Читать книгу: «Wind über der Prärie», страница 3

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„Keine Angst“, beruhigte Friedrich sie. „Ich bin sicher, wir werden nicht lange hier bleiben.“

Er ahnte nicht, wie recht er mit dieser Aussage behalten sollte, die er eigentlich nicht ernst gemeint, geschweige denn groß überdacht hatte! Das einzige, worauf er abzielte war, seine Frau davon zu überzeugen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte.

Nikolaus gähnte. „Wann krieg’ ich endlich was zu essen?“, wollte er wissen und rieb sich müde die Augen.

Juliane schwieg beharrlich, seitdem sie den Hafen verlassen hatten. Zum einen, weil ihr die Füße wehtaten und zum anderen, weil sie ihre Mutter nicht noch einmal verärgern wollte. Es war ihr auch alles zu viel im Augenblick. Ihr Kopf fühlte sich an, als habe ihr jemand wieder Alkohol zu trinken gegeben. Niemand durfte natürlich wissen, dass sie und ihre Freundin Annegret heimlich in deren Vaters Weinkeller eine Flasche gemopst hatten. Das war erst wenige Monate her. Sie hatten damals beschlossen, die Auswanderung zu begießen, wie Erwachsene es auch taten. Von dem säuerlichen Geschmack des Weins waren sie zum einen enttäuscht gewesen und konnten auch nicht nachvollziehen, weshalb die Erwachsenen so versessen darauf waren, das Zeug zu trinken. Zudem kam die ungewohnte Wirkung hinzu, die sie glauben ließ, nicht mehr Herr ihrer Sinne zu sein. Ganz abgesehen von den dumpfen Kopfschmerzen, der sie am anderen Tag auf Schritt und Tritt begleiteten. So in etwa fühlte Juliane sich in diesem Moment und sie konnte nicht sagen, ob sie das alles nur träumte oder ob es Wirklichkeit war.

In dem winzigen Raum, den sie sich teilen mussten, gab es nichts, außer durchgelegenen Matratzen auf dem Fußboden und einem kleinen Tisch. Luise ächzte. So hatte sie sich ihre Ankunft in dem hochgelobten Land weiß Gott nicht vorgestellt und sie schwor sich, keinen Tag länger als irgendnötig hierzubleiben.

Am anderen Morgen wachten sie zu später Morgenstunde völlig übernächtigt auf. Als Juliane und ihre Mutter den kleinen Saal betraten, in dem das Frühstück eingenommen werden konnte, waren Friedrich, Hubert und Nikolaus bereits mit ihrer ersten, amerikanischen Mahlzeit beschäftigt. Doktor Retzner hatte sich ebenfalls zu ihnen gesellt.

Jetzt, bei Tageslicht, konnte Juliane ihn genauer betrachten und sie musste zugeben, dass ihr erster Eindruck sie nicht betrogen hatte – er schien tatsächlich ein äußerst sympathischer, vertrauenswürdiger Mann zu sein.

„Nun, wie sehen Ihre Pläne für heute aus?“, wollte Friedrich nach einer Weile wissen, nachdem seine Frau und Tochter sich ebenfalls zu ihnen gesetzt hatten.

„Nun, ich werde nach dem schnellsten und günstigsten Weg suchen, um nach Westen zu kommen“, gab der österreichische Arzt zu und schmunzelte. „Denn ich habe nicht vor, unnötig Geld für teure Zugtickets auszugeben.“

Luise beäugte ihn, sichtlich irritiert. „Nein? Und wie wollen Sie dann von hier aus irgendwohin kommen?“

“Es gibt verschiedene Möglichkeiten.“ Burkhard Retzner wiegte bedächtig seinen Kopf. „Sehen Sie, ich habe gehört, dass es dort draußen irgendwo eine Stadt gibt, die sie das Tor zum Westen nennen und von dort kommen Sie überall hin, in jede Richtung dieses Landes!“

Friedrich hatte genau zugehört. „Darf ich fragen, ob es möglich wäre, dass Sie weitere Informationen über diesen Ort ausfindig machen und wie man dorthin käme?“

„Das ist genau das, was ich mir für diesen Vormittag vorgenommen habe!“

„Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie begleite?“

„Ganz und gar nicht!“ Der österreichische Arzt lächelte einnehmend. „Vielleicht können wir sogar einen Weg finden, uns die weiteren Reisekosten zu teilen!“

Friedrich hob eine Augenbraue, gab jedoch nicht sofort eine Antwort. „Lassen Sie uns zuerst einmal sehen, was wir alles erfahren“, erwiderte er ausweichend. Er schien noch nicht völlig davon überzeugt zu sein, ob er dem anderen Mann trauen konnte oder nicht.

