren Erkrankungen mit langer Krankheitsphase werden als Nichtübertragbare Krankheiten/Noncommunicable diseases/NCDs bezeichnet. Sie haben oft keinen klar bestimmbaren Ausgangspunkt und entwickeln sich allmählich über eine lange Zeitdauer – das können Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte sein. NCDs bedürfen einer Dauertherapie.

Eine globale Herausforderung

Die Weltgesundheits-Organisation WHO fasste am 13. April 2021 die wichtigsten Fakten zu Nichtübertragbaren Krankheiten/Noncommunicable diseases/NCDs zusammen:

 „Nichtübertragbare Krankheiten (NCDs) töten jedes Jahr 41 Millionen Menschen, das entspricht 71 % aller Todesfälle weltweit.

 Jedes Jahr sterben mehr als 15 Millionen Menschen im Alter zwischen 30 und 69 Jahren an einer NCD; 85 % dieser „vorzeitigen“ Todesfälle treten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen auf.

 Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind für die meisten NCD-Todesfälle verantwortlich, das entspricht 17,9 Millionen Menschen jährlich, gefolgt von Krebserkrankungen (9,3 Millionen), Atemwegserkrankungen (4,1 Millionen) und Diabetes (1,5 Millionen).

 Diese vier Krankheitsgruppen sind für über 80 % aller vorzeitigen NCD-Todesfälle verantwortlich.

 Tabakkonsum, körperliche Inaktivität, schädlicher Alkoholkonsum und ungesunde Ernährung erhöhen das Risiko, an einer NCD zu sterben.

 Erkennung, Screening und Behandlung von NCDs sowie Palliativmedizin sind wichtige Bestandteile der Antwort auf NCDs.

 Nichtübertragbare Krankheiten (NCDs), die auch als chronische Krankheiten bezeichnet werden, sind meist von langer Dauer und das Ergebnis einer Kombination aus genetischen, physiologischen, umweltbedingten und verhaltensbedingten Faktoren.“ [Ü. d. A.] 1.1/1 Factsheet WHO NCD


Die WHO weist auf den rasanten Anstieg dieser Erkrankungen hin und warnt vor einer epidemiologischen und ökonomischen Krise.

Chronisch krank in Deutschland

2020 veröffentlichte das Frankfurter Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität die Studie Chronisch krank sein in Deutschland – Zahlen, Fakten und Versorgungserfahrungen. Sie ergab unter anderem:

 Insgesamt gaben 18 Millionen von 42 Millionen (ca. 43 %) Frauen an, dass sie chronisch krank seien.

 Befragungen von Frauen im Alter von 18–29 Jahre ergaben, dass 20,8 % mindestens eine chronische Erkrankung haben und 58,3 % der Frauen über 65 Jahre.

 Insgesamt gaben 15,5 Millionen von 41 Millionen (ca. 38 %) der Männer an, dass sie chronisch krank seien.

 Befragungen von Männern im Alter von 18–29 Jahre ergaben, dass 17,5 % mindestens eine chronische Erkrankung haben und 55,3 % der Männer über 65 Jahre. 1.1/2 Güthlin et al.

Grundsicherung und Krankheit

Das statistische Bundesamt teilte im April 2019 mit, dass im Dezember 2018 über eine Million Personen ab 18 Jahren Leistungen der Grundsicherung erhielten. 1.1/3 Stat. Bundesamt Knapp die Hälfte davon, 48,1 Prozent, erhielt die Leistung aufgrund einer dauerhaft vollen Erwerbsminderung aufgrund von Krankheit oder Behinderung.

Gesundheit der Bevölkerung nimmt ab

Auch wenn Statistiken immer in einem Gesamtzusammenhang bewertet werden müssen und viele Komponenten eine Rolle spielen – es ist kaum widerlegbar, dass die Gesundheit in der Gesamtbevölkerung abnimmt.


Zum einen müssen immer mehr (Chronisch) Kranke und ältere Menschen versorgt werden, zum anderen nimmt die Zahl der Menschen, die so gesund sind, dass sie den eigenen Unterhalt erarbeiten können, stetig ab.

Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften/AWMF veröffentlichte 2018 ein Strategiepapier: Medizin und Ökonomie: Maßnahmen für eine wissenschaftlich begründete, patientenzentrierte und ressourcenbewusste Versorgung. Darin merken die Autoren an:

„Die Einnahmebasis der umlagefinanzierten GKV wird längerfristig durch den steigenden Anteil nicht mehr Erwerbstätiger/Rentner geschwächt, insbesondere ab Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge („Babyboomer“). Dies erfordert einen sehr bewussten Umgang mit knapper werdenden Ressourcen.“ [Quellenhinweise im Originaltext] 1.1/4 AWMF

Die akuten Infektionen durch COVID-19 stellen derzeit eine zusätzliche Belastung des Gesundheitssystems dar. Dazu kommen die Langzeitfolgen der Pandemie, die Post-COVID, bzw. die Long-COVID-Patienten. Deren Anzahl ist unklar, Experten schätzen, dass allein in Deutschland mit rund 370.000 Betroffenen zu rechnen sei, überwiegend im berufstätigen Erwachsenenalter. Die meisten sind vorübergehend oder möglicherweise dauerhaft arbeitsunfähig.

1.1.1 Entstehungsfaktoren

Die WHO verweist auf vermeidbare Risikofaktoren:

„Durch die Bekämpfung der wichtigsten Risikofaktoren (Tabak- und Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel, Bluthochdruck, Adipositas und eine Reihe von Umweltfaktoren) ließen sich mindestens 80 % aller Herzkrankheiten, Schlaganfälle und Fälle von Diabetes sowie 40 % aller Krebserkrankungen verhindern.“ 1.1.1/1 WHO

Auch das Robert-Koch-Institut verweist auf die Verantwortung des Einzelnen:

„Nichtübertragbare Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes mellitus und Atemwegserkrankungen sind die Haupttodesursache weltweit und auch in Deutschland. [...]

„Präventionsansätze müssen den Einzelnen, seine Lebenswelt und die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen in den Blick nehmen“, betont RKI-Präsident Prof. Lothar H. Wieler. 1.1.1/2 RKI

Zeitgenossenschaft

Jeder Einzelne kann zur eigenen Gesundheit beitragen, indem er gesund lebt und sich entsprechend ernährt und bewegt. Der Einfluss der persönlichen Lebensgestaltung ist jedoch paradoxerweise gleichzeitig so wesentlich wie begrenzt.

Die WHO informiert:

„Ein Fünftel aller Todesfälle in der Europäischen Region, insbesondere infolge von Herz-Kreislauf-, Atemwegs- und Krebserkrankungen, ist auf Umwelteinflüsse wie Luftverschmutzung oder chemische und physikalische Agenzien zurückzuführen.“ 1.1.1/3 WHO

Wer an Asthma leidet, wird jedoch selbst mit den besten Rechtsanwälten die Verursacher von Feinstaub kaum in Regress nehmen können. Wer mit hormonwirksamen Weichmachern belastet wurde, wird kaum nachweisen können, durch welche konkreten Materialien dies geschah. Wenn Pestizide im Organismus nachweisbar sind, kann schwerlich der Bauer belangt werden, der diese verwendet hat und auch die Hersteller berufen sich darauf, dass die Kausalität nicht zweifelsfrei nachzuweisen sei. Auseinandersetzungen vor Gericht gehen oft über Jahre.


Der Geschädigte muss nachweisen, wodurch und von wem er geschädigt wurde, während Hersteller nicht zwingend die Unschädlichkeit ihrer Produkte nachweisen müssen.Wir leben in einer industrialisierten Um- und damit auch mit einer industrialisierten Innenwelt, aber offenbar ist niemand verantwortlich für Schäden an Menschen, Tieren und Pflanzen, die durch unseren gemeinsamen Lebensraum entstehen.

