Читать книгу: «Wind über der Prärie», страница 4

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Hubert antwortete nichts darauf, sondern richtete seinen Blick stur auf den Boden vor seinen Füßen. Nun gut, es war offensichtlich, dass Doktor Retzner Interesse an Juliane zeigte. Kein Wunder, dachte er, sie ist eine reizende, junge Dame geworden, richtig erwachsen.

Dass sie ihn nicht liebte, höchstens bewunderte und verehrte, konnte Hubert allerdings nicht entgehen. Dazu war er zu sensibel und feinfühlig und dafür kannte er seine Schwester auch zu gut. Er bezweifelte nicht, dass sie sich erfolgreich weigern würde, sollte Friedrich auf den Gedanken kommen, sie – erstmal in Oregon, Kalifornien oder wo auch immer angelangt – mit dem Österreicher verheiraten zu wollen. Sie war doch noch so jung und Hardy Retzner fast doppelt so alt! Hubert seufzte leise. Nein, das Leben war weiß Gott nicht einfach, zumindest nicht für ein Mädchen. Ein Mann konnte sich aussuchen, welche Frau er haben wollte, zu ihren Eltern gehen und um ihre Hand anhalten und wenn die Eltern ihn als gut genug empfanden, gaben sie ihre Tochter frei. Wie ein Stück Vieh, schoss es Hubert durch den Kopf und ein Schauer jagte über seinen Rücken, genau wie eine Kuh oder ein Pferd. Dann wird sie an denjenigen weitergereicht, den ihre Eltern als den Besten betrachten, der sie haben möchte.

Noch am selben Abend, bei Dämmerung und einem kalten, schneidenden Frühjahrswind erreichten sie St. Louis, eine der westlichsten Städte, die noch als zivilisiert bezeichnet werden konnten. Sie überquerten den Mississippi an einer flachen Stelle und ohne, dass einer der Wagen umkippte, obwohl die Zugtiere erschöpft und müde waren und der Wasserpegel aufgrund der Schneeschmelze eine ordentliche Höhe aufwies.

„Jetzt, mein Junge“, sagte Friedrich und Stolz schwang in seiner Stimme mit. „Jetzt haben wir den Osten hinter uns gelassen und nur noch der endlose, weite Westen wartet auf uns!“

Ein Engländer mittleren Alters, der die Strecke schon einmal gefahren war, es sich dann anders überlegt hatte und wieder nach New York zurückgekehrt war, um es jetzt noch einmal zu versuchen, führte sie ein Stück außerhalb der ersten Häuser der stetig wachsenden, für die Verhältnisse ausgesprochen modernen Stadt, zu einer abgeschiedenen Wiese. Dort standen, wild durcheinander und scheinbar ohne Anordnung, bereits unzählige Planwagen von anderen Trecks und dazwischen erhoben sich mindestens ebenso viele Zelte. Das einzige Gebäude in der sichtbaren Umgebung war eine mächtige Scheune.

„Wie?“, sagte Luise fassungslos. „Sollen wir etwa die ganze Zeit über hierbleiben, bis es weitergeht? Nur in unseren Wagen oder den Zelten?“

„Scheint so“, entgegnete Hubert und griff in die Zügel des Gespanns, um es anzuhalten.

„Nun“, meinte Friedrich und schaute sich um. „Es kann sich ja hoffentlich nur um wenige Tage handeln, bis wir uns einem anderen Treck anschließen können!“

„Sprich, wir sitzen erst einmal hier fest“, murmelte Hubert leise und machte ein finsteres Gesicht. Hoffentlich würde es sich nicht allzu lange hinziehen – er war ungeduldig, er wollte nicht unnütz hier herumsitzen!

Sein Vater neben ihm seufzte tief. „Ja, es hat fast den Anschein, als müssten wir es uns hier vorerst gemütlich machen.“

Hubert blickte um sich, betrachtete die Gesichter, die ihm mittlerweile schon vertraut vorkamen und die müde und erschöpft aussahen.

„Ich glaube“, murmelte er, mehr zu sich selbst, „da sind wir nicht die einzigen.“

Die anderen Reisenden ihres Wagentrecks begannen, einen Kreis mit ihren Wagen zu formen und Hubert trieb die Maultiere vorwärts, um sich ihnen anzuschließen. Danach begannen sie alle, sich bestmöglich für die Nacht vorzubereiten und die Ochsen und Pferde zu versorgen. Sie versammelten die Tiere in der Mitte der Wagen, wo die ersten auch bereits begannen, offene Feuer zu entfachen.

