Читать книгу: «Wind über der Prärie», страница 11

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„Legt ihn auf den Tisch“, ordnete Geertje an, die vorausgeeilt war und das Gewehr hinter den Ofen stellte. „Ich koche Wasser auf!“

„Und ich werde die beiden Pferde einfangen und seinen Kumpanen darauf festbinden, damit er ihn später mitnehmen kann“, erklärte Torbjörn mit einem letzten, kritischen Blick auf den jungen Indianer, ehe er sich abwandte und hinauseilte. Er traute dem Kerl nicht, genauso wenig wie dieser ihnen traute.

„Was wirst du jetzt tun?“, fragte Geertje. Die Aufregung und Furcht war ihr anzumerken.

„Ich muss versuchen, die Kugel zu entfernen und die Blutung zu stillen“, entgegnete Julie, während sie bereits mit einem Messer das lederne Hosenbein aufschnitt, um sich die Wunde ansehen zu können. „Reiß irgendein sauberes Leintuch in Streifen“, bat sie, ohne aufzusehen. Der junge Mann musste große Schmerzen haben, denn er ballte seine Hände zu Fäusten und hörte nicht auf, mit den Zähnen zu knirschen. Julie arbeitete flink und geschickt. Sie hatte nur ein einziges Mal dabei zugesehen, wie Doktor Retzner einem jungen Cowboy eine Kugel entfernt hatte und das war in St. Louis gewesen. Sie konnte sich jedoch an alles exakt erinnern, was er ihr damals erklärt hatte. Sie wusste, welches Risiko sie einging. Ein falscher Schnitt und das Leben dieses jungen Indianers wäre vorüber, aber sie hatte keine andere Wahl. Mit der Kugel im Bein stand es ebenso schlecht um ihn. Sie bemühte sich, die Messerschneide schnell und gezielt zu setzen, um an die Kugel heranzukommen. Bald waren ihre Finger blutverschmiert, doch sie spürte unter der Haut und dem Fleisch, dass sie diese gleich zu fassen bekommen würde.

Sie wusste nicht, wie lange sie gebraucht hatte, dann hielt sie die Kugel zwischen den Enden der Pinzette und wunderte sich, welch mächtige Geschoße ein Gewehr abzufeuern vermochte. Hastig schüttete sie etwas Alkohol über die Wunde, ehe sie ein Stück des Leintuchs darauf presste und mit einem weiteren Streifen festband.

Erst jetzt richtete sie ihre Augen wieder auf das Gesicht des jungen Indianers. Seine Augen starrten regungslos zur Decke, die Lippen zu einem schmalen Streifen zusammengebissen. Nicht ein Laut, nicht eine Klage war während der ganzen Prozedur aus seiner Kehle gekommen. Julie hatte nicht bemerkt, dass Geertje die ganze Zeit über neben ihm gestanden und ihm mit einem feuchten Lappen den Schweiß vom Gesicht gewischt hatte. Dabei waren auch die beiden weißen Streifen auf jeder Wange abgewaschen worden und jetzt wirkte er nicht mehr ganz so furchterregend. Fasziniert betrachtete Julie sein kantiges Gesicht. Es war von eigentümlich bräunlicher Farbe, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Er schien ihren Blick zu bemerken, denn seine dunklen Augen suchten die ihren. Im Schein des Feuers, das im offenen Kamin brannte, leuchteten Julies bernsteinfarbene Augen beinahe golden und sie lächelte – weshalb, sie wusste es nicht. Sie lächelte einfach auf diesen fremden, jungen Wilden hinab, dem sie womöglich soeben das Leben gerettet hatte. Es war ihr unmöglich einzuschätzen, ob er es schaffen konnte oder nicht. Sie war kein Arzt, sie war nur ein törichtes Mädchen, das gelernt hatte, einem studierten Mediziner zu assistieren. Nie wieder, das schwor sie sich, würde sie es wagen, eine Operation auf eigene Faust durchzuführen, ganz gleich unter welchen Umständen.

„Hier!“ Geertjes leise Stimme riss sie aus den Gedanken. Noch immer starrte der junge Mann sie mit undefinierbarem Ausdruck an. Kein Zucken einer Wimper verriet, was in ihm vorging.

„Oh!“, machte Julie dankbar und tauchte ihre Hände in die Schüssel kalten Wassers. Das Blut hatte bereits zu trocknen begonnen und war nur schwer wieder abzuwaschen. Sie fühlte sich furchtbar müde und wie erschlagen. Erst jetzt fiel ihr auf, wie dunkel es durch die Regenwolken draußen geworden war.