„Und was sollen wir den ganzen Tag so treiben?“, fragte Hubert, ein wenig eingeschnappt, wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Zu gern wäre er auch mit auf Erkundungstour gegangen.

„Ihr?“ Friedrich überlegte einen Augenblick. „Ihr könnt euch ja ein bisschen die Stadt ansehen. Wir treffen uns hier wieder, irgendwann heute Nachmittag und dann werden wir euch mitteilen, was wir entschieden haben.“

Es war bereits Nacht, als Doktor Retzner und der Pastor zurück zur Pension kamen. Sie versammelten sich in ihrem Zimmer, wo Nikolaus und Hubert auf einer der Matratzen kauerten, während ihr Vater eine Karte auf dem Tisch ausgebreitet hatte.

„Wir haben Neuigkeiten“, verkündete er und die Aufregung war ihm anzumerken.

„Das heißt, wir verlassen diese Stadt?“ Es war mehr eine Feststellung denn eine Frage und augenblicklich fühlte Juliane die Hand ihrer Mutter, die ihr energisch auf den Arm klopfte. Es war das Zeichen, dass sie es unterlassen sollte, die Unterhaltung der Männer zu unterbrechen. Das gehörte sich nicht für eine anständige, junge Dame. Die Männer wussten, wovon sie sprachen und die Frauen hatten sich dem zu fügen, was sie entschieden. Wieder einmal regte sich in Juliane der Trotz. Sie war nicht dumm! Sie war in in vielen Bereichen besser gebildet als mancher Mann! Weshalb sollte sie darauf nicht stolz sein dürfen und zeigen, was sie konnte und wusste?

„Welche Neuigkeiten?“, fragte nun auch Hubert und stand auf, um die Karte näher inspizieren zu können. Das lummelige Licht der Deckenlampe reichte dafür gerade aus. Es handelte sich um einen ganz neuen Druck, der das komplette Gebiet der Vereinigten Staaten umriss.

„Ihr werdet es nicht erraten!“ Die grünen Augen des Österreichers funkelten triumphierend. „Übermorgen geht ein Wagentreck westwärts!“

„Ein Wagentreck?“, wiederholte Luise gedehnt, keinen Hehl aus ihrer Abneigung machens. „Und so bald schon?“

„Ja, und glauben Sie mir, das ist nur zu unserem Besten“, nickte Doktor Retzner. „Wir müssen vor dem Herbst und dem Wintereinbruch über die Rocky Mountains sein und jetzt, im Frühjahr, stehen die Chancen am besten, dass wir von St. Louis aus einen anderen Treck finden, dem wir uns anschließen können bis Oregon.“

„St. Louis?“, fragte Juliane. Es war ihr unmöglich, ihre aufsteigende Neugier bezüglich der bevorstehenden Ereignisse zu unterdrücken. „Wo ist das?“ Wieder fühlte sie die Hand ihrer Mutter, die auf ihre Schulter hämmerte, als Zeichen, endlich den Mund zu halten, dieses Mal jedoch wesentlich energischer.

„Gleich hier, Fräulein!“ Der Österreicher deutete auf einen Punkt auf der Karte, fast in der Mitte des riesigen Landes. „Und hier ist New York.“

Hubert betrachtete abschätzend die Distanz zwischen den beiden Orten und runzelte die Stirn. „Das ist eine verdammt lange Strecke mit einer Kutsche!“

„Hubert!“, wies sein Vater ihn zurecht. „Hier wird nicht geflucht!“

„Entschuldige“, murmelte sein Sohn und wich dem strengen Blick seines Vaters aus. „Aber es ist doch so, nicht wahr?“

„Natürlich“, stimmte der Österreicher zu. „Mehrere hundert Meile, schätze ich.“

„Warum nehmen wir dann nicht einfach den Zug?“, hakte Hubert verständnislos nach. „Wäre das nicht viel einfacher und sicherer und wir würden auf jeden Fall in St. Louis ankommen, völlig unabhängig von irgendewelchen Witterungseinflüssen?“

Friedrich legte seine Stirn in Falten. Ihm gefiel die direkte Art nicht, mit der sein Sohn hier redete, obwohl er nicht leugnen konnte, dass einige seiner erwähnten Punkte durchaus Sinn machten. „Der Grund ist ganz einfach – hast du dir einmal durchgerechnet, was so eine Zugfahrt von hier nach dort für uns alle kosten würde?“

„Nun, nein“, gab Hubert etwas kleinlaut zu.

