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2.3 Wie entstehen Deutungsmuster?

Nach Arnold (1985) (siehe ebenso Oevermann 1973) entwickeln sich Deutungsmuster im Lebenslauf prozesshaft, wobei dieser Prozesscharakter durch vier Elemente näher gekennzeichnet wird:

„Durch die gesellschaftliche Vermitteltheit, die Nachhaltigkeit früherer Erfahrungen, die Kontinuität und die relative Flexibilität von Deutungsmustern“ (ebenda, S. 63).

Deutungsmuster werden durch die Gesellschaft vermittelt. Dazu gehören die Familie, die gesellschaftlichen Institutionen und – im Zusammenhang mit der Fragestellung der Arbeit – das jeweilige Unternehmen, die Behörde oder das sonstige Arbeitsumfeld. Darüber hinaus werden die Deutungsmuster maßgeblich von früheren Erfahrungen geprägt. Dabei können kognitiv und bewusst wahrnehmbare Deutungsmuster von latenten und emotionalen Deutungsmustern (zu den emotionalen Deutungsmustern siehe Kapitel 4) unterschieden werden. Erstere verfügen über eine gewisse Flexibilität, während letztere eher festliegen (vgl. neuere neurobiologische Erkenntnisse u. a. von Varela 1990):

„Das hierarchische Prinzip dieser Ordnung kommt darin zum Ausdruck, dass es grundlegende bzw. ‚abgelagerte‘ Deutungsmusterkerne gibt, die sich wohl am nachhaltigsten den Veränderungen widersetzen und in ihren wesentlichen Bestandteilen auch eher latent sind. Erwachsene sind selten in der Lage, diese grundlegenden Deutungsmusterkerne ihrer Persönlichkeit selbst zu benennen. (…) Die ‚Nachhaltigkeit‘ (‚das Fortdauern‘) von Deutungsmustern weist allerdings darauf hin, dass die im Lebenslauf früh erworbenen Deutungen, die sog. Basispersönlichkeit besonders stark gegen Veränderungs- und Lernprozesse immunisiert“ (ebenda, S. 65).

Zwar streben die Deutungsmuster nach Kontinuität, stehen jedoch in einer steten Auseinandersetzung mit der Umwelt (wie o. g.) und werden von ihr beeinflusst (vgl. Mayring 1990: Hermeneutische Spirale: Vorverständnis prägt Gegenwartsverständnis, Gegenwartsverständnis prägt Vorverständnis etc.):

„Nach allem was wir wissen, scheint es so zu sein, dass individuelle Deutungsmuster in einem dialektischen Prozess entstehen, indem sich das individuelle Bewusstsein in einer kontinuierlichen und immer wiederkehrenden Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Anforderungen spiralförmig entwickelt. Man kann vermuten, dass im fortschreitenden Lebenslauf, bei fortschreitender Differenziertheit und Reflektiertheit eigener Deutungen die Möglichkeit zur Korrektur und produktiven Weiterentwicklung vorgegebener Orientierungen und Erwartungen zunehmen“ (ebenda, S. 64).

Deutungsmuster, besonders die latent vorhandenen und emotional festgeschriebenen, sind gewissermaßen immunisiert, jedoch sind eine Korrektur und eine produktive Weiterentwicklung möglich. Diese produktive Weiterentwicklung ist nach Arnold (1985) von einer selbstreflexiven Kompetenz abhängig. D. h. je mehr ein Mensch willens und fähig ist, seine eigenen Deutungsmuster kritisch zu hinterfragen, desto größer ist die Chance der Weiterentwicklung. (Genau an diesem Punkt setzt diese Arbeit an: das Konzept des emotional-archetypischen Deutungslernens soll dazu dienen, den Erwachsenenpädagogen selbst und die Teilnehmer an einer Maßnahme der Erwachsenenbildung zu befähigen, ihre Deutungsmuster zu hinterfragen, um so ggf. eine Transformation der Bewertung der Situationen zu bewirken.)

Es gibt jedoch auch latente Deutungsmuster, welche quasi gegen Veränderung immunisiert sind, weil sie durch ein sehr kritisches und krisenhaftes Ereignis in unserem Gehirn „eingebrannt“ sind.