„Du liebe Güte!“, entfuhr es ihr, als sie die Bäche von Wasser bemerkte, die vom Himmel stürzten und auf das Dach des Hauses trommelten.

„Ja“, erwiderte Geertje. „Kein besonders gutes Wetter für deinen langen Heimritt!“

Julies Blick richtete sich wieder auf den Indianer. „Wir lassen ihn noch ein wenig liegen. Ich bin sicher, er wird entweder darauf aus sein, uns den Garaus zu machen oder zu entkommen. Aber ich würde sagen, er ist zu beidem nicht in der besten Verfassung.“

„Soll ich ihm etwas zu trinken geben? Vielleicht Kaffee?“, fragte Geertje.

„Lieber nicht!“ Julie schüttelte den Kopf. „Lieber Wasser, denn ich bezweifle, dass er Kaffee jemals zu sich genommen hat.“

Bald darauf kam Torbjörn zurück, durchnässt und verdreckt. Er betrachtete den ungeladenen Gast in seinem Hause misstrauisch, während er Holz nachlegte und sich an den Kamin stellte.

Julie saß auf einem Stuhl neben dem Tisch. Sie beobachtete den jungen Indianer, der ihr von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick zuwarf. Seine Miene hatte sich ein wenig entspannt, die Schmerzen schienen allmählich erträglicher zu werden. Es war Julie unmöglich, ihren Blick von ihm abzuwenden. Einerseits war sie fasziniert von seinem fremdartigen Aussehen, andererseits spürte sie eine tiefe Furcht vor ihm. Sein schwarzes Haar hing lang, bis fast auf seine Hüften hinab und jetzt über den Rand des Tisches. Behutsam streckte Julie den Arm aus, um es zu berühren. Es fühlte sich fest und dick an, fast ein wenig wie der Schweif eines Pferdes. Die großen, dunklen Augen beobachteten sie genau, doch schienen sie nicht zu wissen, was sie davon halten sollten. Schnell, über ihr eigenes Verhalten entsetzt, zog Julie ihren Arm zurück und sprang auf.

„Ich glaube, es ist Zeit, dass er versucht, aufzusitzen.“ Sie wartete nicht ab, bis Torbjörn ihr zu Hilfe kam, sondern griff nach dem muskulösen Arm und zog daran. Der junge Indianer verstand. Langsam richtete er sich auf, seine Hand griff nach seinem Oberschenkel. Kein Zucken, keine Veränderung seiner Miene verriet, ob er Schmerzen verspürte oder nicht. Er schwang die Beine vom Tisch und belastete das unverletzte rechte.

Zweifelnd runzelte Torbjörn die Stirn. „Glaubst du wirklich, dass er reiten kann?“

„Er wird müssen“, erwiderte Julie leise. „Du wirst ja kaum heute Nacht ein Auge auf ihn werfen wollen!“

„Auf keinen Fall!“, rief Torbjörn prompt und beobachtete, wie der junge Indianer zur Tür humpelte, noch immer von Julie gestützt.

Einen Augenblick zögerte er, als ihm der kalte, prasselnde Regen entgegenschlug, doch dann erblickte er die beiden Pferde an dem Strauch, neben Julies Fuchs, direkt am Haus. Zwei Schritte genügten, um sie zu erreichen. Sie ließ ihn los und trat zurück. Sie musste noch immer damit rechnen, dass er Rache nahm und das ausführte, weshalb sie vermutlich hergekommen waren – nämlich, die kleine Farm zu plündern und die Stromsons zu ermorden.

Nur mit Hilfe seiner muskulösen Arme zog er sich auf den Rücken des Braunschecken, dann griff er nach den Zügeln des anderen Pferdes. Er warf einen letzten, abschätzenden Blick zurück auf die drei Weißen, die im Eingang des Hauses standen und ihn beobachteten. Er schien ihnen noch immer nicht zu trauen, denn er trieb sein Reittier sofort in Galopp und preschte mit ihm davon, den sanften Anstieg hinauf und war im nächsten Moment hinter den Bäumen verschwunden.