„Wir sind fünf Köpfe“, fuhr sein Vater fort. „Und unsere Ersparnisse sind nicht endlos. Wir müssen ein wenig bedacht damit umgehen.“

„Ist St. Louis das Tor zum Westen, von dem ihr gesprochen habt?“, wollte Nikolaus nun wissen.

„Ja, mein Sohn, das ist es.“ Friedrich nickte, wobei er mit dem Zeigefinger eine Linie zwischen New York und der der genannten Stadt zog. „Und in einigen Wochen wirst du es selber sehen.“

„Was für Leute sind das, die uns auf diesem Wagentreck begleiten werden?“ Luise wirkte sehr erschrocken. „Und wird es für die Kinder sicher sein?“

„Nichts ist sicher in diesem Land“, erwiderte der Arzt mit einem vagen Lächeln. „Aber machen Sie sich wegen der anderen Reisenden keine Sorgen – die haben alle nur eins im Kopf: Nach Westen ziehen und ein neues Zuhause für sich finden!“

„Das ist korrekt“, unterstützte Friedrich ihn, um die Ängste seiner Frau zu zerstreuen. „Wir haben bereits mit einigen von ihnen gesprochen und es scheinen ordentliche Leute zu sein. Sie alle sind in derselben Ausgangslage wie wir und wir werden uns einen Wagen und Maultiere kaufen und...“

„Einen Wagen kaufen?“, echote Luise verwirrt. „Und Maultiere?“

„Natürlich, meine Liebe”, sagte ihr Mann, einen Arm um ihre Schulter legend. „Du wirst doch nicht etwa laufen wollen?“

„Nein, aber...“ Sie warf Burkhard Retzner einen finsteren Blick zu, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Mann schenkte. „Das hat offen gestanden wenig damit zu tun, wie ich es mir in diesem neuen Land vorgestellt hatte...“

„Ich auch nicht“, grummelte Juliane leise, mit finsterer Miene.

„Ich finde es großartig! Wir werden unsere eigenen Maultiere haben!“ Nikolaus schien der einzige, der sich freute, während er aufgeregt auf der Matratze herumhüpfte. „Darf ich sie dann auch striegeln?“

Grinsend zerraufte Hubert seinem Bruder das dunkelbraune Haar.

„Natürlich, Kleiner, du darfst sie jeden Tag saubermachen!“

„Sehen Sie”, versuchte Doktor Retzner ihnen zu verdeutlichen. „Es ist ja nicht so, dass Ihre Ausgaben zu Ende sind, wenn Sie mit dem Zug in St. Louis angekommen sind! Von dort kommen Sie ohne Pferd oder Kutsche nirgends mehr hin und ich vermute mal, keiner von Ihnen ist erpicht darauf, Monate im Sattel zu verbringen.“

„Ganz und gar nicht!“ Luise seufzte. Es schien keine Möglichkeit zu geben, dieser Sache noch einmal zu entkommen und ihr schwirrte der Kopf ob all der unerwarteten Wendungen. Ein Wagen mit Maultieren und sie sollte damit quer durch dieses riesige Land ziehen!

„Wir könnten den Winter auch in St. Louis verbringen, uns eine Arbeit suchen, ein bisschen Geld dazuverdienen und sobald der Schnee schmilzt, suchen wir uns einen Führer, der uns sicher über die Rocky Mountains bringt.“

„Was soll eigentlich die Endstation unserer Reise sein?“, Hubert gab es nicht zu, aber er spürte durchaus ein wenig Besorgnis, wenn er sich das bevorstehende Abenteuer ihrer Reise ausmalte. Er hatte genug in den Zeitungen gelesen, um von Indianermassakern und todbringenden Krankheiten zu wissen. Er konnte nicht behaupten, sonderlich erpicht darauf zu sein, mit irgendwelchen Indianern zu kämpfen.

Friedrich lächelte. „Ich bin mir sicher, dass sich alles zum Besten entwickeln wird.“ Bilder erschienen vor seinem inneren Auge, die seine eigene Kirche zeigten in einer neuen Stadt, die er mitbegründet hatte. „Wir ziehen von St. Louis über die Town Of Kansas zum Oregon Trail.“

„Wo ist Oregon?“ Huberts Augen glitten über die Karte, doch er konnte keinen Ort mit diesem Namen entdecken.