„Lasst uns jetzt besser anfangen“, schlug Luise vor, „bevor wir überhaupt nichts mehr sehen.“

„Das dürfte bei den vielen Feuern kein Grund zur Sorge sein“, warf Julie vorsichtig ein, wobei sie das Cape um ihre Schultern enger zog. Ihr fröstelte.

„Wir brauchen auch so ein Ding.“ Friedrich deutete neben sich, wo ein kleines Zelt aus festem Stoff mit Heringen im Boden verankert war. „Im Sommer werden wir bestimmt auch einige Gewitter und Stürme miterleben.“

„Es wäre zumindest keine schlechte Idee“, sagte Hardy Retzner leise und schüttelte den Kopf. „Es sind sicherlich einige hundert Leute hier und alle wollen sie weiter, aber kaum einer ist auch nur vernünftig gerüstet.“

„Es ist ein wenig spät für diese Einsicht.“ Friedrich klopfte ihm sacht auf die Schulter. „Wir waren unerfahren und wir haben die Naturgewalten zu wenig berücksichtigt. Das hier ist eben doch ein wildes Land voller Abenteuer, nicht zu vergleichen mit Deutschland. Wir können nur versuchen, das Beste daraus zu machen.“

Die beiden Maultiere mussten abgeschirrt und gefüttert werden, was Nikolaus mit Hilfe von Doktor Retzner erledigte. Sie begannen, die Plane, die über den Wagen gespannt war, gut festzuzurren, damit möglichst kein Wind darunterfahren und sie anheben konnte. Nach vorn, in Richtung Kutschbock, verschnürten sie sie komplett. Hubert hängte zusätzlich noch eine Decke davor.

„So kann zumindest kein Wind rein“, meinte er und kroch nach hinten, wo Juliane sich bemühte, ihre viel zu knapp bemessenen Decken gerecht im Wageninneren zu verteilen. Auf einmal stieß sie einen leisen Ruf aus: „Seht mal! Dort!“

Verwundert hob ihr Bruder den Blick. Zwischen den Planwagen und Zelten hervor kam der Engländer geschritten, dessen Namen sie nicht kannten und der sie bis hierher gebracht hatte. Es schien, als wollte er genau zu ihnen. Ein weiterer Mann begleitete ihn. Er war groß und schlank, in eine Wildlederjacke gekleidet und einem Abzeichen in Form eines glänzenden, silbernen Sterns auf der Brust.

„Was tut er hier?“, wisperte Nikolaus, während er unablässig Ottos Fell striegelte. Luise trat beschützend zu ihrem Sohn, als befürchtete sie, etwas könnte ihm zustoßen. Sie war damit beschäftigt gewesen, die Pfannen, Teller, Becher und die Kaffeekanne auszupacken, um ihnen unter den gegebenen Umständen bestmöglich eine warme Mahlzeit zuzubereiten.

Friedrich war losgezogen, um Feuerholz zu sammeln und dabei in ein Gespräch mit anderen Siedlern ihres Trecks verwickelt worden. Er wollte mehr darüber erfahren, wie es die nächsten Tage weitergehen würde und er war noch nicht zurück und nirgends zu sehen, auch wenn Luise verzweifelt nach ihm Ausschau hielt.

„He! Sie da!“, sagte der Mann mit dem Abzeichen an der Jacke, als er bei ihnen angelangt war und deutete auf Doktor Retzner. „Der Typ hier meint, er sei so etwas wie euer Führer und behauptet, Sie seien Arzt!“

Der Österreicher starrte ihn lediglich fragend an. Der Mann sprach mit einem nuscheligen Akzent und er verstand keine Silbe davon.

„Er fragt, ob Sie ein Doktor sind“, wisperte Julie auf Deutsch und endlich nickte Hardy Retzner, ehe er ein wenig mühsam die Frage beantwortete: „Ja, das bin ich.“

„Der Sheriff hat angeordnet, dass sich Ärzte sofort bei ihm melden sollen, weil sie überall gebraucht werden. Am besten, Sie kommen gleich mit und wir sagen ihm Bescheid. Ich bin sein Gehilfe.“

Der Österreicher starrte ihn einen Moment fassungslos an, dann wandte er den Kopf zu Julie und Hubert um. „Ah, geh! Jetzt muss ich nur noch verstehen, was der Kerl von mir will!“ Er sprach wieder auf Deutsch. „Die Hälfte der Wörter kenn’ ich nicht!“

Julie gluckste, was ihr einen rüden Ellenbogenhieb Huberts einbrachte, der Doktor Retzner aufklärte, was von ihm erwartet wurde.