„Grund gütiger!“, entfuhr es Geertje und sie atmete auf. „Was für ein Tag!“

„Einer der Soldaten aus dem Fort hat mir erzählt“, sagte Torbjörn, die Augen zusammenkneifend, „dass die Bemalung des Gesichts bedeutet, dass sie sich auf dem Kriegspfad befinden.“

„Auf dem Kriegspfad?“, wiederholte Julie, während ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Um Himmels Willen! Ich muss sofort zurück zur Siedlung! Vielleicht haben sie dort auch zugeschlagen und es waren deshalb bloß zwei von ihnen hier, bei euch!“

Geistesgegenwärtig war Torbjörn ins Haus zurückgeeilt, um Julies Instrumententasche zu holen. Julies Hände zitterten, als sie diese am Sattel festknotete. Der Regen fiel noch immer in großen Tropfen auf sie herab; sie nahm es kaum wahr. Während sie einem dieser Indianer, von dem sie weder einen Namen, noch sonst etwas wusste, die Kugel entfernt hatte, war der Rest vielleicht in die Siedlung eingedrungen! Bilder, die ihr Entsetzen und ihre Panik nur noch verstärkten, erschienen vor Julies Augen. Sie konnte sich noch genau an den Brand der beiden Häuser erinnern, die durch die Pfeile der Indianer entstanden waren und sie hörte noch immer die Schüsse aus den Colts und Gewehren der Verfolger. Nie würde sie das vergessen können, niemals.

Sie winkte den Stromsons zum Abschied, ehe sie den Fuchs antrieb, der dankbar in einen runden, ausgreifenden Galopp fiel. Er stand seit über drei Stunden nun schon in der Kälte und dem Regen und er wollte nach Hause, in seinen warmen, gemütlichen Stall und zu seinem Futter.

Julie merkte kaum, wie die mittlerweile vertraute Landschaft an ihr vorbeiflog. Sicher trug der Wallach sie über Steine und Geröll, Büsche und Kaninchenlöcher hinweg ohne zu straucheln. Sie ließ ihm die Zügel lang und er suchte sich seinen Weg alleine. Er kannte ihn und sein innerer Instinkt lenkte ihn besser, als je ein Mensch dazu fähig gewesen wäre.

Hinter der nächsten Biegung des kaum sichtbaren Pfades lag die Siedlung und Julie atmete erleichtert auf, als sie alle Häuser unversehrt vor sich auftauchen sah. Sie zügelte den Fuchs und ließ ihn im langsamen Trab die Hauptstraße hinablaufen. Er schnaubte laut und keuchend und bockte ein wenig. Er schien trotz des langen, schnellen Rittes noch nicht erschöpft zu sein. Vor der Praxis von Doktor Retzner hatte sich ein Menschenauflauf gebildet und Julie kniff verwundert die Augen zusammen. Es schien ihr, als seien alle Bewohner hier zusammengekommen, sogar die Frauen und einige Kinder. Hinter den Menschen erblickte sie einige Pferde und Soldaten und in dieser Sekunde wusste sie, dass etwas geschehen sein musste.

„Juliane!“ Der Aufschrei ihrer Mutter brachte Bewegung in die Gruppe und aufgeregte Rufe und erleichtertes Geschrei schlugen ihr entgegen.

„Julie!“ Hardy war als erster bei ihr, zog sie aus dem Sattel, schüttelte sie. „Sind Sie in Ordnung? Ist Ihnen auch nichts passiert?“

Verständnislos blinzelte Julie ihn an. „Nein! Was soll mir denn passiert sein?“

Jetzt erreichten auch ihr Vater, Hugh und Nikolaus sie. Ihr kleiner Bruder umarmte sie stürmisch und presste sein Gesicht gegen ihren Bauch.

„Gott sei Dank!“ Friedrichs große, rauhe Hand fuhr ihr durch das zerzauste Haar. „Dir ist nichts geschehen!“

„Was ist denn los mit euch?“ Kopfschüttelnd blickte Julie in die Runde. Sie gab sich ahnungslos. „Ich bin doch nur zu den Stromsons hinausgeritten!“

„Die Cherokees!“, stieß Friedrich aufgeregt hervor. „Sie befinden sich auf dem Kriegspfad! Sie haben einen Siedlertreck kurz vor dem Fort überfallen und alle umgebracht, alle! Männer, Frauen und Kinder und die Tiere haben sie mitgenommen!“

„Was bin ich froh, dass dir nichts geschehen ist!“ Tränen glänzten in Luises Augen und sie streichelte kurz die Wange ihrer Tochter, eine Geste, die Julie überhaupt nicht von ihr kannte. Sie blickte in die Runde. Auch Hugh lächelte erleichtert und Nikolaus wollte sie überhaupt nicht mehr loslassen, ebensowenig wie Hardy, dessen Arm noch immer beschützend um ihre Schulter lag. Verwirrt fasste Julie sich an die Schläfen. Siedlertreck...Kriegspfad...Tote... Sie schloss die Augen. Die Erschöpfung und Aufregung der letzten Stunden war auf einmal zu viel. Sie konnte sich nicht einmal jemandem mitteilen, zumindest nicht sofort. Dabei war sie so stolz auf sich selbst auf sich und ihre Fähigkeiten!