Im Hinblick auf die Veränderung von Deutungsmustern stellt sich also die Frage, inwiefern die Deutungsmuster von einem Menschen selbst erkannt werden (können) und mit welcher Intensität diese festgeschrieben wurden. Es muss also im Hinblick auf das Potential für Veränderungen der Deutungsmuster gefragt werden: „Basiert die jeweilige Deutung z. B. auf einem kritischen, krisenhaften und fatalen Erlebnis in der Kindheit oder wurde das Deutungsmuster im Verlauf der beruflichen Tätigkeit erst kürzlich entwickelt?“ Neben der Intensität der das Deutungsmuster prägenden Erfahrung ist die Möglichkeit der Reflexion und der Veränderung von Deutungsmustern von der selbstreflexiven Kompetenz abhängig, d. h. von dem Willen und der Bereitschaft des Einzelnen, die eigenen Deutungen zu hinterfragen und sich ggf. neue Deutungsmuster anzueignen. (Fraglich ist, wie genau diese selbstreflexive Kompetenz sowohl beim Erwachsenenpädagogen als auch beim Teilnehmer gefördert werden kann. Gerade diesbezüglich soll das Konzept des emotional-archetypischen Deutungslernens Aufschlüsse geben.)

Deutungsmuster entwickeln sich biografisch im Lebenslauf durch Erfahrungen, welche auch emotional belegt sind. Neue Deutungsmuster, neue Wissensbestände werden nur dann aufgenommen, wenn sie zu den bisher vorhandenen „kompatibel“ sind, d. h. dort anknüpfen können. Hier kommen wir zu einem weiteren wichtigen Aspekt des Deutungsmusteransatzes: die Merkmale der Deutungsmuster.

2.4 Merkmale von Deutungsmustern

Nach Arnold (1985) verfügen Deutungsmuster (u. a.) über folgende Merkmale:

 Pragmatik (des Alltagswissens)

 Perspektivität (die Umwelt aus der eigenen Perspektive zu interpretieren und sich solche Sichtweisen und Argumente anzueignen, die diese eigene Perspektive bestätigen)

 Plausibilität (Lebensumstände plausibel zu machen)

 Komplexitätsreduktion (die Komplexität des Lebens zu reduzieren)

Deutungsmuster haben den Zweck, erlebte Situationen plausibel zu machen und eine Interpretation der Umwelt aus der subjektiven Perspektive zu ermöglichen. Hier ist der Rückschluss auf den Konstruktivismus erkennbar: Wirklichkeit ist immer nur eine subjektive Interpretation der Umwelt oder der Umstände aus der eigenen Perspektive, welche auf den lebensgeschichtlich entwickelten Deutungsmustern beruht:

„Die umgebende – ‚objektive‘ – Wirklichkeit ist dem einzelnen Menschen demnach nicht an sich zugänglich, sondern immer nur bereits vorinterpretiert auf dem Hintergrund seiner verfügbaren Deutungsmuster und lebensgeschichtlichen Erfahrungen“ (Arnold 1985, S. 29).

Schüßler fasst die Funktionen der Pragmatik des Alltagswissens sowie die Komplexitätsreduktion wie folgt zusammen:

„Menschen deuten ihren Alltag, um sinnhafte Bezüge herzustellen, die ein weiteres Handeln ermöglichen. Das Alltagshandeln ist allerdings darauf gerichtet in der Fülle situativer Lebensvollzüge möglichst rasch eine generelle Orientierung zu finden. Das Subjekt wäre handlungsunfähig, müsste es in jedem Augenblick darüber reflektieren, wie es eine Situation interpretieren und entsprechend handeln könnte. In seinem Bedürfnis nach Komplexitäts- und Problemlösungsreduktion greift es auf Deutungen zurück, über die es aufgrund von sozialen Erfahrung verfügt“ (Schüßler 1998, S. 90).

Alle o. g. Punkte können unter dem Begriff „Viabilität“ (v. Glasersfeld 1992), also „(Über-)Lebensfähigkeit“ zusammengefasst werden.

Werden jedoch die Deutungsmuster infrage gestellt, erfolgt eine Konfrontation (Perturbation, d. h. Störung von außen, welche eine systeminterne Selbstregulation hervorruft) mit neuen Deutungsmustern, oder aber erweisen sich die bisherigen Deutungsmuster als disfunktional (also nicht-viabel), führt dies ggf. zu einer Diskontinuität der Identität, welche wiederum zu einer Identitätskrise führen kann (vgl. Arnold 2003). Hier kann eine Auseinandersetzung mit neuen Deutungsmustern, beispielsweise in einem Beratungsgespräch oder einem Lehr-/​Lernkontext hilfreich sein. Durch das Angebot neuer, adäquaterer Deutungsmuster kann eine biografische Kontinuität wiedergewonnen werden.

