Читать книгу: «Wind über der Prärie», страница 2

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Die ersten Tage auf See verliefen ohne Störungen oder Abwechslung verschaffende Zwischenfälle, zumindest abgesehen davon, dass Juliane, Hubert und Luise die ersten drei Tage unter entsetzlicher Seekrankheit litten. Danach jedoch hatten sie sich an den Wellengang gewöhnt und jeder bemühte sich, die beginnende Langeweile und den öden Anblick des immer gleichen Meeres auf irgendeine Weise zu bekämpfen und sich anderweitig zu beschäftigen. Friedrich lernte zusammen mit Luise und seinen drei Kindern jeden Tag mehrere Stunden englische Grammatik und Vokabeln. Er wollte, dass sie der Sprache halbwegs mächtig wären, wenn sie in New York einliefen. In der wenigen Zeit dazwischen ging er meistens spazieren und weil alle Passagiere ihn mit seiner langen, schwarzen Kutte sofort als Geistlichen erkannten, kam er von diesen Erkundungsgängen oft lange nicht zurück. Die Menschen vertrauten ihm ihre Probleme und Sorgen an, baten ihn um Rat oder Unterstützung und er fühlte sich ihnen verpflichtet.

Es war der sechste Tag, nachdem sie Bremerhaven hinter sich gelassen hatten. Hubert und Juliane strichen auf dem Deck umher, wo ein kalter Nordwind pfiff und ihnen den Aufenthalt bald verleidete. Nikolaus spielte mit ein paar anderen Kindern und einem Ball aus zusammengeknüpften Stoffresten. Keinem von ihnen schien kalt zu sein.

Juliane beobachtete ihren kleinen Bruder inmitten der anderen Kinder, die aus ganz Deutschland stammten und alle mit ihren Eltern nach Bremerhaven gereist waren, um von dort aus die „Elbe“ zu besteigen.

„Er ist viel kleiner als die anderen“, stellte sie auf einmal fest, während sie sich an die Reling lehnte. Hubert folgte ihrem Blick und nickte kurz.

„Stimmt“, gab er zu und betrachtete den schmächtigen Jungen mit demselben braunen Haar wie das seine. „Das wird vermutlich mit der Lungenentzündung zusammenhängen, die er als Kleinkind hatte.“

„Wahrscheinlich“, nickte Juliane nachdenklich. Sie und ihre beiden Brüder waren die einzig Überlebenden der sieben Kinder, die ihre Mutter geboren hatte. Alle anderen lagen auf dem Friedhof ihrer Kirche beerdigt, gerade einmal mehrere Wochen oder Monate alt geworden.

„Was ist?“, fragte Hubert, während er das junge Mädchen eindringlich betrachtete. „Du schaust auf einmal entsetzlich verbittert aus! He, du bist ganze sechzehn!“ Er boxte sie aufmunternd in die Seite. „Du hast dein ganzes Leben noch vor dir und nur, weil wir jetzt auswandern...daraus lässt sich etwas machen!“

„Ja, schon...“ Juliane legte den Kopf schief, ohne ihre Augen von einem unbestimmten Punkt, irgendwo hoch oben am vorderen Schornstein, abzuwenden. „Ich musste nur gerade an die anderen denken.“

Die anderen...Hubert seufzte. Er kannte das bereits. Immer wieder kam sie auf ihre verstorbenen Geschwister zu sprechen und manchmal fragte er sich, inwiefern sie der Tod all dieser Kinder geprägt und vielleicht auch verändert hatte. Sie war als zweite nach ihm geboren worden. Die beiden Schwestern, die kurz hintereinander auf die Welt gekommen waren, hatten beide nicht überlebt, erst wieder Nikolaus. Und dann waren nach ihm noch einmal zwei Mädchen gewesen, die es ebenfalls nicht geschafft hatten.

„Das ist vorbei“, sagte Hubert ausweichend und verschränkte die Arme vor der Brust. Er sah noch heute seine Mutter dasitzen, gegrämt und voller Trauer. „Das ist eben so. Das ist das Leben.“

„Ich werde das nie verstehen“, erwiderte Juliane mit einer derartigen Emotion in der Stimme, die ihren großen Bruder erstaunt aufblicken ließ. „Da quält sich eine Frau mit dieser Geburt und dann? Wozu? Damit ihr Kind gar nicht groß werden darf?“

Hubert schluckte. Das war es also – sie empfand den Tod als eine Ungerechtigkeit, aber nicht etwa gegenüber den Kindern, nein, sondern gegenüber der Mutter, der diese Qualen auferlegt wurden.