„Sie sind ja ganz blass“, stellte Hardy auf einmal fest und dann hob er sie auch schon auf seine Arme, ehe sie überhaupt protestieren konnte. „Das muss der Schock sein! Hugh, mach’ mir die Türe auf! Ich bringe sie erstmal in die Praxis!“

Julie verspürte einen eigenartigen Schwindel und dann merkte sie nur noch, wie Doktor Retzner sie fort trug, zwischen den anderen Bewohnern ihrer Stadt hindurch und wie das Stimmengewirr über ihr zusammenschlug.

Als Julie wieder zu sich kam, war es draußen bereits finstere Nacht. Sie blinzelte, denn das schwache Licht der Petroleumlampe blendete sie im ersten Moment. Als nächstes fiel ihr Blick auf Hardy, der sich lächelnd über sie beugte und danach auf Hugh, der nur einen Schritt daneben stand.

„Na?“, fragte der Österreicher auf Deutsch und in seinem typischen, breiten Akzent. „Sind wir wieder zurückgekehrt?“

„Was...ist denn?“, fragte Julie, noch immer benommen. „Sind die Cherokees...“

„Nein, nein“, unterbrach Hardy sie beruhigend. „Sie sind mitten auf der Straße zusammengebrochen!“

„Mir geht’s gut“, versicherte Julie und wollte sich aufrichten, doch zwei Hände hielten sie zurück.

„Immer schön der Reihe nach!“ Hardy lächelte. „Erzählen Sie mir lieber, was Sie angestellt haben, dass Sie so lange weg gewesen sind! Ist mit Geertje alles in Ordnung? Sie hat das Kind doch nicht etwa verloren? Oder haben Sie bei einer Schafgeburt geholfen?“

Er hob ihre Hände hoch, damit sie sehen konnte, dass sich unter ihren Fingernägeln noch immer Blut befand. Julie verzog den Mund. Am liebsten hätte sie es vorerst für sich behalten. Sie fühlte sich viel zu müde und erschöpft, um jetzt zu berichten, was geschehen war, doch zwei Augenpaare ruhten gespannt und drängend auf ihr und sie seufzte leise.

„Nichts weiter ist passiert“, sagte sie leise, auf ihre Hände starrend. „Geertje geht es bestens.“

„Was hast du dann angestellt?“, wollte nun auch Hugh wissen und drückte ihr brüderlich den Unterarm.

Eine lange Pause entstand. Schließlich zuckte Julie die Schultern. Es hatte keinen Sinn, länger zu schweigen. Spätestens, wenn Torbjörn das nächste Mal in die Stadt kam, um im General Store Besorgungen zu erledigen, würden es alle erfahren. Diese Vorstellung war ihr unangenehm.

„Ich...ich habe einem Indianer eine Kugel entfernt“, erklärte sie leise.

„Sie haben – was?!“ Ungläubig packte Hardy sie an den Schultern. „Wissen Sie eigentlich, was Sie da reden?“

„Ja“, entgegnete Julie ernst. „Ich sage die Wahrheit. Zwei von ihnen wollten die Farm überfallen und Torbjörn hat auf sie geschossen. Der eine war gleich tot und der andere hatte einen Steckschuss im linken Oberschenkel. Ich habe ihm die Kugel herausgeschnitten und nach etwa zwei Stunden ist er auf sein Pferd gestiegen und davongeritten.“

„Gott, Julie!“ Ungläubig schüttelte Hardy den Kopf und auch Hugh musste sich mit den Händen übers Gesicht fahren. „Sie hätten tot sein können, verstehen Sie? Tot! Wenn sich diese Indianer auf dem Kriegspfad befinden, sind sie zu allem fähig! Und sie machen keinen Unterschied zwischen Mann, Frau oder Kind! Das haben Sie doch vorhin gehört!“

Tränen brannten in den bernsteinfarbenen Augen. „Aber...“, brachte sie stockend hervor. „Ich habe ihm doch bloß geholfen! Das war doch meine Pflicht! Ich konnte doch nicht zulassen, dass Torbjörn ihn erschießt!“

Zerstreut tätschelte Doktor Retzner ihr die Hand, ehe er sich durch das blonde Haar fuhr. „Nein...nein, Julie-Mädchen. Natürlich konntest du das nicht!“