Syndemie

Richard Horton ist Chefredakteur der international renommierten Wissenschaftszeitschrift The Lancet. Mit der provozierenden Überschrift COVID-19 is not a pandemic/auf Deutsch COVID-19 ist keine Pandemie machte er im September 2020 darauf aufmerksam, dass die derzeitige Corona-Pandemie einen grundsätzlich anderen Charakter habe als die Seuchen vergangener Jahrhunderte. Horton bezeichnet die Pandemie deshalb als „Syndemie“. Dieser Begriff geht auf Merrill Singer zurück und umfasst biologische und soziale Wechselwirkungen, die für Prognosen, für die Behandlung und für die Gesundheitspolitik wichtig sind.


Die Infektionskrankheit COVID-19 trifft auf Epidemien ohne Infektion – die nichtübertragbaren Zivilisationserkrankungen.

Aktuelle Studien zeigen, dass schwere COVID-19-Krankheitsverläufe mit vier Vorerkrankungen zusammenhängen: Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes und Herzinsuffizienz. 1.1.1/4 O’Hearn et al. Weitere Studien zeigen, dass Umweltbelastungen wie Feinstaub und prekäre Wohn- und Arbeits-Verhältnisse Effekte auf den Verlauf der COVID-19-Erkrankung zeigen.

Richard Horton erklärt:

„Im Fall von COVID-19 ist die Bekämpfung von NCDs eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Eindämmung. [...] Die Bekämpfung von COVID-19 bedeutet, sich mit Bluthochdruck, Fettleibigkeit, Diabetes, Herz-Kreislauf- und chronischen Atemwegserkrankungen sowie Krebs zu befassen. [...]

Solange Regierungen keine Strategien und Programme entwickeln, um tiefgreifende Ungleichheiten umzukehren, werden unsere Gesellschaften niemals wirklich COVID-19-sicher sein.“ [...] Die Betrachtung von COVID-19 als Syndrom wird zu einer größeren Vision einladen, die Bildung, Beschäftigung, Wohnen, Ernährung und Umwelt umfasst. COVID-19 nur als Pandemie zu betrachten, schließt eine solche breitere, aber notwendige Perspektive aus.“ [Ü.d.A.] 1.1.1/5 The Lancet


⇒ Weitere InformationenDie Gesundheitsstudie NAKODie NAKO Gesundheitsstudie ist die derzeit größte bevölkerungsbasierte, multizentrische Langzeitstudie in Deutschland. 1.1.1/6 NAKO

NCDs in Europa

Für die Jahre 2012–2016 wurde im Jahr 2006 eine Europäische Strategie zur Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten von der WHO verabschiedet. Der Aktionsplan zur Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten in der Europäischen Region der WHO ist die Fortschreibung und Überarbeitung für die Jahre 2016–2025.


Abb. 1.1.1/1 Gründe für Todesfälle 2015

Das Umweltbundesamt informiert:

„Die Lancet-Kommission zum Thema „pollution and health“ stützt sich auf Daten unterschiedlicher Institute und konstatiert für das Jahr 2015, dass weltweit circa neun Millionen Todesfälle auf Umweltverschmutzung zurückzuführen sind. Allein 4,2 Millionen Todesfälle werden global den Auswirkungen von Feinstaub in der Umgebungsluft zugeschrieben, was die große Bedeutung dieses Risikofaktors für die Gesundheit veranschaulicht. Damit ist Feinstaub in Bezug auf Mortalität einer der wichtigsten Risikofaktoren. Im Vergleich dazu können ernährungsbezogenen Risikofaktoren jährlich weltweit circa 12,1 Millionen, Bluthochdruck 10,7 Millionen, Adipositas 4,0 Millionen, Alkoholmissbrauch 2,3 Millionen und Verkehrsunfällen 1,4 Millionen Todesfälle zugeschrieben werden.“ [Quellenhinweise im Original] 1.1.1/7 UMID

Kapitel 2 Der Begriff „Multisystem-Erkrankung“

In Kapitel 1 haben wir uns einen Einblick verschafft über Zivilisations-, bzw. über Nichtübertragbare Erkrankungen. Doch was verstehen wir unter multisystemischen Erkrankungen? Zunächst wenden wir uns den Multisymptom-Erkrankungen zu, um dann zu einer ersten Annäherung an den Begriff „Multisystem-Erkrankung“ zu kommen.