„Schau, ich verstehe auch nicht recht, wieso das sein muss. Vielleicht gehört es einfach zum Leben dazu. Mach’ dir nicht so viele Gedanken.“

„Ich muss!“, widersprach Juliane ernst. „Schließlich werde ich auch eines Tages eine Frau sein, die Kinder zu Welt bringen soll und ich möchte nicht so viele von ihnen verlieren!“

Hubert lächelte sanft. Er ahnte, welch tiefes Gefühlsleben, unendlich viele Grübeleien hinter der rebellischen, selbstbewussten Fassade seiner kleinen Schwester steckten. Er ahnte auch, dass sie sich nicht in dieses Schicksal fügen wollte.

„Irgendwann wirst du heiraten und dir keine Gedanken mehr darüber machen, weil du mit lauter Hausarbeit gar nicht mehr dazu kommst!“ Es sollte aufmunternd klingen, doch seine Schwester starrte ihn nur verständnislos an.

„Ich weiß nicht, ob ich überhaupt jemals heiraten werde“, entgegnete sie bissig und es schien ihr vollster Ernst. „Ich habe schon zu viele junge Frauen gesehen, die bei der Geburt ihrer Kinder gestorben sind und die Vater dann beerdigen musste.“

Hubert senkte den Blick. „Auch das, ja...“ Er seufzte. „Aber du wirst sehen, dass dich das eines Tages nicht mehr stört, nämlich dann, wenn du dem Mann gegenüberstehst, den du liebst und...“

„Das glaube ich nicht!“, fiel Juliane ihm trotzig ins Wort und sie zog ihren Mantel enger. Der Wind wurde immer stürmischer und kühler.

Hubert schmunzelte. „Das kannst du nur behaupten, weil du noch nie verliebt gewesen bist!“

Verdutzt und neugierig zugleich schaute Juliane ihn an. „Aha! Sag bloß, du hast damit schon Erfahrungen gesammelt!“

Mit einem verschmitzten Grinsen zuckte ihr Bruder die Schultern. „Es gab da schon das ein oder andere Mädchen...“

„Hubert Kleinfeld!“ Entrüstet stemmte Juliane die Arme in ihre schmalen Hüften. „Das hätte ich nicht von dir gedacht!“

Er lachte leise auf. „Es ist das Natürlichste auf der Welt, Julchen!“

„Nenn mich nicht Julchen! Ich bin kein kleines Kind mehr!“

„Manchmal schon. Trotzdem ist es ganz natürlich!“ Er kniff ihr frech in die Wange. „Aber ich hab’ ja keine von ihnen geheiratet!“

„Das hätten Vater und Mutter dir auch nie verziehen“, warf das junge Mädchen ein. Sie wandte sich ab und stolzierte hocherhobenen Hauptes davon, um Nikolaus von den anderen Kindern fort, in ihre Kabine zu bringen. Sie fürchtete, er könnte sich sonst erkälten.

Hubert sah ihr nach. Sie war eine junge Dame geworden, seine kleine Schwester. Irgendwann, das wusste er, würde der Mann kommen, der ihr Denken und ihre Ansicht veränderte und dann würde es ihr ganz gleich sein, ob sie einmal oder zehnmal ein Kind austragen musste. Hubert schmunzelte in sich hinein. Sie kannte den Weg, auf dem ein Kind in den Körper einer Frau gelangte noch nicht, aber er, er kannte ihn – zumindest theoretisch – und er wusste, dass es in diesem Augenblick nicht zählte, was danach sein könnte.

Er stieß sich von der Reling ab. Dieses kleine Geheimnis musste er allerdings für sich behalten, er konnte sein Wissen nicht mit ihr teilen. Derartige Dinge wurden nicht besprochen, noch nicht einmal in den Mund genommen und wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. In den Augen seines Vaters, dessen war Hubert sich bewusst, war er der anständige, guterzogene Sohn, der eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Bisher hatte Hubert sich nicht dagegen gewehrt – er wusste seit Kindesbeinen an nichts anderes und dennoch...irgendetwas zog ihn weiter. Irgendetwas ließ ihn nicht zur Ruhe kommen und er fragte sich oft, was das sein konnte und ob er den Grund dafür eines Tages finden würde. Es war seine Bestimmung, ebenfalls Pastor zu werden und daran gab es nichts auszusetzen. Es war ein guter Beruf, mit dem er anderen Menschen helfen konnte, wenn auch nicht so, wie er es manchmal gerne getan hätte.