Die Veränderung von Deutungsmustern kann durch eine krisenhafte Situation, in der die eigenen Deutungsmuster hinterfragt oder konfrontiert werden, erfolgen. Ein schädigendes Ereignis, hervorgerufen durch ein disfunktionales Deutungsmuster – wie z. B. ein Unglück oder ein Überfall – könnte zu solch einer Veränderung/​Transformation der Deutungsmuster führen. Eine weniger dramatische Möglichkeit der Deutungsmustertransformation ist die der kommunikativen Vermittlung von Deutungsmustern. Nach Arnold (2003) geht es bei der Kommunikation von neuen Deutungsmustern – beispielsweise in einem Beratungsgespräch oder in einem Lehr-/​Lernkontext – niemals darum, diese Deutungsmuster im Sinne von normativen Lebensentwürfen „überzustülpen“, sondern die selbstwirksamen Kräfte zu mobilisieren (vgl. auch Vester 1988), um die eigenen Deutungsmuster zu reflektieren und sich ggf. neue Deutungsmuster anzueignen, die die jeweilige Situation plausibel machen und neue Perspektiven anbieten.

Wenn wir an dieser Stelle auf das Belastungs-Beanspruchungs-Modell zurückgreifen, würde dies bedeuten, dass psychische und körperliche Beeinträchtigungen und Erkrankungen auf dysfunktionale Deutungsmuster zurückgeführt werden können. Die kognitive Bewertung einer Situation oder seiner selbst beruht auf den Deutungsmustern. Ist es nicht möglich, aufgrund der vorhandenen Deutungsmuster eine psychische Belastung zu bewältigen, kann dies zu einer psychischen Beeinträchtigung wie z. B. Stress oder Ermüdung führen. Besonders belastende Ereignisse wie Krisen oder andere können jedoch auch die Chance beinhalten, die sich als dysfunktional erwiesenen Deutungsmuster zu transformieren.

3 Theoretischer Ausgangspunkt II:
Vom Deutungsmusteransatz zum Konzept des Deutungslernens von Schüßler

Noch einmal zurückgreifend auf die Erläuterungen Oevermanns stehen Deutungsmuster immer in einem engen Zusammenhang mit zwischenmenschlicher Interaktion und Kommunikation:

„Soziale Deutungsmuster sind intersubjektiv kommunizierbare und verbindliche Antworten auf objektive Probleme des Handelns“ (Oevermann 1973, S. 12).

Auch nach Arnold und Schüßler sind Deutungsmuster ein Produkt lebenslanger, zwischenmenschlicher Interaktion und Kommunikation, sie werden durch die Sozialisation in sozialen Gruppen „tradiert“ und im Verlauf des Lebens in Interaktionen auf „Viabilität“ geprüft:

„In Interaktionen werden diese Interpretationen hinsichtlich ihrer inneren Stimmigkeit und Funktionalität überprüft und zu Deutungsmustern generiert, die durch ihren kollektiven Sinngehalt Verständigung ermöglichen“ (Schüßler 1998, S. 90).

Die Interaktion wird somit zu einer Interpretation des Selbst, des Gegenübers, der Umwelt sowie einer Reflexion dieser Interpretation. Schüßler bezeichnet die Interaktion als einen „interpretativen Prozess“ (ebenda, S. 90), in dem die Interagierenden wechselseitig die Handlungen und Aussagen interpretieren und diese Interpretationen den jeweils nächsten Handlungsschritt bestimmen. Diese Interaktions- und Interpretationsleistung auf der Grundlage der Deutungsmuster konstituiert erst die soziale Wirklichkeit. Dieser interpretative Prozess vollzieht sich nach Schüßler jedoch grundsätzlich in jeder Alltagssituation und wird gerade hierin selten bewusst erlebt, sondern vollzieht sich automatisch. Diese automatische und unbewusste Interpretation führt dann dazu, dass die Wirklichkeit als gegeben und unveränderbar und nicht etwa als Konstrukt wahrgenommen wird.