„Aha!“, machte dieser und nickte dem Hilfssheriff zu. „All right!“

„Gut, dann wäre das ja geklärt“, mischte sich der Engländer nun ein, sich am Kinn kratzend. „Nachher kommt er nochmal mit einer Liste, in der wir uns alle eintragen müssen, für das Gesetz, verstehen Sie?“

Doktor Retzner zuckte lediglich die Schultern und begann, nach seiner Tasche zu rumoren, die er im Wagen verstaut hatte.

„Sie haben’s gut“, meinte Hubert und lächelte. „Alles ist besser als hierbleiben zu müssen, auf diesem...diesem Sammelplatz.“

„Ja“, lautete die deutsche Erwiderung. „Aber ich tue das nur, weil ich einen Eid abgelegt habe, allen Menschen zu helfen die mich brauchen. Ich habe kein besonders gutes Gefühl, Sie hier zurückzulassen.“ Er warf Juliane einen langen Blick zu, die schweigend neben ihrer Mutter verharrte.

„Passen Sie auf sich auf.“ Hubert klopfte dem Österreicher auf die Schulter und konnte nicht verhindern, dass er sich dabei sehr erwachsen fühlte. Immerhin war er nun derjenige, der die Position seines Vaters einnahm, nachdem dieser nicht anwesend war. „Nicht, dass wir am Ende ohne Sie weiterreisen müssen!“

„Keine Sorge!“ Doktor Retzner lächelte. „Ich werde so bald als möglich von mir hören lassen! Und ich sehe zu, dass ich ein paar Decken oder andere Nützlichkeiten organisieren kann!“

Der Engländer gab ihm einen Wink, sich zu beeilen und sie marschierten in entgegengesetzter Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Hardy Retzner folgte dem Hilfssheriff und gleich darauf waren sie zwischen den Wagen und Zelten verschwunden.

„Nun ja.“ Luise brach als erste das eingetretene Schweigen. Ihre Pläne mussten nun ganz andere Wege gehen, allerdings war zuallerst der Versuch an der Reihe, ein halbwegs genießbares Essen zu zaubern. „Dann brauche ich mir jetzt wenigstens keine Gedanken mehr zu machen, wie wir den Platz im Wagen einteilen. Ich habe mich jede Nacht gesorgt, dass er zu nahe bei Juliane schläft!“

Das Mädchen verdrehte die Augen. „Ach, Mutter!“

Hubert machte eine unwirsche Handbewegung. „Hört auf damit! Wir haben keine Zeit für solche Diskussionen! Wir sollten uns lieber um das Feuer kümmern und ich sehe nach, wo Vater steckt und was ihn so lange aufhält.“

Luise entzündete eine Petroleumlampe, während Juliane ihrem Bruder dabei zur Hand ging, Hans und Otto zu versorgen. Das dämmrige Licht reichte gerade dazu aus, um sie ein wenig besser etwas erkennen zu lassen, doch der nächste Windstoß bließ es bereits aus. Wenige Minuten später tauchten Friedrich und Hubert auf, beide die Arme voller Feuerholz. Sie bildeten einen Stapel und rahmten ihn mit einigen Steinen ein, ehe Friedrich das Feuer entfachte.

„Es wird eine verflixt kalte Nacht werden hier draußen“, mutmaßte Juliane, während sie ihre Hände über dem Feuer wärmte. „Können wir nicht einfach wieder in eine Pension gehen, wie in New York?“

„Aber nur für Geld“, warf ihr Bruder ein. „Und dafür reicht es nicht mehr!“

„Red’ nicht zu mir wie zu einem Kleinkind! Ich habe nur gefragt!“

„Und ich habe dir einfach nur eine Antwort gegeben!“

„Reißt euch zusammen, beide!“ Ihr Vater machte eine unwirsche Handbewegung. „Alles weitere werden wir morgen sehen und erfahren. Für heute sind wir nicht dazu bestimmt, die Lage zu ändern.“

„Bedauerlich!“ Juliane seufzte dramatisch und stützte ihren Kopf in die Hände. Sie fühlte sich verloren und da war eine Leere in ihr, die sie nie zuvor gekannt hatte. Nun schön, jetzt waren sie also hier, in diesem sogenannten Land der Verheißung, allerdings war hier nichts besser als es bei ihnen Zuhause gewesen war. Ganz im Gegenteil! Sie hatten noch nicht einmal mehr ein festes Dach über den Köpfen, sondern waren dazu gezwungen, die nächsten Wochen oder Monate in einem Planwagen zu verbringen! Sie glaubte, die Welt und das Schicksal hatten sich gegen sie verschworen, während eine Welle von Heimweh ihr Herz durchflutete.