2.1 Multisymptom-Erkrankungen

Der Begriff „Chronische Multisymptom Erkrankung“ wurde 1998 erstmals als „chronic multisymptom illness“ eingeführt, um chronische unerklärliche Symptome der Air Force Veteranen des Golf Krieges von 1991 zu benennen. 2.1/1 Fukuda et al. Die aus dem Golfkrieg 1991 zurückgekehrten Veteranen wiesen eine solche Fülle an Symptomen auf, dass sie nicht in die bestehenden Klassifikationen einzuordnen waren. Sie litten unter massiver Erschöpfung und Müdigkeit (fachsprachlich Fatigue), Störungen des Nervensystems, des Atemsystems, chronischen muskulären Störungen, Magen-Darm-Störungen, kognitiven und emotionalen Auffälligkeiten (z. B. Apathie, geringe Stresstoleranz-Grenze und/oder Überreizung) sowie unter Schlafstörungen. Diese Symptome traten innerhalb der Rückkehrer individuell sehr unterschiedlich auf, so dass kein einheitliches Symptombild zu erkennen war.

Unter anderen Begriffen war dieses Phänomen auch schon bei Militärpersonal in Einsätzen vor dem Golfkrieg beschrieben worden. Die Golfkrieg-Veteranen schienen aber in besonders schwerem Ausmaß betroffen zu sein.

Medizinisch unerklärliche Symptome

Ein Komitee des Institute of Medicine/IOM (Washington, USA) veröffentlichte 2013 eine Publikation, die sich mit „Chronischen Multisymptom-Erkrankungen“ befasste und Behandlungs-Optionen untersuchte. Das IOM-Komitee betonte, dass die für die Golfkriegs-Veteranen beschriebenen Symptome nicht nur bei dieser Gruppe zu finden waren, sondern auch in der zivilen Bevölkerung weite Verbreitung zeigten. Für vergleichbare Erkrankungen im zivilen Bereich wurden Begriffe wie “Medically unexplained (physical) symptoms/MU(P)S”, auf Deutsch: „Medizinisch unerklärbare (körperliche) Symptome“ oder „Funktionelle somatische Störung“ verwendet.


Diese “Medically unexplained (physical) symptoms/MU(P)S” ließen sich weder bei den definierten psychischen Erkrankungen einordnen noch als organische Erkrankungen im klassischen Sinne. [Ü.d.A.] 2.1/2 Burton

Mediziner vermuteten, dass diese Art von Erkrankung multifaktoriell verursacht sei und physiologische, psychologische und soziale Faktoren einschließe. Eine niederländische Studie, die 2009 veröffentlicht wurde, zeigte, dass nahezu 60 % der Patienten, die unter „unerklärbaren Symptomen“ litten, auch nach zwölf Monaten noch keine Diagnose erhalten hatten. 2.1/3 Koch et al. Um dieser rätselhaften Erkrankung anhand einer Falldefinition näherzukommen, verfasste das IOM-Komitee eine Definition für Multisymptom-Erkrankungen. Die englischsprachige Abkürzung lautet „CMI“ für Chronic Multisymptom Illness. Diese Abkürzung wird in anderen Veröffentlichungen auch für „chronic multisystem illness“ verwendet.

Definition des US-amerikanischen IOM-Komitees für Chronische Multisymptom-Erkrankungen/CMI (2013)

„CMI ist ein komplexer, uneinheitlicher Zustand, und seine Falldefinition kann sich ändern, wenn neue wissenschaftliche Informationen auftauchen. Für die Zwecke dieses Berichts hat der Ausschuss CMI wie folgt definiert:

Das Vorhandensein eines Spektrums chronischer Symptome, die in mindestens zwei von sechs Kategorien – Müdigkeit, Stimmung und Kognition, Muskel-Skelett, Magen-Darm, Atmung und Neurologie – auftreten, die mit bekannten Syndromen (wie Reizdarm, CFS und Fibromyalgie) oder anderen Diagnosen überlappen können, aber nicht vollständig erfasst werden.