„Hier drüben.“ Doktor Retzner half ihm, wobei er auf den Teil der Karte tippte, der sich zuweitest an der Westküste des Kontinents befand. „Wie ich gehört habe, ist es das beste Grasland und der Boden so fruchtbar, dass alles darauf wächst. Dazu müssen riesige Wälder dort zu finden sein.“

„Wir sind keine Farmer“, wagte Hubert vorsichtig einzuwerfen. „Keiner von uns hat die leiseste Ahnung von solchen Dingen.“

Friedrich schmunzelte. „Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, mein Junge. Die Wege des Herrn sind unergründlich, wie du weißt und wer kann schon sagen, was er sich für uns überlegt hat?“

Bei Morgengrauen des vierten Tages ihres Aufenthalts in New York war es soweit. Dicke Nebelschwaden hingen über den Dächern, wobei ein kühler Wind durch die Gassen blies. Hubert wachte als erster auf und öffnete den Vorhang, um hinab, auf die noch menschenleere Straße zu blicken. Er schob das Fenster nach oben, ließ die kühle Luft herein und atmete tief durch. Der letzte Morgen, den er in New York erwachte. Er lächelte. Gestern hatten Doktor Retzner und sein Vater ihr Geld zusammengelegt und einen Planwagen erstanden, zusammen mit zwei struppigen, großen Maultieren mit langen Ohren und einer gewissen Schläfrigkeit im Blick. Für Nikolaus war es Liebe auf den ersten Blick gewesen und er hatte sie bereits „Hans“ und „Otto“ getauft, völlig unbeeindruckt davon, dass es sich um zwei Stuten handelte.

Hubert verließ das Zimmer leise und schloss die Tür lautlos hinter sich, um seine Familie nicht zu wecken, die noch fest schlief. Im Korridor angelangt, bemerkte er eine vertraute Gestalt hinter sich und drehte sich um, nur um Juliane dabei zu ertappen, wie sie gemächlich den Flur entlang schlenderte, der überfüllt war mit Einwanderern, die mangels eines freien Zimmers hier nächtigten.

„Guten Morgen! Du bist ja schon unterwegs! Gut geschlafen?“

„Kann ich nicht behaupten!“ Sie reckte ihre Arme und unterdrückte ein Gähnen. „Hab’ von unserem Treck nach Oregon geträumt...schlimme Sache, kann ich dir sagen.“

„Warum?“ Hubert konnte nicht anders, sondern musste amüsiert grinsen. Er wusste, wie theatralisch seine Schwester sein konnte, besonders dann, wenn eine Sache gegen ihren Dickkopf ging.

„Wir sind nicht in Oregon gelandet, in meinem Traum“, rief seine Schwester sich ins Gedächtnis zurück und runzelte die Stirn. „Wir haben irgendwo, an einem sehr merkwürdigen Ort eine Stadt errichtet und ich erinnere mich, dass ich vorhatte zu heiraten...vollkommen abwegig!“

Hubert lachte leise und ließ seinen Blick kopfschütteln über sie gleiten. Sie trug nur eine Bluse und einen Rock, beides zerknittert und die Bluse noch nicht einmal in ihren Gürtel geschoben, noch dazu zwei offene Knöpfe am Kragen. „Du solltest dich lieber anständig anziehen, bevor Mutter dich in dieser Aufmachung mitten auf dem Flur einer öffentlichen Pension zu Gesicht bekommt!“

Juliane gähnte erneut und begann, ihre zerknitterte Bluse glatt zu streichen und ihren Rock zu ordnen.

„Für einen Siedlertreck ist das alles ganz schön unpraktisch“, erklärte sie in ihrer offenen, ehrlichen Art und seufzte. „Wenn doch bloß diese Unterröcke nicht wären!“

„Mutter wird dir kaum erlauben, dass du Hosen anziehst!“, meinte Hubert leise und grinste, einen Blick über seine Schultern zurückwerfend, hinaus zu dem Fenster des Flurs. Dort unten, hinter der Scheibe, konnte er die Straße erkennen, wo die Stadt allmählich begann, zu erwachen und sich zu regen.