Später, als sie zwischen ihrer Mutter und der Holzwand des Wagens lag, konnte sie unter der Plane hinausblinzeln, um in der klaren Nacht einen Blick auf die glänzenden Sterne zu erhaschen. Ihr Vater sprach ein Gute-Nacht-Gebet und gemeinsam beteten sie das Vaterunser, auch wenn Julie sich nicht auf die vertrauten Worte konzentrieren konnte. Sie dachte daran, wie sie dies Zuhause selbstständig zu tun gepflegt hatten. Als ich noch Zuhause gewesen bin, dachte sie und schämte sich, weil sie ihrem Vater nicht zuhörte. Als ich noch mein eigenes Zimmer hatte und ich wusste, dass ich meine Freunde am nächsten Tag wiedersehen werde, weil wir gemeinsam zur Schule gehen; als wir jeden Tag eine gute Mahlzeit bekamen und sicher sein konnten, was der nächste Tag für uns bereithält...nicht wie hier, wo keiner sagen kann, was die Zukunft bringen wird oder ob wir jemals in Oregon ankommen.

„Amen“, hörte sie aus den Mündern ihrer Familie und sie drehte den Kopf zur Seite.

„Und jetzt ‚Gute Nacht‘“, befahl Friedrich und wartete, bis er seine Familie rechts und links neben sich liegen und die Decken über sich gezogen sah. Dann drehte er den Docht der Lampe zurück, die er an einen Haken über seinen Kopf gehängt hatte. Es war dunkel im Wagen, dunkel und schrecklich kalt. Julie zog die Wolldecke bis an ihren Hals und drückte sie fester an die Holzwand, doch sie fror. Sie war furchtbar müde und doch viel zu aufgeregt, um gleich einschlafen zu können. Außerdem drangen die ungewohnten Geräusche des großen Lagers durch die Plane und hielten sie wach.

Morgen, dachte sie und malte sich aus, was sie da wohl erwarten würde. Vermutlich Holz sammeln, damit sie Kaffee kochen oder sonst etwas Warmes zubereiten konnten. Und dann werden wir gezwungen sein, Arbeit zu finden, wenn wir länger hierbleiben müssen, schoss es ihr durch den Kopf und sie betrachtete den sternenklaren Himmel, den sie durch den schmalen Schlitz in der Plane erkennen konnte. Irgendwo erklang der leise Schrei einer Eule und sie wunderte sich, dass es diese Vögel hier, in diesem Erdteil ebenfalls zu geben schien. Sie wurden in diesem Land so vieler Dinge beraubt, doch je länger sie darüber nachdachte, desto mehr überkam sie ein eigenartiges Vertrauen. Vielleicht würde morgen schon alles ganz anders sein! Morgen wartete vielleicht eine Überraschung auf sie oder vielleicht würde alles doch noch gut werden und sie konnten sofort glücklich und gesund weiter, Richtung Westen, ziehen.

Der Schein von Licht, der durch die Plane fiel, weckte sie am nächsten Morgen. Von draußen waren viele hundert, völlig unterschiedliche Stimmen zu vernehmen und dazwischen andere, ihr fremde Geräusche, die sie nicht einzuschätzen vermochte.

„Gütiger Himmel!“, entfuhr es Friedrich und er richtete sich auf, nach seiner Taschenuhr suchend. „Wir haben schon viertel nach sieben! Los, los! Alles aufstehen!“

Müde und verschlafen räkelten sich seine drei Kinder und rieben sich die Augen.

„Luise?“, fragte Friedrich als er ihren Platz leer und die Decke säuberlich zusammengelegt neben sich fand. Sie musste irgendwann, unbemerkt von ihnen allen, aufgestanden und über sie hinweggestiegen sein. Er schob seinen ältesten Sohn beiseite, der sich noch immer verschlafen die Hand über die Augen legte und wollte aus dem Wagen klettern. Dabei brach das hintere Holzbrett von den Seitenwänden ab, über das sie ständig zu klettern hatten. Friedrich verlor den Halt und stürzte mitsamt dem Brett in die Tiefe, auf den vom Raureif überzogenen Boden. Ein leiser Fluch entfuhr ihm.