Es ist wichtig zu beachten, dass die Definition des Ausschusses keine Syndrome mit genau definierten diagnostischen Kriterien wie Reizdarm, CFS und Fibromyalgie umfasst. Aufgrund der gemeinsamen Symptome können jedoch wirksame Therapien für diese definierten Syndrome für Patienten mit CMI von Vorteil sein.“ [Ü.d.A.] 2.1/4 IOM

2.2 Erworbene Multisystem-Erkrankungen

Multisymptom- oder Multisystem-Erkrankung?


Während für „chronic multisymptom illness“ eine erste, weit gefasste Definition vorliegt, scheint es für den Begriff „Multisystem-Erkrankung“ keine ausgearbeitete einheitliche Definition zu geben. Je nach Quelle werden sehr unterschiedliche Erkrankungen unter diesem Begriff subsummiert.

Die medizinische Herausforderung unserer Zeit

Bei Erworbenen multisystemischen (Komplex-)Erkrankungen scheinen alle Faktoren variabel, uneinheitlich und kaum greifbar zu sein: Die Symptome, der Verlauf, die Schwere, die Auslöser und die Ursachen. Betroffene leiden unter zahlreichen, meist unspezifischen und oft kaum lokalisierbaren Beschwerden. In Studien werden bis zu 200 unterschiedliche Symptome aufgezählt. Diese organübergreifenden „Ganzkörper“-Phänomene, die auf regulativen Störungen beruhen, werden als „systemisch“ bezeichnet. Als organübergreifende Ganzkörper-Erkrankungen erfüllen sie weder die Kriterien der Organpathologie im klassischen Sinn noch die der klassischen Infektionskrankheiten. Die Patientengruppen sind selbst bei gleicher Diagnose sehr heterogen.

Sie lassen sich auch nicht, das ist wichtig, als Primäre Psychische und Psychiatrische Erkrankungen klassifizieren. (Für PTBS lesen Sie bitte Kapitel 11).


EmKE sind multikausal begründetEs gibt nicht die eine Ursache, sondern stets mehrere (Summenbelastung). Dabei spielen biologische, chemische, physikalische und psychosoziale Belastungen eine jeweils individuell zu gewichtende Rolle. Stoffliche (z.B. Viren, Umweltschadstoffe) und nichtstoffliche (z.B. elektromagnetische) Reize interagieren synergistisch und ziehen biochemisch ähnliche Reaktionskaskaden nach sich.
EmKE betreffen multiple Regulations-SystemeDurch quantitativ und qualitativ unüberschaubare Einflüsse werden die regulierenden Abläufe im Immun-, Hormon- und Nervensystem extrem herausgefordert. Dadurch entstehen einmalige, individuelle Kombinationen von multisystemischen Fehlsteuerungen. Auch die Psyche wird in Mitleidenschaft gezogen.
EmKE betreffen multiple Organe in ihrer FunktionsfähigkeitDie Fehlsteuerungen betreffen den ganzen Organismus. Sie haben funktionelle Auswirkungen auf mehrere Gewebe, Strukturen und Organe. Sie führen zu meist unspezifischen Symptomen. Patienten beschreiben typischerweise, dass die Beschwerden „überall und nirgends“ auftreten.
EmKE zeigen multiple SymptomeBei den drei EmKE werden jeweils spezifische Leitsymptome beschrieben. Typischerweise treten zugleich zahlreiche unspezifische Symptome auf – die häufigsten sind Schmerzen und Fatigue.
EmKE bedürfen einer multimodalen Diagnostik und TherapieErkrankungen, die aus so vielen Variablen entstehen sind „einzigartig“. Kein Patient ist identisch mit einem anderen, auch wenn es bei den EmKE grobe Gemeinsamkeiten gibt, die als Symptom-Komplexe zusammengefasst werden. Der multisystemisch erkrankte Patient benötigt die personalisierte, interdisziplinäre Diagnostik und Behandlung.

Abb. 2.2/1 Die „Multis“ der EmKE

COVID-19


Mit dem Post-COVID-19-Syndrom (Spätfolgen einer COVID-19-Infektion) entsteht vor unseren Augen gerade ein Paradebeispiel einer neuen multisystemischen Komplex-Erkrankung.