„Das befürchte ich beinahe auch“, erwiderte seine kleine Schwester gequält, wobei sie fand, dass es an der Zeit war, sich ihr Haar zu kämmen. „Aber vielleicht darf ich irgendwann die Unterröcke weglassen.“

„Solange es so kalt ist? Ich würde nicht darauf hoffen. Es wäre vermutlich auch keine besonders gesunde Idee.“

„Hmm.“ Das Mädchen hob resigniert die Schultern. „Du hast recht. Trotzdem – mir gefällt diese ganze Sache mit dem Wagentreck und den Maultieren und allem sowieso nicht. Und mir gefällt noch weniger, wenn ich daran denke, dass ich ständig auf diesen Karren klettern muss, mit all den unpraktischen Röcken und diesem hässlichen Kopftuch.“

Eine Stunde später waren Friedrich und Luise Kleinfeld zusammen mit ihren Kindern und Doktor Burkhard Retzner so weit, dass sie sich zum Treffpunkt für den Siedlertreck aufmachen konnten. Jeder trug irgendein Gepäckstück die Treppe hinab zur Rezeption, hinter der ein älterer Herr saß, um sie zu verabschieden.

„Siedlertreck“, wiederholte er gedehnt, als Friedrich ihm auf Nachfrage von ihrem Vorhaben berichtete und runzelte die Stirn. „Sie wissen hoffentlich, auf was Sie sich da einlassen?“

„Natürlich“, versicherte Friedrich mit einem zuversichtlichen Lächeln, wie nur ein Geistlicher es fertigbrachte. „Wir möchten nach Oregon oder Kalifornien, jedenfalls nach Westen.“

„Schön, schön!“ Der Rezeptionist nickte besonnen. „Meine Familie lebt jetzt in der vierten Generation in diesem Land und ich habe weiß Gott eine Menge Trecks nach Westen ziehen sehen!“ Sein Blick glitt über die ihm fremden Menschen hinweg. „Ein Spaziergang wird das nicht, das ist Ihnen hoffentlich klar?“

„Wie charmant von Ihnen, uns darauf hinzuweisen“, erwiderte Doktor Retzner und entsann sich im selben Moment, dass er ja Englisch sprechen musste, damit der Mann ihn verstehen konnte. Da er sich jedoch außerstande sah, das eben Gesagte zu übersetzen, vollendete er: „Hier im Osten ist doch kein Platz für uns alle! Wo sollen wir denn hin? Und Amerika ist so groß und gerade weiter im Westen gibt es so viel Land, das noch ungenutzt ist und...“

Der Rezeptionist nickte und brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Nun, ich sehe, das wird für einige Leute ein echtes Abenteuer. Darf ich fragen, welchem Treck Sie sich anschließen wollen?“

„Oh, das ist einer mit nur etwa zwanzig Familien, die entweder mit demselben Dampfer wie wir hier angekommen sind oder ein paar Tage zuvor schon.“

„Aha!“, machte der Mann und verzog das Gesicht. „Also ein ganzer Haufen voller Grünschnäbel, die in ihrem Leben weder einen Grizzlybären, noch einen Wolf gesehen haben!“

„Grizzlybär?“ Luise schaute schockiert. „Was ist das, ein Grizzlybär?“

„Wie der Name schon sagt, Ma’am“, half der Rezeptionist ihr auf die Sprünge, „handelt es sich um eine große und nicht sehr freundliche Kreatur. Wenn Sie dort hinausgehen und ihre Route westwärts einschlagen, werden einige sehr interessante Überraschungen auf Sie warten, mit denen Sie vermutlich nicht gerechnet hätten! Und es gibt in der Tat eine Menge an wilden Tieren und anderen Dingen da draußen, mit denen nicht gespaßt werden sollte! Aber, bitte, Sie wissen ja vermutlich selbst, was Sie wollen!“

Nun wurde auch Doktor Retzner hellhörig. „Was wollen Sie damit sagen? Dass wir zu blöd sind, um in der Wildnis zu überleben?“

„Das haben Sie gesagt, Mister“, entgegnete der Mann mit einem Grinsen. „Ich kann Ihnen jedefalls nur sehr viel Glück wünschen!“

Ein Stück außerhalb der ersten Häuser New Yorks, auf einer großen, freien Wiese, hatte sich bereits eine gewaltige Anzahl von Menschen versammelt. Dazwischen standen Maultier- und Ochsenwagen und Handkarren herum, bereit für die Abfahrt. Es mussten mindestens siebzig bis achtzig, wenn nicht noch mehr Personen sein, die darauf warteten, sich dem Treck anschließen zu können, die Kinder nicht mitgezählt. Sie stammten aus den unterschiedlichsten Ländern und redeten in den verschiedensten Sprachen. Da waren Norweger, Schweden, Spanier, Holländer und Ungarn, dazwischen ein paar Engländer und Griechen.

„Es ist unglaublich!“, fand Friedrich und schüttelte den Kopf.

„Der Rezeptionist hatte womöglich nicht ganz Unrecht“, stellte Hubert gedehnt fest und vermied es, den Blick zu heben.