Dieser interpretative Prozess nach Schüßler – oder anders: dieses interpretative Paradigma (Interaktions- und Interpretationsleistungen konstituieren die soziale Wirklichkeit und sind in veränderten Handlungskontexten selbst einer Überarbeitung unterworfen) – basiert auf den drei Prämissen des symbolischen Interaktionismus von Blumer (1973), welche hier frei wiedergegeben werden sollen:

1 Menschen handeln gegenüber Dingen auf der Grundlage der Bedeutungen, welche sie für diese Dinge haben.

2 Die Bedeutung solcher Dinge entsteht aus der sozialen Interaktion mit Mitmenschen oder wird von ihr abgeleitet.

3 Bedeutungen werden in einem interpretativen Prozess (in der Auseinandersetzung mit der Umwelt) benutzt, gehandhabt und geändert (vgl. Blumer 1973, S. 81).

Hieran wird erkennbar, dass diese als Deutungsmuster, Deutung oder Bedeutung bezeichneten präexistenten Strukturen immer durch Interaktion entstehen und durch Interaktion weiterentwickelt werden. Gerade hier setzt das Konzept des Deutungslernens an. Bei einem Lehr/​Lernkontext handelt es sich um eine Interaktion, also wird auch ein Lehr-/​Lernkontext von den Deutungen bestimmt, die alle Beteiligten an der Interaktion besitzen. D. h. auch in einem Lehr-/​Lernkontext wird sowohl der Lehrende als auch der Lernende das Gegenüber, den Lehrinhalt sowie den Lernkontext interpretieren und somit die „Lehr-/​Lernwirklichkeit“ mitkonstruieren. Schüßler (1998, S. 91) fasst diesen Interpretationsprozess im Lehr-/​Lernkontext wie folgt zusammen:

„Für den Lernprozess heißt das, dass der Lehrende und die Lernenden erst durch zirkuläre Kommunikations- und Interaktionsprozesse die Wirklichkeit im Lehr-/​Lern-Prozess entwerfen und mithin – wenn auch unbewusst – das beeinflussen, was gelernt wird.“

Abbildung 3:

Deutungen im Interaktionsprozess

Abbildung 3 verdeutlicht diesen Interaktionsprozess: Die Pfeile stellen die jeweilige Interpretation/​Deutung dar. Der Lernende interpretiert den Lehrinhalt, den Lehrenden sowie den Lernkontext auf der Grundlage seiner vorhandenen Deutungsmuster. Gleiches gilt für den Lehrenden. Somit wird der Lehr-/​Lernprozess zu einem zirkulären Interaktions- und Interpretationsprozess, zu einer sozialen Konstruktion der Wirklichkeit.

3.1 Die drei Dimensionen des Deutungslernens nach Schüßler

Schüßler (1998, S. 91) schlüsselt diesen Lehr-/​Lernkontext in drei Dimensionen auf, in denen dieser Deutungsprozess gerade im Kontext der Erwachsenenbildung eine große Rolle spielt:

1. Dimension: Didaktische Planung

 Der Lehrende entwirft auf der Grundlage seiner Deutungsmuster ein Bild der zukünftigen Teilnehmer.

 Im Erstkontakt wird das Handeln nach diesem Bild ausgerichtet.

 Das Erlebte im Seminar wird nach Stimmigkeit und Plausibilität mit den Deutungsmustern abgeglichen und findet Bestätigung.

 Diese Deutungen bestimmen die weitere didaktische Planung und schaffen soziale Sachverhalte, welche wiederum Grundlage weiterer Interpretations- und Handlungsentscheidungen sind.

 Die auf den Deutungsmustern des Lehrenden basierenden Plausibilitätskriterien entscheiden darüber, welche Inhalte angeboten und in welcher Form präsentiert werden.

In Bezug auf die Dimension „Didaktische Planung“ stellt das Konzept des Deutungslernens die Prämisse auf, dass das Lernen davon abhängt, „inwieweit in der didaktischen Planung dem interpretativen Charakter von Lehr-Lernvorgängen Rechnung getragen wird“ (Schüßler 1998, S. 93).