Auch hier zeigen die üblichen Standard-Untersuchungen keine Befunde. Betroffene erleben und erleiden die typischen Merkmale, bzw. Hindernisse wie andere multisystemisch komplex Erkrankte, z. B. die Verharmlosung der Symptome, Stigmatisierung (trotz erwiesen COVID-19-Infektion), keine Anlauf- und Beratungsstellen, fehlende Therapieangebote, soziale Isolation und sozialrechtliche Minderversorgung. In Kapitel 10 wird die COVID-19 Erkrankung und das Post-COVID-Syndrom (PCS) beschrieben.

Ein hochaktuelles Thema

In Fachpublikationen wird zunehmend von multisystemischen Erkrankungen oder Beschwerden berichtet. Die Datenbank PubMed® zeigt die erste Publikation für den Suchbegriff „multisystem“ für das Jahr 1958. Es dauerte 54 Jahre, bis die Zahl der Publikationen 2012 vierstellig wurde (1.013 Publikationen). 2020 verzeichnet PubMed® einen sprunghaften Anstieg mit einer Verdoppelung der Publikationen von 1.404 im Jahr 2019 auf 2.214. Am 10.5.2021 hat die Zahl der Publikationen schon fast den Stand des Jahres 2019 eingeholt.

In Zusammenhang mit COVID-19 Erkrankungen wird beispielsweise die Bezeichnung „Multisystem Inflammatory Syndrome in Children“ verwendet. Seit Juni 2020 gibt es mehrere Berichte über ein ähnliches multisystemisches Entzündungssyndrom bei Erwachsenen, das als „Multisystem Inflammatory Syndrome in adults“ bezeichnet wird.

2.2.1 Erworbene Multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE

Multisystem-Erkrankungen

In der Fachliteratur und in wissenschaftlichen Datenbanken wie PubMed® wird der Begriff „Multisystemische Erkrankung“ je nach Autor enger oder weiter gefasst verwendet, er kann z. B. alle (Zivilisations-)Erkrankungen einschließen oder sich auf einzelne Erkrankungen (z. B. Sarkaidose) beziehen.

Multisystem-Erkrankungen nach Prof. Pall

Im vorliegenden Buch geht es um sehr komplexe, erworbene Multisystem-Erkrankungen, die unter dem Einfluss der Industrialisierung zunehmen. Der renommierte US-amerikanische Wissenschaftler Prof. Martin L. Pall, emeritierter Professor für Biochemie und Grundlagenwissenschaften der Medizin an der Washington State University, beschreibt in seinem 2007 erschienenen Buch mehrere Ausprägungen multisystemischer Erkrankungen. Der Titel des Buches lautet: Explaining ‘Unexplained Illnesses’: Disease Paradigm for Chronic Fatigue Syndrome, Multiple Chemical Sensitivity, Fibromyalgia, Post-Traumatic Stress Disorder, and Gulf War Syndrome and Others. 2.2.1/1 Pall Es erschien bisher nur in englischer Sprache. Auf Deutsch lautet der Titel: Die Erklärung „unerklärter Krankheiten“. Ein Krankheitsparadigma für das Chronische Erschöpfungssyndrom, Multiple Chemikalienempfindlichkeit, Fibromyalgie, Posttraumatische Belastungsstörung, das Golfkriegssyndrom und weitere.

Prof. Martin L. Pall beschreibt insbesondere folgende weit verbreitete, aber selten korrekt diagnostizierte Krankheitsbilder:

Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Erschöpfungs-Syndrom/ME/CFS

mit den Merkmalen: Vitalitätsverlust und ausgeprägter Regenerationsbedarf, selbst nach scheinbar wenig anstrengenden Tätigkeiten (PEM, bzw. PENE). } Siehe Kapitel 7

Fibromyalgie-Syndrom/FMS

Leitsymptome sind: Schmerzen, Schlafstörungen und Erschöpfungsneigung. } Siehe Kapitel 8

1 531,18 ₽
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878 стр. 48 иллюстраций
ISBN:
9783754949412
Издатель:
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