Am selben Abend gerieten sie in einen wüsten, furchterregenden Sturm. Tosende Wellen schlugen draußen an die Schiffsplanken und brachen sich an Deck.

„Ich habe Angst“, flüsterte Nikolaus und drückte sich fester an seinen großen Bruder. Beschützend legte Hubert ihm den Arm um die Schultern.

„Musst du nicht“, versicherte er. „Das ist immer so, wenn über dem Meer ein Sturm losbricht. Das ist immer schlimmer wie auf dem Festland, aber das macht dem Schiff nichts aus, überhaupt nicht! Das ist für solche Überfahrten gebaut!“

Er wusste, dass das geschwindelt war und in seinem Inneren zitterte er genauso, wie der schmächtige, zarte Junge der sich fest und voller Vertrauen an ihn presste. In seiner Sorge tat Hubert das, was er gelernt hatte zu tun: Er faltete die Hände und betete lautlos, nur für sich. Er betete, dass sie das restliche Stück Weg heil überstehen würden, dass es bald vorüber wäre mit diesem entsetzlichen Geschaukel und dass niemandem an Bord etwas zustieß. Er war noch mitten in sein Gebet vertieft, als plötzlich die Türe aufgerissen wurde und helles Licht von draußen, vom Korridor hereinfiel.

„Pastor?“, rief eine aufgeregte Frauenstimme. „Pastor, kommen Sie schnell!“

Ruckartig setzte Friedrich sich auf. Alarmiert warf er seine Bettdecke zurück und griff im Aufstehen bereits nach seiner bodenlangen, schwarzen Kutte, die immer griffbereit in seiner Nähe lag und jetzt am oberen Bett hing.

„Was ist passiert?“

„Ein junger Matrose ist die Treppe hinuntergefallen! Kein Wunder, bei diesem Tanz, den der Sturm mit uns vollführt!“

„Ich komme!“ Friedrich schlüpfte in seine Schuhe und befahl: „Los, Hubert! Steh auf!“

Sein achtzehnjähriger Sohn seufzte innerlich, doch ihm blieb keine Wahl und so zog er seinen Arm unter Nikolaus hervor.

„Ich komme so schnell wie möglich zurück“, versprach er und schwang sich vom oberen Bett hinunter. Auf eigenartige Weise fühlte er sich unwohl bei der Vorstellung, jetzt dort hinaus zu müssen, zwischen all die aufgeregten und verängstigten Menschen, um irgendwo nach einem verletzten Matrosen zu sehen. Womöglich war er sogar schon tot, wenn die Frau seinen Vater holte.

Im Halbdunkeln fingerte er nach seiner Weste und den Schuhen. Sie behielten ihre Kleidung auch nachts an, für den Fall, dass sie schnell von Bord mussten. Im Schein des flackernden Lichts, das durch die offene Tür fiel, konnte er seinen Vater mit der fremden, älteren Frau zusammenstehen sehen. Er hörte jedes ihrer Worte. Sie sprach auf Deutsch mit einem weichen, württembergischen Akzent.

„Haben Sie schon einen Arzt geholt?“, fragte Friedrich jetzt und Hubert schien es, als sei er sich auch noch nicht ganz schlüssig, wie er sich in dieser Lage verhalten sollte.

„Mein Mann ist auf der Suche nach einem“, versicherte die Frau aufgeregt und fuchelte mit dem Arm. „Aber dazu müssen wir ja erstmal bis ganz rauf, zur ersten Klasse, wo die Seeleute alle schlafen.“

Hubert verkniff sich den Kommentar, dass die Wegbeschreibung der guten Frau alles andere als stimmte: Die erste Klasse und die Mannschaftsunterkünfte lagen weit voneinander entfernt und die meisten Seeleute hausten nicht besser, als sie es hier taten, im Gegenteil, doch er schwieg. Hätte er nicht zufällig einen Blick auf die Pläne geworfen, die in jedem Gang für Notfälle und zur Orientierung aushingen, hätte er dies vermutlich auch nicht gewusst. Für die Frau, die jetzt eilig vor ihm und seinem Vater herlief, war der Schiffsarzt ganz einfach „irgendwo da oben“ untergebracht.

Sie bogen in einen Seitenkorridor ab, wo vor einigen Türen ein Menschenauflauf herrschte. Sie alle wollten wissen, was geschehen war und fragten neugierig Friedrich, den sie im Vorbeilaufen als Geistlichen erkannten, doch dieser winkte nur beruhigend ab.