„Wie meinst du das?“ Sein Vater wirbelte herum. „Inwiefern? Willst du etwa lieber hierbleiben? In dieser...dieser Stadt?“

„Nun, es fängt doch schon damit an, dass wir den Maultieren nicht zumuten können, uns alle den ganzen Weg zu ziehen. Das würden sie vermutlich kaum überleben!“

„Oh nein!“, rief Nikolaus erschrocken. „Nicht Hans und Otto!“

„Und was, bitteschön, schlägst du dann vor? Ein zweites Gespann geben unsere finanziellen Ressourcen nicht mehr her!“ Friedrich kreuzte die Arme vor der Brust, seinem Ältesten einen strengen Blick zuwerfend. Etwas ging mit seinem Sohn vor sich, er widersprach so häufig wie nie, seit ihrer Ankunft in diesem sogenannten Land der großen Freiheit.

„Wir müssen uns abwechseln. Jeder von uns muss einige Meilen pro Tag laufen und damit die Belastung für die Maultiere so gering wie möglich halten.“

„Ich ganz bestimmt nicht!“, rief Juliane entrüstet und verschränkte ihre Arme trotzig vor der Brust. Luise versetzte ihr mit der flachen Hand einen unwirschen Schlag auf die Wange.

„Sei still, wenn Männer miteinander reden!“

„Ich werde laufen“, verkündete Nikolaus eifrig, allerdings nicht wirklich glücklich und runzelte die Stirn. „Ich will nicht, dass Hans und Otto sterben müssen!“

Mit gemischten Gefühlen fuhr Friedrich sich mit den Händen übers Gesicht. Schließlich räusperte sich Doktor Retzner hinter ihm. „Verzeihung, aber...“

„Haben Sie eine bessere Idee?“

„Nein und ich denke, dass Ihr Sohn völlig richtig liegt. Wir haben keine andere Möglichkeit und jeder von uns wird sein Pensum pro Tag zu Fuß zurücklegen. Allerdings sehe ich darin keine allzu großen Probleme. Ein bisschen Bewegung ist besser für den menschlichen Körper als ständig nur herumzusitzen.“

Friedrich seufzte gereizt. Er verabscheute die Vorstellung, neben dem Wagen herzustapfen, nachdem sie ihn schon für einen Haufen Geld erstanden hatten und offenbar nur dafür, dass er trotzdem seine Beine benutzen musste!

„In Ordnung“, raunzte er den Doktor an. „Lassen Sie uns bloß hoffen, dass dieses Tor zum Westen nicht ganz so weit entfernt ist, wie es auf der Landkarte ausgesehen hat!“

Tiefe Spuren von eisenbereiften Rädern zeichneten sich auf der Art Landstraße ab, die vom Regen der letzten Tage durchweicht war. Pferde schnaubten, Atemwölkchen vor den Nüstern bildend, und hin und wieder brüllte ein Ochse. Ein paar Kinder jammerten, weil ihnen kalt war und einige junge Frauen beschwerten sich, dass sie nicht mehr gehen konnten, weil sie entsetzliche Blasen an den Füßen hatten.

„Wenn ich mir vorstelle, welchen Luxus wir in einem Zugabteil nun genießen würden“, sagte Luise inbrünstig und ein bisschen wehmütig, während sie ihre Jacke fester vor ihrer Brust zuzog. Ihr fröstelte. „Wenn ich mir ausmale, dass es täglich so weitergeht, bis Oregon...“ Sie brachte den Satz mit einem Kopfschütteln zu Ende. Sie fuhren zwischen unzähligen anderen Karren in eine Dunst von Nieselregen. Ein paar einzelne Reiter waren dazwischen zu entdecken, meist junge Männer, voller Tatendrang und Sehnsucht nach Abenteuern. Mindestens genauso viele marschierten jedoch zu Fuß, weil ihr Geld nicht ausreichte, um sich ein Fortbewegungsmittel zu erwerben.

„Geh doch nach hinten, zu Nikolaus, und ruh dich ein bisschen aus“, schlug Juliane vor, ihre Mutter besorgt beobachtend. „Du bist ganz blass. Hardy und ich schaffen das hier oben auch alleine.“

Der österreichische Arzt nickte zustimmend. „Sie sehen wirklich nicht gut aus!“

„Ich fühle mich auch entsetzlich“, gab Luise zu und erhob sich. Ihren Rock und die Unterröcke raffend kletterte sie über die Lehne des Kutschbocks nach hinten, in den von der Plane überspannten Teil des Wagens. Dort schlief Nikolaus, müde und erschöpft von der nun bereits vier Wochen andauernden Reise.

