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Der Überfall

Die ersten Schneeflocken fielen wieder vom Himmel als der Trupp der Kavallerie sich langsam in Bewegung setzte. Die beiden Soldaten vor dem Tor zum Fort hoben salutierend ihre Gewehre und warteten, bis Captain Harbach mit der zwanzig Mann starken Truppe hinausgeritten war und den Weg in Richtung Stadt hinab verschwand.

„Sergeant!“, brüllte er auf einmal und ein Reiter löste sich aus der Gruppe.

„Ja, Sir?“ Der junge Mann ließ seinen Dunkelbraunen mit dem Hengst des Captains Schritt halten.

„Wir werden als erstes den Sheriff aufsuchen und ihn grob über unser weiteres Vorgehen unterrichten. Nur für den Fall, dass er unsere Hilfe bräuchte. Ich hoffe aber nicht, dass das in nächster Zeit der Fall sein wird.“

„Ja, Sir.“

„Währenddessen können Sie nach unseren vier Soldaten sehen und prüfen, wie es ihnen geht! Verstanden?“

„Jawohl, Sir!“ Der junge Mann hielt sein Pferd noch immer neben dem des Captains.

„Irgendwelche Fragen, Sergeant? Irgendwelche Unklarheiten?“, fragte Captain Harbach mit deutlich unwilligem Unterton.

„Nun, Sir...Captain...“, begann der junge Mann zögernd und merkte gleich darauf, dass er besser den Mund gehalten hätte. „Ich will Ihre Fähigkeiten und Ihre Entscheidungen wirklich nicht in Frage stellen und kritisieren, Sir, aber...“

„Aber was, Sergeant?“, fiel der Captain ihm scharf ins Wort.

Der junge Mann schluckte. „Nun, Sir...meiner Ansicht nach machen Sie das Problem mit den Cherokees nur schlimmer anstatt besser, wenn Sie jetzt hinausreiten, um wieder irgendwelche Verhandlungen anzustiften und am Ende vielleicht Rache zu üben und...“

„Ihre Ansichten sind mir schnuppe!“, brüllte der Captain ihn ungehalten an. „Für wen halten Sie sich eigentlich, Sie...Sie...zweitrangiger Klugscheißer, Sie! Wofür, glauben Sie, habe ich wohl die Verstärkung bekommen? Damit sie sich in den Quartieren einen Urlaub gönnt, oder was?“

„Nein, Sir...“, brachte der junge Sergeant mit einer gehörigen Portion Mut hervor.

„Ist Ihnen entgangen, dass ich bereits vor ein paar Wochen versucht habe, eine friedliche Lösung mit den Rothäuten zu finden? Wie Sie aber jetzt feststellen müssen, offensichtlich ohne Resultat?“

„Nein, Sir!“

„Sehr spitzfindig!“, schnauzte der Captain ihn an und gab ihm mit der Hand einen Wink. „Wissen Sie was, Sergeant? Sie werden nicht mit uns reiten! Sie werden die ehrenvolle Aufgabe übernehmen und in der Siedlung für Recht und Ordnung sorgen und sich um den Treck vor der Stadt kümmern! Die sollen schon anfangen mit ihren Häusern! Ist doch egal, wie weit sie damit kommen! Solange noch keine geschlossene Schneedecke liegt, können Sie was tun! In dieser Wagenburg ist es viel zu gefährlich mit den Streifzügen unserer roten Freunde. Dort werden Sie dann auch bleiben, bis ich mit den Männern wieder zurück bin, vielleicht sogar, bis die Häuser fertig sind! Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?“

„Jawohl, Sir!“, stieß der junge Mann hervor und zügelte sein Pferd, um es wieder mit den restlichen Soldaten in Zweierreihen laufen zu lassen.

Langsam wanderte Julie die Straße hinab. Sie hatte es im Haus ihrer Eltern nicht länger ausgehalten. Dieses Schweigen während der ganzen Mahlzeiten, die zwanghafte Ruhe und die andauernden, verstohlenen Blicke aller auf den leeren Stuhl – sie hatte es einfach nicht länger ertragen können. Hugh war mit rotgeweinten Augen aus seinem Schlafzimmer gekommen, das er jetzt alleine bewohnte und hatte sich still an den Tisch gesetzt.

Irgendwann war sie einfach gegangen – ohne ein Wort und ohne sich zu verabschieden. Vielleicht hatten sie auch alle geglaubt, sie wolle noch einmal hinüber zu den Gräbern sehen, die inzwischen zugeschüttet waren. Eine merkwürdige Ruhe lag über der Stadt, als hätten die Beerdigungen sie in eine Art Starre versetzt.