2. Dimension: Prozessgeschehen

 Teilnehmer bringen bestimmte lebensgeschichtliche Wertvorstellungen, Handlungsorientierungen und Interpretationsmuster (Deutungsmuster) in den Lehr-/​Lernprozess mit ein. Diese Deutungsmuster werden bei der Verarbeitung des Seminars aktiviert.

 Auch der Lehrende verfügt sowohl über biografisch als auch professionell erworbene Deutungsmuster, welche sein pädagogisches Handeln prägen und Interventionen bestimmen. Da eine spontane Reflexion des Prozessgeschehens nicht möglich ist, greift der Lehrende im Interaktionsprozess auf routinierte Interpretations- und Handlungsmuster seiner Alltagssituation zurück.

 Der Lehrende legt seinem Handeln eine bestimmte Intention zugrunde. Somit ordnet er bestimmten Lerninhalten, Teilnehmeräußerungen sowie dem didaktisch-methodischen Setting eine bestimmte Bedeutung zu.

 Die Lernsituation kann für die Teilnehmer eine gänzlich andere Bedeutung haben.

 Die unterschiedlichen Sichtweisen und Deutungsmuster bringen die Akteure über die Kommunikation und Interaktion in den Lernprozess mit ein.

In Bezug auf die Dimension „Prozessgeschehen“ stellt das Konzept des Deutungslernens die Prämisse auf, dass Lernen davon abhängt, „inwieweit es im Lehr-/​Lernprozess gelingt, an die Deutungsmuster der Lernenden anzuknüpfen“ (Schüßler 1998, S. 93).

3. Dimension: Lernmotivation & Lernfähigkeit

 Die Motivation für die Suche nach neuen/​alternativen Deutungsmustern kann dann aufkommen, wenn sich vertraute Deutungsmuster aufgrund veränderter Umweltverhältnisse als nicht mehr situationsgerecht erweisen.

 Sowohl im Alltag als auch in institutionalisierten Lernangeboten wird nach Kommunikationsmöglichkeiten gesucht, um neue (viable) Deutungsmöglichkeiten zur privaten oder beruflichen Alltagsbewältigung aufzuspüren oder aber sich des eigenen Deutungsmustersystems zu vergewissern.

 Der Lernprozess ist somit nicht allein von den Deutungsmustern der Beteiligten beeinflusst, sondern auch von dem Bedürfnis der Lernenden, die eigenen Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten aufrechtzuerhalten bzw. weiterzuentwickeln.

 Die Lernmotivation und die -fähigkeiten hängen davon ab, ob der Lernende bereit ist, sich auf eine mögliche Konfrontation mit neuen Deutungsmustern einzulassen, oder aber ob er sein Deutungssystem gegen äußere Einflüsse immunisiert.

In Bezug auf die Dimension „Lernmotiviation und Lernfähigkeit“ stellt das Konzept des Deutungslernens die Prämisse auf, dass „Lernen davon abhängt, inwieweit die Lernenden bereit und in der Lage sind, sich auf Verunsicherungen des eigenen Deutungssystems einzulassen“ (Schüßler 1998, S. 93).

3.2 Das Deutungslernen in Lehr-/​Lernprozessen

An dieser Stelle soll anschließend auf die Aufgaben der Erwachsenenbildung im Zusammenhang mit dem Deutungsprozess hingewiesen werden. Nach Tietgens (1992, S. 19) ist es die Aufgabe der Erwachsenenbildung, „Vermittlungsversuche einzuleiten bzw. zu unterstützen, die zu Offenheit und zu Differenzierung von Deutungsmustern führen“. D. h. die Erwachsenenbildung hat nicht die Aufgabe, anderen die eigenen Deutungsmuster aufzuzwängen, sondern den Lernenden lediglich dabei zu unterstützen, die eigenen Deutungsmuster zu erkennen, offen mit ihnen umzugehen und ggf. neue oder alternative Deutungsmuster anzubieten. Im Gegensatz zu der klassischen Vermittlung von Wissen und der Weitergabe von neuen Wissenstatbeständen geht es in einer am Deutungsprozess orientierten Erwachsenenbildung um „ein Bemühen um die Kommunikation von Bedeutungssystemen“ (Tietgens 1992, S. 10). Es werden also keine Lösungen (vgl. Arnold 1985) „rezeptologisch übergestülpt“, sondern lediglich als Alternative angeboten. Frederic Vester spricht in diesem Kontext von dem sogenannten „Jui-Jutsu-Prinzip“, „dem die Absicht zugrunde liegt, die Selbstorganisationskräfte des Systems nicht mit Gegenkräften in eine bestimmte Richtung zu zwingen, sondern vielmehr die Systemkräfte selbst für sich zu nutzen“ (Vester 1988, S. 82). Mezirow spricht hierbei gar von dem Ziel der Erwachsenenbildung, sich durch Reflexion und Kritik in einem diskursiven Prozess den verfälschten oder unvollständigen Bedeutungsperspektiven bewusst zu werden und diese zu transformieren: „A transformation theory of adult learning would have as its central focus understanding the nature of these meaning perspectives and how they can be changed to allow exciting new possibilities for realizing meaning and value“ (Mezirow 1990, S. 15).