„Vater!“ Erschrocken zog Hubert die Plane beiseite. Draußen herrschte noch Dämmerung und er stellte fest, dass jede Menge Leute sie beobachteten. „Bist du verletzt?“

„Nein!“, rief Friedrich mit Verärgerung. „Aber du wirst dich heute als erstes daran machen und diese Konstruktion hier reparieren und ordentlich festnageln! Das ist ja lebensgefährlich!“

„Ja, Vater“, entgegnete sein ältester Sohn und ließ den Stoff zurückfallen. Nur mühsam konnte er sich aufrappeln. Er fühlte sich wie erschlagen.

„Tut euch auch alles weh?“, fragte Nikolaus und rieb sich den Rücken.

„Allerdings!“, beklagte Julie sich mürrisch und schlug ihre Decke zurück. „Mehr als ein paar Tage halte ich das nicht mehr durch!“

„Da wird dir nicht viel anderes übrigbleiben!“ Hubert kämpfte sich auf die Beine und sprang hinab, auf den gefrorenen Boden. „Ich sehe mal nach unseren Mulis!“

„Ja!“, rief Julie ihm hinterher. „Und komm bloß nicht so schnell zurück mit deiner schlechten Laune!“

„Schlechte Laune“, murmelte Hubert ungehalten. „Wenn das so weitergeht, werde ich eine gewisse, verzogene Schwester von mir übers Knie legen!“

„Was war das?“, fragte Friedrich, der sich auf dem Weg befand, Feuerholz zu suchen. Diese Aufgabe stellte sich als nicht ganz einfach heraus, denn alle Siedler des Trecks waren darauf angewiesen und strömten hinaus in die angrenzenden Wälder, um dort alles zu zerkleinern, was sie finden konnten.

„Nichts“, murmelte Hubert und seufzte. „Überhaupt nichts!“

Seine Mutter hatte bereits begonnen, ein Feuer zu entfachen und lächelte zärtlich zu ihm hinüber. „Warum schnappst du dir nicht Nikolaus und ihr seht zu, ob ihr drüben bei den Tieren gebraucht werdet?“, schlug sie vor.

„Das ist das erste vernünftige Wort, das ich heute höre“, warf Friedrich mit einem strengen Blick auf seinen ältesten Sohn ein. „Nimm deinen kleinen Bruder und sieh zu, was du zustandebringst!“

„Jawohl, Sir!“ Hubert nickte, während er seinem Vater nachblickte, der zwischen den anderen Wagen und Zelten verschwand. „Was auch immer du sagst!“

„Hubert Kleinfeld!“, entrüstete sich Luise mit Nachruck. „Ist das eine Art, mit deinem Vater zu sprechen?“

„Nein, ist es nicht“, pflichtete ihr Sohn bei, ehe er seinen Kopf in den Wagen streckte. „Auf geht’s, Kleiner! Komm in die Gänge, damit wir vor dem Frühstück zurück sind!“

„Das ist eine gute Idee! Juliane ist heute so blöd!“ Nikolaus streckte ihr die Zunge heraus und kroch schnell an den Rand des Wagens, um seinem großen Bruder zu folgen.

„Selber blöd!“, rief das Mädchen und zog eine Grimasse.

„Na, na!“, machte Hubert beschwichtigend und hob seinen kleinen Bruder vom Wagen herab. „Anstatt zu streiten, solltet ihr euch lieber ein bisschen herrichten! Du siehst aus, als hättest du einen ganzen Heuschober umgegraben!“ Lächelnd zerraufte er Nikolaus das Haar. „Und so wie du im Moment aussiehst“, er deutete auf Julie, „findest du nicht mal hier in Amerika einen Ehemann!“

„Ich will überhaupt keinen Ehemann!“, rief seine Schwester entrüstet, tastete jedoch prompt nach ihren zerzausten, rotblonden Haaren.

„Komm, lass uns mal schauen, wo wir helfen können“, erklärte Hubert, um dem Zank ein Ende zu setzen und betrachtete das weggebrochene Brett, an dessen Stelle jetzt ein Loch unter der Plane des Wagens klaffte. Er musste seinem Vater recht geben – diese Bauweise war alles andere als sonderlich brauchbar, wenn sie ständig darüber hinwegklettern mussten und sobald er Zeit fand, würde er in die Stadt hinüber laufen und sich ein paar Nägel und einen Hammer besorgen. Während er im kühlen Morgen durch das Lager lief, dachte er, dass es am besten sei, wenn er sich während ihres Aufenthalts hier eine Arbeit suchte. Wer wusste schon, wie lange sie wirklich auf eine Weiterreise warten mussten?