Julie trat unter den Vorbau der Arztpraxis – die Tür war unverschlossen. Im Inneren war es kalt, denn der Bullerofen war längst ausgegangen. Ihr schauderte und sie beschloss, Feuer zu machen, als wäre er noch immer hier, als würde sie ihm noch immer bei seiner Arbeit assistieren. Bald schon verbreitete der Ofen eine angenehme Wärme. Julie zündete die Lampe auf dem Schreibtisch an und setzte sich. Dort, in der obersten Schublade, hatte Hardy penibel genau, wie es seine Art gewesen war, eine Patientenkartei angelegt. Auf jeder Seite des Heftes stand ein anderer Name in der obersten Zeile.

Behutsam nahm Julie das Heft heraus und schlug es auf. Sie las die auf Deutsch verfassten Befunde und Behandlungen und mit jedem Buchstaben wurde ihr schwerer ums Herz. Hätte sie doch nur geahnt was geschehen würde, dann hätte sie ihn schamlos angelogen, ihm vorgemacht, dass er ihr mehr bedeutet hätte als nur ein guter Freund! Dann würde sie jetzt nicht das schlechte Gewissen plagen und die Gewissheit, dass sie ihm noch kurz vor seinem Tod so weh getan hatte – sie hatte ihm einen Traum gestohlen.

Erschöpft legte Julie ihren Kopf in die Hände. Sie wollte weinen, doch sie konnte nicht. Ihre Tränen waren versiegt, sie fühlte sich zu leer und ausgelaugt. Julie wusste nicht, wie lange sie dort, auf Hardys Stuhl hinter seinem Schreibtisch gesessen hatte. Das laute, plötzliche Aufschlagen der Eingangstür riss sie hoch – zwei Soldaten standen in der Tür. Der eine war ihr bekannt – er war von Captain Harbach mit drei anderen in der Siedlung untergebracht worden und auch vergangene Nacht hier gewesen, um ihnen zur Seite zu stehen. Jetzt trug er seinen Arm in einer Schlinge.

Der andere jedoch... Julie starrte ihn fassungslos an. Das konnte doch nicht möglich sein! Ihr Herz begann wie verrückt zu rasen und sie fürchtete, gleich ohnmächtig zu werden. Jetzt, da er so nah bei ihr stand, anstatt einige Meter entfernt, wie am Tag ihrer Ankunft in Fort Gibson, konnte sie erst erkennen, wie ungewöhnlich groß und schlank er war. Unter dem breiten, dunklen Hut schaute sein hellblondes Haar hervor und seine blauen Augen betrachteten sie abschätzend. Sein auffallend attraktives Gesicht zeigte ein feines Lächeln, das ihr Herz tief in seinem Innersten berührte. Sie konnte nicht anders, sie erwiderte das Lächeln.

„Guten Tag, Miss!“, sagte er nun und seine Stimme klang warm und herzlich, wie es zu seiner ganzen Erscheinung passte. „Können Sie Amos vielleicht den Arm verbinden?“

„Wir...wir haben keinen Doktor mehr“, erklärte Julie leise und trat langsam hinter dem Schreibtisch hervor. Sie musste sich zwingen, ihren Blick von dem großen, schlanken Mann abzuwenden.

„Ich weiß“, entgegnete dieser mitfühlend und nahm seinen Hut ab. „Es tut mir sehr leid. Gestatten Sie trotzdem, dass ich mich vorstelle? Sergeant Ron McVeagh.“

„Freut mich, Sergeant.“ Langsam trat Julie zu ihm und deutete auf den Behandlungstisch. Sie warf einen kurzen Blick auf das blasse Gesicht des anderen Soldaten. „Bitte setzen Sie sich. Was ist denn passiert?“

„Ach, ist nicht weiter schlimm“, meinte dieser, wurde jedoch von seinem Sergeant durch den Raum geschoben. „Ist letzte Nacht passiert, als ich versucht habe, das arme Mädchen noch aus dem Haus zu retten.“

Julie fiel nicht sofort eine passende Antwort ein. Schließlich fragte sie: „Wieso sind Sie denn überhaupt noch hier? Ihr Arzt im Fort könnte Ihnen viel besser helfen als ich!“

Die beiden Männer wechselten einen schnellen Blick. „Der Doktor ist zur Zeit nicht dort“, entgegnete Ron McVeagh, seinen Hut in den Händen drehend. Er beobachtete, wie Julie behutsam den Verband und die Schlinge vom rechten Arm des Soldaten löste. Er fand, dass er nichts Unrechtes tat, wenn er ihr die Wahrheit erzählte. „Er ist mit Captain Harbach und der Verstärkung zu den Cherokees geritten.“

Julie zog die Brauen hoch und starrte ihn eine Sekunde eindringlich an. „Zu den Cherokees? Wegen vergangener Nacht?“