Erwachsenenbildung als Deutungsprozess wird somit zu einer Prozessbegleitung auf dem Weg zu einer möglichen Transformation des Deutungsmusterhorizontes. Um mit den Worten von Arnold (1995) zu sprechen, wird bei dem erwachsenen Lerner somit kein Wissen erzeugt, sondern das Anknüpfen an neue Deutungsmuster ermöglicht („Ermöglichungsdidaktik“).

3.3 Didaktische Ansätze für das Deutungslernen

Schüßler fasst didaktische Ansätze für eine Erwachsenenbildung, die im Zusammenhang mit dem Deutungsprozess – also dem Deutungslernen – stehen, zusammen, die hier punktiert dargestellt werden sollen (vgl. Schüßler 1998, S. 110):

 Im Lehr-/​Lernkontext muss ein Erfahrungsaustausch als Lernprozess mit den Teilnehmern selbst gestaltet werden (nicht nur für die Bestätigung der Dozentenaussagen). Deutungen und Sichtweisen sollen dadurch rekonstruiert und einsichtig werden.

 Der Lehrende unterstützt die Lernenden u. a. mithilfe wissenschaftlichen Wissens darin, zu einer Selbstaufklärung ihrer eigenen Alltagswissensbestände zu gelangen.

 Nicht der Lehrende entscheidet über Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit eines Deutungsmusters, sondern die Lernsituation regt zur Überprüfung der eigenen Sichtweisen an, indem die Kriterien der Deutungen infrage gestellt und kritisch diskutiert werden.

 Der Lehrende kann diesen Reflexionsprozess mit wissenschaftlichen Mitteln unterstützen und weitere Reflexionsimpulse durch anregendes Lernmaterial setzen.

 Bei dem Lernenden jedoch liegt die Entscheidung darüber, was gelernt wird und wie eigene Deutungsmuster weiterentwickelt werden.

 Deutungslernen stellt eine „Animation für ein Probedenken“ dar, denn die eigentliche Transformation erfolgt erst nach einer Überprüfung der Sichtweisen in alltäglichen Interaktionen (vgl. Siebert 1996, S. 113).

 Dem Erwachsenen muss ermöglicht werden, eigene Lernproblematiken zu entwickeln, an denen er arbeiten kann – dies mit Unterstützung des Lehrenden und anderen Lernenden. D. h. der Erwachsene lernt nur, wenn er für sich selbst ein Problem erkannt hat, welches er unter den gegebenen Umständen nicht lösen kann, sondern nur dadurch, dass er eine „Lernschleife“ dazwischenschaltet (vgl. Holzkamp 1996).

 Sind die Probleme erkannt und biografisch eingeordnet („biografisch synthetisiert“), ist es Aufgabe des Pädagogen, den Lernenden darin zu unterstützen, Übersicht und (ggf. emotionale) Distanz zu seinen Problemen zu schaffen.

 Dies kann z. B. durch das Angebot wissenschaftlicher Deutungsangebote oder durch die Einbindung („Verschränkung“) von Erfahrungsschilderungen anderer Teilnehmer und deren alternativen Situationsdeutungen und Lösungsalternativen erfolgen.

Der letzte Punkt lässt sich mit folgenden Worten zusammenfassen: Es geht darum, dem Teilnehmer zu helfen, seine eigene Situation durch eine neue „Brille“ – vielleicht die Brille eines anderen Teilnehmers – zu sehen, um dadurch einen Perspektivwechsel zu ermöglichen.

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22 декабря 2023
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420 стр. 35 иллюстраций
ISBN:
9783942064088
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