Doktor Retzner seufzte. „Diese verflixte Kälte!“

Juliane schaute ihn an. Er hielt die Zügel der beiden Maultiere fest in der Hand. Der österreichische Arzt hatte sich nicht nur als hervorragender Kutscher, sondern auch als großartiger Kartenleser und Entfernungsberechner bewiesen. „Wann, glauben Sie, werden wir endlich in dieser Stadt zum Westen angelangt sein?“

Doktor Retzner hob die Achseln, wobei sein zu lang gewordenes, strohblondes Haar sanft mitwippte. „Es sollte nicht mehr sehr weit sein.“ Überlegend richtete er den Blick gen Himmel. „Meinen Berechnungen nach, dürfte es sich nur noch um Stunden handeln.“ Er nickte zuversichtlich.

Juliane seufzte tief und warf den geflochtenen Zopf ihres langen, rotblonden Haares zurück. „Wir sind jetzt beinahe vierzig Tage unterwegs und ich habe schon jetzt keine Lust mehr. Ich frage mich, ob es den anderen auch so geht...“

Doktor Retzner lächelte. Seine grünen Augen bedachten sie mit einem liebevollen Blick. „Keine Angst, kleine Julie, lass uns erstmal in St. Louis ankommen und all die anderen treffen, die gen Westen wollen.“

„Julie?“, wiederholte das junge Mädchen gedehnt und starrte ihn irritiert an. „Was ist das?“

Doktor Retzner lachte leise auf. „Das ist die englische Form deines Namens! Du glaubst doch nicht etwa, dass ihr eure Namen hier allzu lange in der deutschen Form behalten werdet, hier, wo alles Englisch spricht? Eure Namen sind so kompliziert, dass sich die meisten die Zunge brechen würden!“

Juliane lächelte. Wenn sie mit Doktor Retzner auf dem Kutschbock saß und ihr Vater und Bruder neben- oder hinterher marschierten, verging die Zeit immer schneller. Die Quelle seiner Geschichten und humorvollen Bemerkungen schien unerschöpflich und Juliane liebte es, ihm zuzuhören. Auch sein unglaubliches Wissen faszinierte sie. Er schien immer auf alles eine Antwort zu kennen, nichts schien ihm unbekannt. So fragte sie jetzt: „Wie würden die Leute uns dann auf Englisch nennen?“

Doktor Retzner musste schmunzeln. Wie unglaublich naiv sie doch war! „Du hast nicht den Schimmer einer Ahnung, nicht wahr?“

„Ahnung? Wovon?“

„Dass sich nicht nur eure Namen mit diesem Land verändern werden, sondern auch ihr selbst...du und deine Eltern und deine Brüder und ich natürlich auch. Wir alle werden mit diesem Land, das wir besiedeln, wachsen – oder scheitern. Das steht in unserer Macht, aber wir werden unsere Vornamen auch deshalb anders aussprechen, weil wir dazugehören wollen, weil wir uns als ein Teil dieses ungezähmten, weiten Landes betrachten werden. Verstehst du?“

Juliane starrte ihn lange an. Wenn er in solch ernste, philosophische Überlegungen ausbrach, bekam sein freundliches Gesicht immer einen eigenartigen Ausdruck, als befände er sich gar nicht mehr hier, sondern irgendwo weit fort, auf einer Wolke, die ihn von einem Gedanken zum nächsten trug.

„Doch“, sagte sie schließlich, „ich verstehe. Wir werden keine Deutschen mehr sein, sondern Amerikaner.“

Ein Lächeln bildete sich auf dem Gesicht des Österreichers, das von den zurückliegenden, anstrengenden Wochen eingefallen und müde wirkte.

„Ganz recht. Wir werden alle irgendwann amerikanische Ausweise bei uns tragen. Du wirst Julie heißen, dein Vater vielleicht Frederick, deine Brüder Hugh und Nicolas und deine Mutter...nun, da bin ich mir offen gestanden nicht ganz sicher, aber ich glaube, sie müsste dann mit einem ‚ou‘ in der Mitte geschrieben werden.“

„Julie“, sagte das junge Mädchen verträumt. „Mein Name ist Julie Kleinfeld. Klingt das nicht schon sehr amerikanisch?“

Doktor Retzner schmunzelte. „Sehr!“, versicherte er mit Nachdruck. „Nur der Nachname, an dem müssen wir noch ein bisschen feilen!“

„Wie übersetzt man Kleinfeld?“, wollte Juliane wissen. Sie unterhielten sich immer auf Deutsch, was ihrer Sprachförderung nicht gerade zugute kam.