Er wandte sich ab und trat ans Fenster, um hinauszustarren. Dafür setzte Hugh sich neben seine kleine Schwester und strich ihr das vom Regen zerzauste, struppige Haar aus der Stirn. Er lächelte, doch seine braunen Augen blickten besorgt. „Du bist vollkommen verrückt. Was machst du nur für Sachen?“

„Nichts“, erwiderte Julie leise und biss sich auf die Lippen. „Nichts, außer, dass ich einem Menschen vielleicht das Leben gerettet habe.“

„Er wollte euch überfallen!“ Hugh versuchte, ihr Vernunft einzubläuen, ihr begreiflich zu machen und sah sich doch außerstande dazu. „Er wollte euch umbringen! Er hätte keine Gnade gekannt!“

„Das hat Torbjörn auch gesagt.“ Julie schluckte. „Aber hätte ich ihn deswegen sterben lassen dürfen? Hätte ich das denn vor unserem Glauben, der Kirche und Gott verantworten können?“

Hugh senkte den Blick und schwieg. Er konnte darauf nichts erwidern, denn er wusste die Antwort selbst nicht. Gab es denn nicht den einen, wichtigen Grundsatz, dass alle Menschen gleich waren und damit auch die Indianer? Weshalb verfiel er nur zu gern in die Angewohnheit, sie außen vor zu lassen, sie als etwas Minderwertiges zu sehen?

Julies leise Stimme riss ihn aus den Gedanken: „Er hat doch dasselbe Recht hier zu sein, wie wir, oder etwa nicht? Eigentlich hat er sogar noch viel mehr Rechte als wir, denn das ist doch immer noch sein Land! Ihr wart doch diejenigen, die immer gesagt haben, wir hätten es uns geraubt! Hat er dann nicht jede Rechtfertigung dafür, uns fortjagen zu wollen?“

Hugh und Hardy wechselten einen langen, kritischen Blick. Sie kannten die Antwort darauf. Sie alle kannten die Wahrheit und wollten sie doch nicht aussprechen – nicht aussprechen und sie sich auch nicht eingestehen.

Die Siedlung

„Ruhe!“, brüllte Hugh aus Leibeskräften und schlug mit dem langen Zeigestock auf den einfachen Holztisch, der sein Pult darstellte. „Ruhe, habe ich gesagt! Verdammt nochmal! Ihr macht alle die doppelten Hausaufgaben, wenn ihr nicht auf der Stelle euren Mund haltet!“

Schlagartig war es mucksmäuschenstill in der winzigen Hütte, die lediglich deshalb als die hiesige Schule erkannt wurde, weil ein großes Schild über dem Eingang darauf hinwies. Ansonsten unterschied sie sich nicht von der einfachen Bauweise aller anderen Gebäude. Hugh atmete auf. Die mehr als fünfzig Kinder überforderten ihn bisweilen, denn sie merkten, dass er viel zu gutmütig war, als dass er je dazu fähig gewesen wäre, seinen Stock zur Prügelstrafe einzusetzen. Er ließ einen strengen Blick über seine Schüler gleiten, ehe er sie aufforderte: „Schlagt das Englischbuch auf! Wir machen auf Seite zweiundzwanzig weiter!“

Es gab längst nicht genug Bücher für alle und es mussten sich mindestens immer zwei Kinder ein Buch teilen. Hugh seufzte innerlich. Er war kein guter Lehrer. Er hatte nur versuchen können, das Beste aus der Situation zu machen. So hatte er die Kinder in etwa drei gleich starke Gruppen eingeteilt: Die, die noch gar nichts konnten – weder schreiben, noch lesen oder rechnen; diejenigen, die in ihrer Heimat zumindest schon einmal eine Schule besucht hatten und die größeren, die ohnehin bald zur Arbeit gehen würden, anstatt hier herumzusitzen und sich von ihm etwas sagen zu lassen.

Der Reihe nach ließ Hugh jedes von ihnen einen Satz des Textes lesen, denn es lag ihm viel daran, dass sie alle in kurzer Zeit ein perfektes Englisch beherrschten. Das war in seinen Augen das Wichtigste, wenn sie in diesem Land überleben oder es gar zu etwas bringen wollten. Sein Blick fiel auf die Turmuhr der Kirche, die schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite stand. Die ersten Gräber waren auf der Wiese dahinter hinzugekommen. Einer der älteren Männer war an Herzversagen gestorben und zwei der Kleinkinder einer Darminfektion erlegen. Langsam schlug Hugh das Buch zu. Er würde heute fünf Minuten früher aufhören, er war heute weder in Stimmung, noch besaß er die Motivation, die unruhigen Kinder zurückzuhalten, denn die wussten natürlich instinktiv, dass es jeden Augenblick für diesmal überstanden war.