„Geht wieder schlafen, Leute! Es ist bloß jemand ausgerutscht, bei einem der Hüpfer, den unser Schiff gemacht hat! Kein Grund zur Aufregung!“

Hubert hörte ihn reden und rufen und fragte sich, weshalb er seinem Vater eigentlich wie ein Handlanger, mit zwei Schritten Abstand, folgte. Eigentlich war er hier doch völlig überflüssig! Weder er, noch Friedrich verstanden sonderlich viel von Medizin, also konnten sie sowieso nichts ausrichten, ehe nicht...nein. Hubert musste sich korrigieren. Falls dieser junge Matrose keinen Arzt mehr benötigte, dann allerdings war sein Vater der Richtige. Einige Meter vor ihnen hatte sich eine große Menschentraube gebildet.

„Geht weg!“, rief die Frau mit lauter, schriller Stimme und zerrte an ein paar Hemden und Ärmen. „Ich habe den Pfarrer dabei!“

Tatsächlich machten die Neugierigen Platz und ließen Friedrich und Hubert an den Treppenabsatz treten. Dort, zusammengesunken und ohne Bewusstsein, lehnte ein junger Mann, höchstens zwanzig.

Hubert schluckte. Überall auf den weiß gestrichenen Stufen und der Wand klebte Blut. Jemand musste den Matrosen halb auf die ersten beiden Stufen gelegt und seinen Kopf mit einer Jacke gestützt haben.

„Gütiger Himmel!“, entfuhr es Friedrich leise und er ging neben dem Verletzten in die Knie.

Huberts Blick glitt die Treppe hinauf und dann zurück zu dem jungen Mann. Aus einer langen, hässlichen Stirnwunde tropfte unaufhörlich Blut und sein linker Arm wölbte sich seltsam verrenkt nach oben. Der Blutspur nach zu urteilen, musste er vornüber hinuntergefallen und mit dem Kopf gegen die gusseiserne Haltestange geschlagen sein. Hubert atmete tief durch, während er das hellrote Blut dabei beobachtete, wie es aus der Wunde, über das geschlossene rechte Augenlid hinab und über die Wange rann, um von dort auf die blaue Uniform zu tropfen.

„Achtung! Lassen’s mich durch! Ich bin Arzt! Hören’s denn nicht? Lassen’s mich doch durch!“

Hubert drehte sich zu der energischen Stimme um und stellte erstaunt fest, dass sich ein kleiner Mann von vielleicht Ende zwanzig durch die Menge schob. Sein strohblondes Haar war zerzaust, als sei er eben aufgestanden und er sprach mit deutlich österreichischem Akzent.

„Ah, geh!“, schimpfte er jetzt und schob eine Frau beiseite. „Immer diese unnützen Gaffer!“ Er nahm kaum Notiz von Hubert oder Friedrich, sondern griff sofort nach dem Handgelenk des Patienten. „Hmm“, machte er schließlich. „Stabil und gleichmäßig.“ Er nickte Friedrich zu. „Schaut nicht so aus, als bekämen’s heute noch was zu tun, Herr Pastor!“

Friedrich lächelte amüsiert. „Das will ich auch hoffen! Das sollte eine schöne Überfahrt für mich werden!“

„Das kann man sich nie aussuchen“, entgegnete der schlanke, kleine Österreicher und tupfte mit seinem Taschentuch behutsam das Blut rund um die Stirnwunde fort. „Ah, ich glaube, das wird wieder.“

„Er wird es schaffen?“, fragte Hubert und spürte, wie das Herz ihm bis zum Halse schlug. Es war das erste Mal, dass er einem Arzt bei der Arbeit zusah.

„Sicher!“, wurde er beruhigt und eine Hand forderte ihn auf, mit anzupacken. „Wir bringen ihn trotzdem auf die Krankenstation. Da kann er sich auskurieren.“

Er fasste den jungen Matrosen unter den Achseln und Hubert packte seine Knöchel. „Kommen Sie, wir werden den Weg schon finden!“

Hubert nickte und spürte, wie sein Vater ihm auf die Schulter tätschelte. „Gut so, mein Junge!“ Er lächelte und beobachtete, wie sein ältester Sohn mit dem jungen Arzt verschwand.