Doktor Retzner zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht, wirklich nicht...Julie!“ Er grinste breit, als er den zufriedenen Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht bemerkte. „Weißt du was? Von jetzt an werde ich dich nur noch so nennen!“

Ein paar Meter neben dem Wagen, abseits von dem aufgeweichten Schlamm der Straße marschierten diejenigen, die sich entweder keinen Wagen hatten leisten können oder sich mit anderen beim Fußmarsch abwechseln mussten, weil die Tiere nur eine bestimmte Anzahl von Leuten ziehen konnten.

„Bald fängt es wieder zu dämmern an“, meinte Hubert und richtete seinen Blick nach oben, zu den grauen Aprilwolken. „Ich frage mich, wann wir endlich ankommen werden.“

Sein Vater schien ihm nicht richtig zugehört zu haben. „Ja“, erwiderte er nur. „Ja, ja.“

Erstaunt zog Hubert die Brauen hoch. „Was ist denn?“, wollte er wissen und folgte dem Blick seines Vaters, der an ihrem Wagen, genauer, am Kutschbock hing, wo sich seine einzige Tochter und der österreichische Arzt angeregt unterhielten.

Hubert musste ein Grinsen unterdrücken. „Sieht fast so aus, als würden Hardys Berechnungen nicht nur auf dem Interesse einer schnellen Ankunft beruhen“, gluckste er, nur mit Mühe die Beherrschung wahrend.

Friedrich warf ihm einen strengen Blick zu. „Solche Anschuldigungen verbitte ich mir! Ich halte Hardy für einen ausgesprochen höflichen, wohlerzogenen, jungen Mann!“

„Oh, ich habe nichts Gegenteiliges behauptet!“, wagte Hubert zu widersprechen. Niemandem konnte entgehen, mit welch ungewöhnlicher Aufmerksamkeit der österreichische Arzt seine kleine Schwester bedachte. „Aber ich bin der Ansicht, er passt nicht zu ihr.“

„Passen!“, stieß Friedrich verächtlich hervor. „Was heißt hier passen? Ob ein Ehemann zu einem Mädchen passt oder nicht, haben immer noch die Eltern zu entscheiden.“

Huberts braune Augen weiteten sich. Er biss sich auf die Lippen. „Du...du meinst, Hardy und Juliane sollten...ich meine...sie sollten...“

„Warum nicht?“, unterbrach Friedrich sein Gestammel. „Nicht sofort, natürlich! Erst, wenn wir am Ziel angekommen sind und uns eine Existenz aufgebaut haben. Vorher gebe ich sie ihm nicht, aber dann – was spricht dagegen?“

Hubert atmete tief durch. Er konnte sich nicht helfen. Sicher, die Argumente seines Vaters waren durchaus vernünftig. Bisher hatte Hardy sich nur von seiner besten Seite gezeigt und Hubert bezweifelte, dass es da eine andere, eine schlechte Eigenschaft an ihm gab, die sie noch nicht kannten. Doch es gab einen Punkt, den er ganz klar in Frage stellte und den er für die Eheschließung als absolut notwendig erachtete: „Juliane liebt ihn nicht.“

Friedrich starrte ihn perplex an. „Bitte?“, fragte er. „Was hast du gesagt?“

Hubert schluckte. Er wusste, was es bedeutete, sich mit seinem Vater auf eine Diskussion einzulassen. Friedrich war gebildet und schlagfertig und zudem noch mit einem gesunden Selbstbewusstsein ausgestattet, durch das er sich unangefochten als Oberhaupt innerhalb seiner Familie sah.

„Nun“, erwiderte der junge Mann gedehnt. „Ich denke, dass Juliane nicht die Gefühle für ihn hegt, die für eine Ehe wichtig wären.“

„Liebe“, sagte Friedrich und das Wort klang aus seinem Mund, als sei es ein Fremdwort. „Liebe innerhalb einer Ehe bringt meistens nur Ärger mit sich! Die Liebe kommt schon im Laufe der Jahre, wenn erst einmal Kinder da sind und die Frau weiß, wo sie hingehört! So war das auch bei eurer Mutter und mir! Unsere Eltern haben bestimmt, dass wir heiraten werden und wie du siehst, sind wir nach fast zwanzig Jahren immer noch glücklich. Was können zwei Menschen sich mehr wünschen?“

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