„In Ordnung!“, sagte Hugh und hob die rechte Hand. „Ihr kennt eure Hausaufgaben! Wir sehen uns morgen und seid bitte pünktlich! Bei ein paar steht der dritte Strafpunkt wegen Zuspätkommens an und ihr wisst, was das bedeutet!“

Er brach ab. Von überall her ertönten die „Auf Wiedersehen!“-Rufe und mit lautem Geschrei stürzten die Kinder nach draußen. Hugh seufzte und verdrehte die Augen. Ja, seine lieben Schüler wussten ganz genau, was ein dritter Strafpunkt wegen Zuspätkommen bedeutete – nachsitzen. Ihm allerdings graute bei dieser Vorstellung noch viel mehr als den Kindern vermutlich. Er hasste es, sich mit ein paar einzelnen herumzuärgern, die ihm dann auch noch grollten und sowieso nichts anderes wollten als nach draußen, um mit ihren Freunden zu spielen. Selbst Nikolaus war heute gleich hinausgerannt, ohne auf ihn zu warten. Hugh schmunzelte. Nun, auch Nikolaus wurde im nächsten Jahr bereits dreizehn und er begann ganz allmählich, sich auf eigene Beine zu stellen und sich von seiner Familie abzunabeln.

Hugh packte seine Bücher und die Arbeitsblätter zusammen. Draußen pfiff ein eisiger Wind um die Häuser. Es war mittlerweile November und der erste Schnee lag, zwar dünn aber immerhin, auf der Prärie und den Bäumen.

„Grüß dich, grießgrämiges Brüderchen!“, sagte eine lachende Stimme vom Eingang her und Hugh musste nicht den Blick heben, um zu wissen, wer es war.

„Was für eine Begrüßung ist das denn? Du hörst dich schon an, wie einer dieser Herumtreiber!“ Er grinste sie überlegen an. „Heute gar nicht unterwegs?“, fragte er scheinheilig, wusste er doch, dass seine Schwester keine Gelegenheit entgehen ließ, sich in den Sattel des Fuchshengstes zu schwingen – zum Leidwesen ihrer Mutter.

„Ich war schon längst“, erwiderte Julie und kam zu ihm geschlendert, um sich auf sein Pult zu setzen. „Zuerst war ich bei den Stromsons, dann bin ich zu Miklós und seiner Frau, beide hat die Grippe erwischt und danach waren wir draußen, bei dem Siedlertreck, der vor der Stadt lagert. Hardy meint, ein paar hätten Typhus.“

„Typhus?“, wiederholte Hugh alarmiert und starrte sie an. „Pass bloß auf, dass du dich nicht ansteckst!“

„Ja, ja!“, machte Julie ungeduldig. „Wusstest du, dass sie sich bei uns niederlassen wollen?“

„Nein“, gab Hugh zurück und schloss seine Tasche. „Das einzige, was ich weiß ist, dass vorher ein paar Soldaten vom Fort aufgekreuzt sind und sich gleich mit Vater und Sheriff O’Connor zusammengesetzt haben.“

Burt O’Connor war Ire und gleich nach ihrer Ankunft zum Sheriff ernannt worden. In seiner Heimat hatte er bei der Gendarmerie gedient und schien somit prädestiniert für den Posten als Ordnungshüter. Zu tun gab es ohnehin nicht viel für ihn, abgesehen von den regelmäßigen Samstagabend-Schlägereien. Wenn im Saloon große Tanzabende veranstaltet wurden, bekamen sich immer wieder junge Männer in die Haare oder brachen mit ein paar Soldaten vom Fort einen Streit vom Zaun, die sich eingeschlichen hatten – verbotenerweise natürlich.

„Das bedeutet nichts Gutes“, entfuhr es Julie und ihre Stirn legte sich in viele kleine Falten.