„Ich bin übrigens Burkhard Retzner“, sagte der Österreicher mit seinem unverkennbaren Akzent, während er sich oben, an der Treppe, für den linken Korridor entschied. „Doktor Burkhard Retzner“, fügte er mit Nachdruck hinzu.

„Angenehm“, stieß Hubert ein wenig außer Atem hervor, ehe er ihm seinen Namen nannte. Der Matrose wurde allmählich ganz schön schwer.

„Ah, ein Nordlicht!“, erkannte Doktor Retzner und schmunzelte. „Auch auf dem Weg ins große Abenteuer und das gelobte Land, was?“

„Nun...“, begann Hubert zögernd, kam jedoch nicht weit.

„Machen wir uns keine falschen Illusionen!“ Doktor Retzner stieg die nächste Treppe hinauf. „Da wartet mehr Arbeit auf uns, als mir lieb ist! Da gibt’s ja noch gar nichts! Nicht einmal eine vernünftige Organisation!“

„Nun ja...“, wollte Hubert erwidern, doch er wurde erneut von dem geschwätzigen Arzt unterbrochen: „Ich weiß noch gar nicht, wie ich mich mit meinen Patienten verständigen soll! Man muss ja schon fast alle Sprachen dieser Welt beherrschen, wenn man sich irgendwie durchwursteln will, nicht wahr?“

„Hmm, ja.“ Mehr fiel Hubert dazu nicht ein und er wollte auch nicht riskieren, ein weiteres Mal nicht zu Wort zu kommen. Außerdem ging ihm sowieso allmählich die Puste aus. Sie brachten den jungen Matrosen zum Schiffsarzt, auf dessen Station, und als dieser versicherte, es bestehe keine Lebensgefahr, verabschiedeten sie sich wieder.

Müde und erschöpft und doch gleichzeitig aufgewühlt ging Hubert in ihre Kabine zurück. Er schloss die Türe leise hinter sich und stellte fest, dass der Rest seiner Familie mittlerweile ruhig schlief. Er zog die Schuhe aus, ehe er lautlos auf das obere Bett kletterte. Obwohl er sehr behutsam vorging, wachte Nikolaus auf und rieb sich die Augen.

„Du bist wieder da?“

„Psst!“, zischte Hubert und legte ihm die Hand auf den Mund. „Du weckst ja alle auf!“

„Aber“, wisperte sein kleiner Bruder, „ich will doch wissen, was passiert ist!“

„Nichts!“, flüsterte Hubert ungeduldig. „Nur ein Matrose, der die Treppe hinuntergefallen ist und jetzt vom Arzt versorgt wird.“

„Ach so“, erwiderte Nikolaus und gähnte. „Dann kann ich ja jetzt schlafen.“

„Mach’ das und sei still!“ Hubert zog die Bettdecke über sie beide und horchte auf die Atemzüge der anderen: Von Juliane und Luise war nichts zu hören, nur Friedrich schnarchte leise und bedächtig vor sich hin. Hubert starrte an die Decke, die er in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Das Erlebnis hatte ihn auf eigenartige Weise bewegt. Wie gerne hätte er nicht bloß dumm dagestanden und zugeschaut, wie dem jungen Mann das Blut über das Gesicht lief. Wie gern hätte er geholfen!

Ein Leben zu retten, dachte er, ist vielleicht die sinnvollste und gleichzeitig schwierigste Aufgabe, die wir übernehmen können, aber ist sie nicht auch die befriedigendste?

New York

Am späten Vormittag des 12. März 1884 dampfte die „Elbe“ im Hafen von New York ein. Alle Passagiere, die Platz fanden, hatten sich schon vor fast einer Stunde auf dem Deck, den Aussichtsplattformen und an der Reling entlang versammelt, um zu erleben, wenn sie in die berühmte Stadt im Osten der Vereinigten Staaten einlaufen würden. Wie ein Lauffeuer sprach sich die Nachricht über die baldige Ankunft herum und alles eilte und rannte hinauf, unter den freien Himmel.

„Immer mit der Ruhe!“, entschied Friedrich energisch, als seine drei Kinder ebenfalls aufgeregt davonrennen wollten. „Wir kommen genauso schnell an, wenn ihr hier bleibt!“

„Aber...wenn wir nicht gleich gehen, bekommen wir keinen Platz mehr, an dem wir etwas sehen können!“, rief Juliane und trat nervös auf der Stelle.