Nikolaus folgte ihm, so gut es seine kurzen Beine vermochten und schließlich packte der Junge ihn bei der Hand. „Mach’ doch nicht so schnell! Ich bin noch nicht so groß wie du!“

Jetzt, bei Tageslicht, konnten sie die Ansammlung von Zelten und Wagen erst richtig erkennen. Es war nichts weiter als ein Lagerplatz, übervölkert mit Einwanderern. Nun wollte er aber nach ihren beiden Mulis sehen. Sie waren abhängig von den beiden Tieren. Ohne sie wären sie nie dazu in der Lage, die Rocky Mountains zu überqueren und weiter dem Oregon Trail zu folgen.

Friedrich streifte zwischen den eng beieinanderliegenden Zelten und Wagen umher. Er lächelte und nickte den anderen Siedlern zu, die ihn an seiner schwarzen Kutte erkannten und von denen er nur teilweise wusste, dass sie mit ihnen zogen. Die meisten sah er zum ersten Mal in seinem Leben. Dennoch grüßten sie ihn, denn jeder erkannte ihn als Geistlichen. Ein paar Kinder rannten im taufeuchten Gras umher, der sich über Nacht gebildet hatte. Sie lachten und freuten sich und Friedrich musste schmunzeln. Wie unbeschwert und herrlich zufrieden Kinder sein mussten! Sie lebten von einem Tag zum anderen, ohne Ängste und Überlegungen, was die nächste Woche, der nächste Monat ihnen bringen würde.

Zwischen ihrem Lager und den ersten Häusern von St. Louis bahnte ein schmaler, flacher Fluss sich seinen Weg, über den eine einfache Holzbrücke führte. Friedrich schlug diese Richtung ein. Von irgendwoher hörte er leises, helles Glockengeläut und sein Herz schlug schneller. Irgendwo musste es hier also auch eine Kirche geben! Er beschleunigte seinen Schritt und nachdem er die Seitengasse hinter sich gelassen hatte, gelangte er zur Hauptstraße – die erste Hauptstraße einer Stadt im mittleren Westen Amerikas, die er je zu Gesicht bekam: Ein Geschäft reihte sich ans andere, manche kleiner, andere größer, die meisten besaßen die sogenannten „falschen Fassaden“, die sie größer und mächtiger erscheinen ließen, als sie in Wahrheit waren. Seine Augen glitten die belebte, schmutzige Straße hinab, auf der Reiter, Kutschen und Fußgänger entlang eilten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte er drei junge Burschen, die den Gehsteig aus Holzbohlen hinauf marschierten. Sie trugen die typische Kleidung von Cowboys, wie er es von Zuhause aus den Illustrierten kannte und ihre Sporen klirrten bei jedem ihrer Schritte. Friedrich wusste nicht weshalb, aber mit einem Mal fühlte er sich diesem Land zugetan. Alles war neu und völlig anders als in der Heimat, aber es gefiel ihm. Seine Ohren vernahmen wieder das melodische Geläut der Kirchenglocke und er folgte ihm, die Straße nach rechts hinab, wo sie leicht anstieg und schließlich abrupt hinter einem Haus endete. Linkerhand, durch eine separate Auffahrt abgetrennt, stand eine weiße Kirche mit einem kleinen Türmchen. Friedrich lächelte. Wie hatte er das vermisst! Er wollte schon den unebenen und durch die Nässe der letzten Tage durchweichten Weg hinauf einschlagen, als eine Stimme ihn zurückhielt. Eine Stimme, die Deutsch sprach!

„Hochwürden! Warten Sie einen Moment!“

Erstaunt drehte Friedrich sich um. Ein kleiner, dünner Mann mit Brille und spärlichem Haarkranz trat freundlich lächelnd auf ihn zu.

„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie aufhalte!“ Sein Deutsch wies einen auffallenden Akzent auf und der Mann merkte es selbst. „Ich habe vom Sheriff gehört, dass unter den neu eingetroffenen Siedlern ein Pastor aus Deutschland ist. Und als ich Sie die Straße hinabgehen sah, wusste ich, dass nur Sie das sein können. Hochwürden, lassen Sie mich...“

„Kleinfeld“, unterbrach Friedrich ihn. „Pastor Friedrich Kleinfeld.“

„Entschuldigen Sie!“ Der fremde Herr lächelte. „Ich bin Joshua Hammerstein, der zweite Bürgermeister dieser...hmm, also...für gewöhnlich nenne ich sie meine persönlich allerliebste Stadt.“

„Freut mich sehr“, versicherte Friedrich, auch wenn er nicht recht erraten konnte, was der Mann von ihm wollen könnte.