Neckend zwickte Hugh sie in die Rippen. „Du kannst dich ja im Ernstfall bei Hardy verstecken! Der passt bestimmt sehr gern auf dich auf!“

„Bei Hardy?“ Verständnislos schaute Julie ihn an. „Wie kommst du ausgerechnet auf Hardy?“

„Jetzt tu’ doch nicht so unschuldig“, grinste Hugh. „Glaubst du, es wüsste nicht längst jeder in der Stadt, dass ihr ineinander verliebt seid?“

Julie lachte laut auf. Endlich begriff sie. „Verliebt? Ich und Hardy? Ha, das ist das Lustigste, was ich seit langem gehört habe! Verliebt! Ich in Hardy! So ein Unfug!“

Verdutzt hielt Hugh in seiner Bewegung inne. „Du meinst, ihr habt nicht die Absicht, irgendwann zu heiraten?“

„Heiraten?“, stieß Julie prustend hervor. „Ich will Hardy doch nicht heiraten! Er ist nett, sehr nett sogar, aber doch kein Mann, den ich heiraten würde!“

Hugh schluckte und kratzte sich verlegen an der Schläfe. Er kannte den österreichischen Arzt mittlerweile gut genug, um zu merken, dass dieser ganz andere Gefühle für seine kleine Schwester hegte, als diese offensichtlich für ihn.

„Hardy ich doch kein Mann für mich“, erklärte Julie jetzt, sehr ernst. „Er ist ein guter Freund, aber verliebt? Nein! Wieso sollte ich ihn also heiraten wollen?“

Hugh unterdrückte ein Schmunzeln. „Weißt du überhaupt, wie sich das anfühlt? Wenn man verliebt ist, meine ich?“

Ein verträumter Ausdruck legte sich auf das runde Gesicht seiner Schwester. „Ja, ich glaube schon und dabei weiß ich nicht einmal, wie er heißt. Ich bin ihm nur ein einziges Mal begegnet, aber als ich angesehen habe... Hugh, noch nie hat ein Mensch solche Gefühle in mir ausgelöst. Ganz plötzlich habe ich gewusst, dass ich mich in ihn verliebt habe. Ist das nicht eigenartig?“

„Nein“, erwiderte ihr großer Bruder. „Nein, ich glaube nicht. Es ist etwas ganz Natürliches, was jeder irgendwann einmal erfährt!“

„Ach, spielt ja keine Rolle. Wahrscheinlich werde ich ihn sowieso nie wiedersehen.“ Julie seufzte, ein wenig betrübt. Sie hatte immer wieder an ihn denken müssen in den zurückliegenden Monaten, seitdem sie hier angekommen waren. Jedesmal, wenn Soldaten vom Fort herübergekommen waren, hatte sie Ausschau gehalten, ob er mit dabei wäre, doch kein einziges Mal hatte sie ihn entdecken können. „Wahrscheinlich ist er längst woandershin versetzt worden.“

Hugh hielt verdutzt inne. „Einer der Soldaten vom Fort?“

Julie lächelte weggetreten. „Er war an dem Tag mit Captain Harbach am Tor gestanden, als wir angekommen sind.“

„Da waren ein paar Männer“, erinnerte sich Hugh sehr vage.

„Er war groß und blond und er hatte die blausten Augen, die ich jemals gesehen habe.“

Hugh lachte, ein wenig belustigt und kratzte sich am Kopf. „Du bist schon ein wenig zurückgeblieben, Schwesterchen. Du hast kein Wort mit ihm gewechselt und glaubst, in ihn verliebt zu sein! Sieh lieber zu, dass du dich in Hardy verliebst! Damit wäre uns allen geholfen!“

Julie schwieg. Sie wollte doch gar nicht Hardy lieben! Sie schreckte bei der Vorstellung zurück, mit einem Mann verheiratet zu werden, den ihr Vater als gut befand und für den sie aber nicht die nötigen Gefühle empfand. Sie wollte nicht heiraten, weil es praktisch war! Das Leben musste doch noch mehr zu bieten haben, als jemanden zu ehelichen, den ihre Eltern als recht und anständig empfanden, um danach als Hausfrau und Mutter zu enden. Es musste einfach noch mehr geben! Es konnte nicht alles im Leben einer Frau sein, bloß Mutter und Misses Sowieso zu werden!

„Lass uns nach Hause gehen“, meinte Hugh und schob sie zur Tür hinaus, wobei er sie aus ihren trostlosen Überlegungen bezüglich ihrer Zukunft riss. „Dann ziehst du dir erstmal diesen verdammten Reitrock und die Stiefel aus und kleidest dich, wie es sich für eine anständige Frau unserer Gesellschaft gehört! Und dann bekommst du Tanzstunden von mir, damit du dich unter die anderen jungen Leute mischen kannst und nicht ständig nur über irgendwelchen Büchern sitzt! Vielleicht ist ja unter den neuen Siedlern einer dabei, der dir als Ehemann taugt!“