„Also, wirklich!“, entrüstete sich Luise und schüttelte missbilligend den Kopf, während sie sich ihr Cape umlegte. „Wir kommen noch früh genug nach oben!“

Endlich, für Nikolaus und Juliane kaum abzuwartende, zehn Minuten später führte auch ihr Weg hinauf aufs Deck. Unten, in den Korridoren und den Kabinen herrschte erregte Aufbruchstimmung.

Sie hatten nicht den Schimmer einer Ahnung, dass sie nicht sofort in Castle Garden, an der Spitze von Manhattens Insel würden anlegen dürfen. Dort befand sich die Anlegestelle für alle Immigranten. Zuerst würde ein offizieller Gesundheitsinspektor erscheinen und alle Anwesenden an Bord kurz nach irgendwelchen Anzeichen von ansteckenden Krankheiten wie Pocken, Typhus oder Cholera untersuchen. Danach würde er sich die Unterlagen der Todesfälle an Bord zeigen lassen. Wenn alles in Ordnung wäre, würde er ihnen die Erlaubnis geben, zum Zielhafen weiterzufahren, andernfalls würde das komplette Schiff erst einmal unter Quarantäne gestellt.

All diese organisatorischen Vorgänge waren den meisten Einwanderern völlig unbekannt, während sie sich wild und aufgeregt an Deck drängten. Alle wollten sie nur endlich einen ersten Blick auf Amerika erhaschen. Es herrschte dichtes Gedränge und eine Art Festtagsstimmung schien ausgebrochen zu sein. Ein paar Flaschen Wein wurden herumgereicht, einige junge, wohl bereits angetrunkene Männer sangen deutsche Volkslieder und Hubert beschloss, an einem der Stützseile der Schornsteine ein Stück hinauf zu klettern.

„Was soll denn das?“, brüllte Friedrich gegen das Stimmengewirr und den Lärm zu ihm hinauf. „Komm sofort wieder herunter!“

„Aber wieso denn?“, schrie Hubert zurück. „Von hier oben sehe ich viel mehr!“

Und er blieb, wo er war. Er konnte nicht verhindern, dass sein Herz mit jeder Minute schneller und stärker in ihm zu schlagen begann. Seine Augen hingen an den Fluten des Meeres, durch das sich der Dampfer schob und zwischen denen in absehbarer Zeit Amerika vor ihnen auftauchen musste. Hubert bekam nicht mit, was unter ihm herum geschah. Er bemerkte weder, dass Nikolaus sich ein Stück weit nach oben zu ihm getraute, noch, wie Juliane sich sanft und doch bestimmt soweit bis zur Reling nach vorn drängte, dass sie etwas sehen konnte.

„Da!“, brüllte plötzlich jemand hinter ihm und er kniff die Augen zusammen. „Land in Sicht!“

Wildes Geschrei und Jubelstürme brachen los und jetzt entdeckte auch Hubert, wie sich vor ihnen dunkle Schatten zu erheben begannen. Sie waren am Ziel und auf einmal ging alles sehr schnell. In kürzester Zeit hatten sie das Festland erreicht und der Dampfer drosselte sein Tempo merklich.

Nachdem der Gesundheitsinspektor sie für einwanderungsfähig befunden hatte, fuhren sie zunächst in gemäßigtem Tempo weiter nach Castle Garden, wo die „Elbe“ endlich Anker legte. Ein letztes Mal stieß sie ihren dumpfen, langgezogenen Pfiff aus, der zum Ende hin schrill anschwoll, dann drängten sich die Passagiere zu den Ausgängen. Sie wollten hinaus, in die kühle, windige Frühjahrsluft, die über die Insel und die Hafenanlage strich. Hinaus in das fremde, unbekannte und unvorstellbar große Land, das sie von nun an ihr Zuhause nennen würden.

In Lastkähnen und Schleppern wurden die Einwanderer vom Dampfer zum Castle Garden Anlegesteg gebracht, wo erneut einige Sanitätsoffiziere auf sie warteten und sich vergewisserten, dass sich tatsächlich keine kranken Passagiere unter ihnen befanden. Nach dieser Untersuchung und der Prüfung ihres Gepäcks, das erneut in einem separaten Raum verstaut wurde, betraten sie das runde Gebäude mit dem mächtigen Glasdom auf der Kuppel durch einen langen Gang. Sie fanden sich im Zentrum des Rundbaus wieder, wo sie sich in Reih und Glied in unterschiedlichen Abteilungen anstellen mussten, je nachdem, ob jemand der englischen Sprache mächtig war oder nicht.