„Sie ahnen gar nicht, wie sehr mich das erst freut!“, lächelte Joshua Hammerstein, dessen Name verriet, welcher Abstammung er war. „Würden Sie sich von mir zu einer Tasse Kaffee einladen lassen?“

Ein wenig verwundert schüttelte Friedrich den Kopf. „Sehr gerne, aber im Augenblick bin ich ehrlich gesagt ein wenig in Eile und...“

„Bitte, nur für fünf Minuten!“ bohrte der Bürgermeister und lächelte. „Bitte!“

Friedrich seufzte innerlich. Eigentlich war er darauf erpicht, zu seiner Familie zurückzukehren, denn er wusste, dass sie ihn erwarteten.

„Na, schön“, gab er dennoch nach, denn alles andere hätte nicht seinem Pflichtbewusstsein entsprochen. Es war seine Aufgabe, für seine Mitmenschen an erster Stelle da zu sein und erst dann sich um sich selbst zu kümmern. So folgte er der einladenden Handbewegung Joshua Hammersteins und ging mit ihm den Anstieg wieder hinab und die Straße entlang, bis zu einem kleinen Kaffeehaus.

„Nun halt doch still!“befahl Julie ungeduldig, während sie Nikolaus das dunkelbraune Haar bürstete.

„Aber das tut weh!“, rief ihr kleiner Bruder und verzog vorwurfsvoll das Gesicht, bevor er erneut versuchte, ihre Hand wegzustoßen.

„Gib mir eine Minute und dann kannst du wieder davonrennen“, vertröstete Julie ihn und tauchte die Bürste in die Schüssel kaltes Wasser, die sie extra vom Bach geholt hatte. Damit ließen sich die wilden Strähnen, die in alle Himmelsrichtungen abstanden, ein wenig besser bändigen.

„Ich möchte wirklich wissen, wo die alle stecken!“, sagte sie nun, mehr zu sich selbst und ließ von Nikolaus ab, der erleichtert vom Wagen sprang.

„Ich gehe sie suchen!“, rief der Junge mit der glockenhellen Stimme und wollte davonrennen, doch seine Schwester war schneller, sie erwischte ihn am Arm.

„Nichts da!“, entschied Julie und deutete auf die Wasserschüssel. „Du wirst Mutter jetzt um einen anderen Lappen bitten und mir helfen, hier sauberzumachen.“

Nikolaus verzog das Gesicht. „Oh, nein! Das ist Mädchenarbeit! Und Hubert wollte nur schnell Holz suchen gehen! Er hat gesagt, er kommt bald wieder und...“

„Ruhe!“, unterbrach Julie ihn energisch und raffte ihre Röcke. Nun sprang sie ebenfalls hinten vom Wagen herab. „Du hilfst mir!“

Ihre Mutter, die noch immer damit kämpfte, das Feuer am Brennen zu halten, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Bitte, Juliane, zügle deine Ausdrucksweise und deine Lautstärke! Es ist nicht sehr vorteilhaft für ein junges Mädchen in der Weltgeschichte herumzuschreien wie ein Fischhändler!“

Ihre Tochter seufzte verzweifelt, ehe sie sich umdrehte. Immer diese Standpauken! Sie konnte doch auch nichts dafür, dass sie nicht dem Bild eines braven, zurückhaltenden Mädchens entsprach. Es lag ihr nunmal nicht, ihren Mund zu halten, wenn sie das dringende Verlangen spürte, ihre Mitmenschen wissen zu lassen, dass sie von vielen Dingen mehr Ahnung hatte als viele ihrer männlichen Genossen. Das ziemte sich nicht und obwohl sie es innerlich sich immer und immer wieder vorsagte, konnte sie in entscheidenen Augenblicken doch nicht ruhig sein. Dann brodelte etwas in ihr und es gab keine Vernunft mehr, die ihr den Mund verbieten konnte.