Er hielt sie am Ellenbogen fest, als fürchtete er, sie könnte ihm entwischen. Nur widerwillig ließ Julie sich von ihm hinterdrein zerren. Ihr rebellisches Wesen schrie in ihr, dass sie sich das nicht gefallen lassen dürfe, dass sie anständig gekleidet war – jedenfalls für ihren Geschmack – und dass sie überhaupt nicht tanzen können wollte! Doch eher hätte sie sich die Zunge abgebissen als jetzt, hier auf der Straße und in aller Öffentlichkeit, einen Streit mit Hugh vom Zaun zu brechen. Sie wusste aus Erfahrung, dass er den größere Dickschädel von ihnen beiden besaß und nicht locker ließ, ehe er seinen Willen nicht durchgesetzt hatte.

Vor der Arztpraxis standen drei Pferde angebunden und an der Art ihrer Sättel und Zaumzeuge war zu erkennen, dass sie vom Fort sein mussten. Also war die Besprechung noch immer nicht beendet. Weder Hugh, noch Julie sprachen ein weiteres Wort, ehe sie bei ihrem Haus angelangt waren.

„Nein!“, schrie Doktor Retzner und schlug so heftig mit der Hand auf den Tisch, dass alle, die rundherum versammelt standen, erschrocken zurückfuhren. „Nein, nein, nein!“

„Aber Hardy!“, versuchte Friedrich ihn zu besänftigen. „Captain Harbach will doch nur unsere Sicherheit und...“

„Was Captain Harbach will“, fiel Doktor Retzner ihm wutentbrannt ins Wort, „ist, gegen ein Volk sein Gewehr erheben, das alle Rechte auf seiner Seite hat, uns von hier zu vertreiben!“

„Diese roten Teufel haben überhaupt keine Rechte, nach unserem Gesetz!“, rief Sheriff O’Connor.

Ein scharfer Blick Doktor Retzners traf ihn. „Nach dem Gesetzbuch vielleicht nicht, aber es gibt noch ein anderes Gesetz und zwar das des Christentums und der Menschlichkeit und das zählt in meinen Augen mehr als jedes andere! Selbst, wenn wir uns auf die Paragraphen der Vereinigten Staaten von Amerika berufen, befinden wir uns auf Grund und Boden den diese Regierung den Indianern zugesprochen hat!“

„Die Verhandlungen zwischen Washington und den oberen Häuptlingen wurden bereits wieder aufgenommen!“, mischte Captain Harbach sich jetzt ein. „Es gibt mehrere Anträge im Kongress, um das Land für die Besiedlung freizugeben. Im Moment ist alles jedoch in der Schwebe, obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass es früher oder später passieren wird. Es ist nur eine Frage von Tagen, bis der große Run auf das Land beginnt. Wir können die ganzen Trecks jetzt schon nicht mehr kontrollieren, die über sämtliche Grenzen in das Territorium strömen. Im Übrigen, mein lieber Doktor: Wenn Sie solche Bedenken haben, weshalb sind Sie dann überhaupt hierher gekommen?“

„Offen gestanden frage ich mich das allmählich auch!“, stieß Hardy zornig hervor. „Dieser unselige Mensch, von dem wir hergebracht worden sind, hat uns hier sozusagen abgeliefert und sich dann mitsamt unserem Geld aus dem Staub gemacht! Wertvolle Dollars, die wir ihm nur dafür bezahlt haben, dass er uns in eine Gegend bringt, die uns nicht zusteht! Das einzige, was wir tun könnten wäre, wieder abzuziehen und diesen Raub rückgängig machen!“

„Dieses Land ist viel zu fruchtbar und wertvoll, als dass wir es einfach diesen Wilden überlassen können!“, rief Sheriff O’Connor aufgebracht.

„Ah, machen Sie sich nicht lächerlich!“, brüllte Doktor Retzner und fuhr ruckartig herum. „Macht doch alle, was ihr wollt!“

„Na, na!“ Beschwichtigend hob Captain Harbach den Arm. „Immer mit der Ruhe! Bisher haben wir nicht allzu viele Opfer der Indianerüberfälle zu beklagen. Ein paar einzelne Siedlertrecks und Farmen, aber ich kann Ihnen nicht versprechen, ob nicht Ihr Ort der nächste sein wird! Morgen früh werden ich und ein paar Männer hinausreiten, um mit dem Häuptling der Cherokees zu verhandeln. Vielleicht können wir sie davon überzeugen, ihr Kriegsbeil zu begraben und mit diesen verdammten Überfällen solange aufzuhören, bis es zu einer Einigung mit der Regierung kommt.“

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