„Verflixt und zugenäht!“, fluchte Juliane unbeabsichtigt und verdrehte die Augen, bevor sie sich auf eine der Holzbänke fallen ließ. „Das kann ja Stunden dauern!“ Sie beobachtete die anderen Passagiere, die ebenfalls mit ihrem Schiff angekommen waren und sich kontinuierlich durch die Türe in das Gebäude schoben und drängten.

„Juliane!“ Der empörte Aufschrei ihrer Mutter ließ sie zusammenzucken. „Wirst du wohl aufhören, dich wie ein Zigeuner zu benehmen?!“

„Ja, Mutter!“ Mit einem leisen Ächzen folgte das Mädchen ihrer Familie hinunter zu den zirkelähnlich angeordneten Schreibtischen, wo ein ganzes Dutzend Männer damit beschäftigt war, die Registrierungen der Neuankömmlinge vorzunehmen.

„Das ist...einfach überwältigend“, bemerkte Hubert nach einer ganzen Weile, in der er nichts anderes tat, als die riesige Halle genau in Augenschein zu nehmen. Balkone waren rundherum an den Wänden errichtet worden und der majestätische Dom aus Glas über ihnen erhellte das komplette Innere des Gebäues.

„Wann gehen wir denn jetzt?“, wollte Nikolaus ungeduldig wissen, während er permanent herumhüpfte und ständig in irgendwelche anderen Menschen hinein rempelte. „Gehen wir jetzt auch bald raus?“

„Ja, gleich!“ Sein Vater legte ihm seine Hände auf die Schultern und hoffte inständig, der Junge würde jetzt endlich still sein, nachdem er ihm ohnehin keine Antwort auf seine ständige Fragerei geben konnte.

Hunderte von Personen hielten sich in dem Rundbau auf, warteten, genau wie sie und bei Einbruch der Dunkelheit waren sie zwar endlich registriert, allerdings immer noch ohne Erlaubnis, das Gebäude zu verlassen.

„Amerika“, grinste Hubert sarkastisch, während er auf eine der Holzbänke sank und hinter vorgehaltener Hand ein Gähnen versteckte. „Wir sind da!“

„Was sollen wir denn jetzt tun?“, jammerte Luise und setzte sich neben ihren Sohn. „Wir haben die letzten paar Tage auf diesem schrecklichen, schaukelnden Dampfer verbracht und ich würde mir wirklich nichts mehr wünschen, als ein Bett und ein warmes Bad. Einfach nur das, sonst nichts.“ Hoffnungsvoll blickte sie zu ihrem Ehemann hinauf. „Können wir es uns nicht leisten, zumindest für eine Nacht, in einer Pension oder etwas ähnlichem zu bleiben?“

Friedrich runzelte die Stirn. „Das können wir gerne machen, obwohl ich gehofft habe, wir könnten das Geld für unsere Reise westwärts sparen.“

„Du kannst doch nicht ernsthaft vorhaben, heute Nacht noch ein Ticket für die Eisenbahn zu kaufen?“ Seine Frau schnappte nach Luft.

„Nein, nein“, versicherte er hastig. „Ich habe nur laut nachgedacht...“

Einer der führenden Offiziere der Einwanderungsbehörde betrat nun den Rundbau und informierte die versammelten Menschen, dass sie die Nacht hierbleiben dürften, sollten sie nicht anderweitig schon von Verwandten erwartet werden oder bereits eine Unterkunft haben. Ebenso wäre es ihnen gestattet, gleich die Weiterreise anzutreten, ob nach Westen, Osten, Nord oder Süd, wie auch Geld zu wechseln oder sich mit Freunden und Verwandten in Verbindung zu setzen.

Juliane konnte nur müde lächeln – sie verstand nicht die Hälfte dessen, was der Mann ihnen gerade erklärt hatte und sie spürte noch nicht einmal mehr das Heimweh, das sie während der Reise gequält hatte. Osten oder Westen, Zuhause ist’s am besten, dachte sie und schloss ihre Lider für einige Sekunden.

„Ich habe Hunger“, verkündete Nikolaus.

„Ich auch!“, schloss Juliane sich an, was ihr einen strengen, rügenden Blick ihrer Mutter einbrachte. Eilig senkte das junge Mädchen den Blick. Weshalb konnte sie eigentlich nicht einmal den Mund halten, wenn sie doch schon vorher ahnte, dass es falsch war, was sie sagen wollte? Wieso konnte sie nicht einmal an der richtigen Stelle still sein, wenn es alles andere als damenhaft war, wie sie sich gab und wenn ihr das auch noch von vorn herein bewusst war?