Als Friedrich fast zwei Stunden später den Weg über die Holzbrücke zurückging, waren zwar weder der Tau verschwunden, noch die Temperatur gestiegen, aber es schien heller geworden zu sein. Heller, was das Tageslicht anbetraf und heller, ihre nahe Zukunft betreffend. Er summte einen Choral vor sich hin, grüßte wieder alle Siedler, die ihm begegneten und merkte kaum, dass ihm der Magen knurrte. Er hatte seit dem vergangenen Mittagessen nichts mehr zu sich genommen und als er jetzt ihren Wagen erreichte, erblickte er ein kleines Feuer daneben, über dem ein Topf stand. Luise lief umher, gab ihren Kindern Anweisungen, während sie alle paar Minuten mit einem Löffel in dem Topf rührte. Friedrich stieß einen zufriedenen Seufzer aus.

„Luise, meine Perle! Wie das duftet!“ Seine Frau trug eine Schürze um ihre üppige Taille gebunden und lachte. „Du warst aber sehr lange fort! Zwischenzeitlich hatte ich Hubert hinabgeschickt zu diesem Geschäft, das sie ‚General Store’ nennen, um wenigstens die wichtigsten Dinge zu kaufen, ein paar Bohnen und Milch und Konserven!“

Julie und Nikolaus waren noch immer damit beschäftigt, den Boden des Wagens zu schrubben auf dem sie schliefen, während Hubert einen lauten Krach damit veranstaltete, das Brett wieder festzunageln.

„Keine Sorge!“, sagte Friedrich und zog einen Schemel heran, um sich darauf zu setzen. „Bald werden wir von hier fort sein, solange wir in dieser Stadt festsitzen. Der Herrgott ist sehr gütig mit uns, er hat mir heute einen sehr netten Herrn über den Weg geschickt und dafür gesorgt, dass wir in ein anständiges Haus einziehen können.“

Seine Familie unterbrach, wie auf Kommando, sämtliche Tätigkeiten, um ihn fragend und verständnislos anzustarren.

„Was für einen Herrn?“, hakte Luise nach, unschlüssig, was sie davon halten sollte. Nur ihr Arm rührte weiterhin in der gestreckten Gulaschsuppe. „Wovon sprichst du?“

Friedrich lächelte sie triumphierend an, während seine linke Hand nach dem großen, silbernen Kreuz griff, dass er immer um seinen Hals trug. „Mir wurde heute die Stelle des Pfarrers angeboten, solange wir hier sind! Der neue kommt erst irgendwann in den nächsten Wochen und der bisherige hatte einen tödlichen Unfall mit seiner Kutsche.“

„Ach, du liebe Güte!“, entfuhr es Luise entsetzt und sie fasste sich an die Brust. „Und jetzt sollst du...“

„Ganz richtig!“, bestätigte Friedrich und nickte. „Jetzt bin ich vorübergehend der Pfarrer in dieser Stadt und nicht nur das! Wir dürfen solange im Pfarrhaus neben der Kirche wohnen! Es steht nämlich derzeit leer und ich habe sogar für Hubert Arbeit gefunden!“

„Für mich?!“, echote sein Sohn stockend und schluckte. Irgendwie ahnte er, dass er die Entscheidung seines Vaters bereuen würde. Zuhause, in Deutschland, hatte er in einem Büro der Stadtverwaltung in Bremerhaven gearbeitet. Er hatte mit körperlicher Arbeit keine Erfahrung, er fürchtete jedoch, dass es genau das war, was seinem Vater vorschwebte.

„Ich habe auch einen Job!“, jubelte Nikolaus, ehe er vom Wagen herabhüpfte, glücklich darüber, dem strengen Regiment seiner Schwester zu entkommen.

„Du?! Aber...“ Luises Blick wanderte zu ihrem jüngsten Sohn, der sie zufrieden und stolz anlächelte, den tropfenden Lappen noch in der Hand. „Nikolaus ist doch noch viel zu klein und auch viel zu zart, um zu arbeiten! Es wäre völlig unverantwortlich...“

Hubert räusperte sich. „Tut mir leid, Mutter“, mischte er sich ein, den Hammer zwischen seinen Händen drehend. „Aber das war die Bedingung, damit uns gestattet wurde, die Maultiere in der Scheune unterzubringen.“

„Ich bin nicht klein!“, rief der Junge protestierend. Er hasste es, immer von seiner Mutter beschützt und zurückgestellt zu werden, als wäre er aus Porzellan und zu nichts zu gebrauchen. „Ich kann genauso hart arbeiten wie Hubert! Weißt du denn nicht, dass ich ein Meister bin im Ausmisten von Ställen und Füttern der Tiere?“

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