Friedrich fand den Inhaber einer Pension, dem es gestattet war, in dem Rundbau der Einwanderungsbehörde Werbung für seine Unterkunft zu machen, was bedeutete, dass er von der Stadt lizenziert war und ein Zertifikat besaß, welches ihm Vertrauenswürdigkeit ausstellte. So gingen sie hinüber zur Gepäckabfertigung und erhielten endlich ihre Taschen und Koffer. Danach wurde ihnen gestattet, Castle Garden zu verlassen und sie traten ihren Weg an durch die nächtlichen, aber erleuchteten Straßen New Yorks. Juliane schlurfte müde und erschöpft hinter ihren Eltern und Brüdern her, entlang einer breiten Straße, als plötzlich eine Stimme hinter ihr erklang: „Ah, geh! Das kann ja jetzt nicht wahr sein!“

Ein lachender Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte, klein gebaut und nicht viel größer als sie selbst, mit blondem Haar und unzähligen Lächfältchen um die Augen und Mundwinkel, trat zu ihnen.

„Was für eine Überraschung! Der Pastor und seine Familie! Sagen’s jetzt nicht, Sie steuern dieselbe Pension an wie ich!“

Friedrich starrte ihn für eine Minute verdutzt an, dann fiel es ihm wieder ein: „Ach, ja! Sie sind der Doktor, der sich um den verletzten Seemann gekümmert hat!“

„Retzner“, stellte der Österreicher sich mit breitem Akzent vor und lächelte in die Runde. „Doktor Burkhard Retzner, aber bitte, lassen wir die Förmlichkeiten! Daheim nennt mich jeder bloß Hardy, also, seien Sie so frei und reden Sie mich auch so an. Dieses ganze Doktor-Getue hilft einem hier nicht wirklich weiter, im Gegenteil! Andauernd kommen dann die Leute gerannt und wollen etwas von einem!“

Er zwinkerte verschmitzt, wobei seine grünen Augen auffallend lange an Juliane hängenblieben, die ihn unverhohlen und neugierig musterte. Er wirkte sehr sympathisch und vertrauenerweckend, auch wenn er gut doppelt so alt sein mochte wie sie selbst. Seine fröhliche, humorvolle Art gefiel ihr. Sein schmales Gesicht mit der etwas schiefen Nase verzog sich zu einem Lächeln, was ihn sehr charmant aussehen ließ und sie lächelte zurück.

Friedrich räusperte sich. „Nun, wo haben Sie denn vor, die Nacht zu verbringen?“

Burkhard Retzner warf einen kurzen Blick auf das Stück Papier in seiner Hand. „Sunnyside Boarding House“, las er vor.

„Oh, wenn das kein Zufall ist!“, mischte Hubert sich nun mit einem Zwinkern ein. „Wir hatten auch vor, dort zu übernachten!“

„Warum begleiten Sie uns nicht einfach?“, schlug Friedrich vor und gab dem Doktor einen Wink, sich ihnen anzuschließen. „Wohin soll die Reise für Sie denn gehen? Wissen Sie das schon?“

„Westwärts“, erwiderte der Österreicher geradeheraus.

„Westwärts?“, wiederholte Friedrich und seine braunen Augen begannen zu leuchten. „Eine großartige Idee! Genau dasselbe hatte ich auch schon im Kopf, gleich von Anfang an! Kommen Sie, kommen Sie! Wir müssen unsere Unterkunft finden und morgen früh werden wir über die weiteren Vorbereitungen sprechen, wir beide, meine ich.“

Es dauerte noch fast eine halbe Stunde, bis sie „Klein-Deutschland“ erreichten. Klein-Deutschland war nichts anderes, als ein Stadtgebiet inmitten des riesigen New York, mit dem Unterschied, dass dort ausschließlich deutsche und deutschsprachige Auswanderer lebten. Sie fanden in der besagten kleinen Pension ein Zimmer, wo sie vorerst bleiben konnten.

„Du lieber Himmel!“, sagte Luise und starrte mit offenem Mund auf den engen Raum und den überfüllten Flur im oberen Stockwerk. Dieselbe Idee hatten andere Einwanderer vor ihnen auch schon gehabt und tummelten sich nun bis zur völligen Auslastung unter dem Dach des geschäftstüchtigen Pensionsbetreibers. „Schon wieder so viele fremde Leute auf einem Haufen!“

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9783742769848
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