Der Sergeant zögerte einen Augenblick. Er fuhr sich durch das blonde Haar und nickte dann. „Ja, genau deshalb.“

„Aha“, machte Julie gedehnt und überlegte. „Was hat er dort vor? Einen Krieg beginnen?“

„Möglich“, antwortete Ron McVeagh ausweichend und hob die Schultern. Das warme, freundliche Lächeln spielte wieder um seine Lippen. „Ich habe offengestanden keine genaue Ahnung von den Plänen, vielleicht Vergeltung, vielleicht Friedensverhandlungen. Wer weiß?“

„Vergeltung?“, wiederholte Julie und stockte kurz, als sie den Verband nun endgültig gelöst hatte und die schweren Verbrennungen auf dem Arm des jungen Soldaten erblickte. „In unserem Namen?“

„Ich denke.“

„Woher will er wissen, dass wir überhaupt Vergeltung üben wollen?“

Ron McVeagh verstand nicht ganz, worauf sie hinauswollte. „Er hat mit Sheriff O’Connor gesprochen.“

„Ach ja? Dann wundert mich nichts mehr.“

„Was meinen Sie?“

„Unser Sheriff ist der vehementeste Indianerhasser, den ich kenne.“ Julies bernsteinfarbene Augen fixierten den Sergeant lange. Er mochte Mitte zwanzig sein, vielleicht ein bisschen darüber, aber nicht älter.

„Sie scheinen diese Meinung nicht zu teilen.“ Er schien nicht recht zu wissen, was er von ihr halten sollte. Einerseits machte sie einen so naiven und zerbrechlichen Eindruck auf ihn und andererseits hatte sie offensichtlich keine Hemmungen, offen ihre Ansichten kundzutun.

„Was ich meine, spielt keine Rolle.“ Julie trat an den Medizinschrank, um die Brandsalbe zu holen. „Ich bin nur ein Mädchen, ich habe keine öffentliche Meinung zu vertreten. Das schickt sich nicht und es hört sowieso niemand darauf.“

Der Sergeant biss sich kurz auf die Lippen. Ein verwunderter Ausdruck trat auf sein gutaussehendes Gesicht. „Manchmal ist es besser, man wird dazu gezwungen, den Mund zu halten.“

„Sprechen Sie gerade aus eigener Erfahrung?“ Ihre Augen blickten eindringlich, doch sie grinste. „Weshalb sind Sie nicht mit den anderen Soldaten geritten?“

Er musste schmunzeln. „Nun...Captain Harbach hält nicht allzu viel davon, wenn ein kleiner Sergeant es wagt, seine Entscheidungen in Frage zu stellen und ihn außerdem noch belehren will!“

„So?“, machte Julie und konzentrierte sich darauf, die Salbe möglichst vorsichtig auf den großen Blasen zu verteilen, die den Arm bis über den Ellenbogen zierten. „Da haben Sie nochmal Glück gehabt“, meinte sie mit kritischer Miene.

„Allerdings“, gab der andere Soldat zu. „Wäre ich nicht rechtzeitig beiseite gesprungen, hätte der Balken nicht bloß meinen Arm getroffen.“

„Sie dürfen ihn die nächsten Tage mit nichts bedecken oder verbinden“, erklärte Julie ernst. „Auch nicht mit dem Ärmel eines Hemds oder einer Jacke. Es muss Luft ran können.“

Der junge Soldat starrte sie fassungslos an. „Das wird aber verdammt kalt!“

„Tut mir leid! Wenn Sie die Brandblasen ersticken, werden sie nicht heilen!“

„Du solltest auf die junge Dame hören“, schlug Ron McVeagh vor und klopfte seinem Kollegen aufmunternd auf die Schulter. „Auch das geht vorüber!“

„Ja“, knurrte dieser. „Aber erst, wenn mein Arm abgefroren ist!“

„Du bist die nächsten Tage ins Warme abkommandiert“, entschied der Sergeant lächelnd. „Dann kann dir nichts passieren!“

„Das sind natürlich andere Aussichten!“ Er ließ sich von Julie und Ron McVeagh vom Behandlungstisch herabhelfen und schritt zielstrebig zur Tür.

„Sie schreiben uns eine Rechnung, Miss, ja?“, fragte der Sergeant und nickte ihr zu.

Unschlüssig hob Julie die Schultern. „Ich...ich weiß nicht! Ich meine, ich war ja immer nur Doktor Retzners Assistentin!“

„Sieht ganz danach aus, als müssten Sie nun seinen Posten übernehmen!“, erwiderte Ron McVeagh und lächelte noch immer zu ihr hinab. Seine schlanke, durchaus imponierende Gestalt überragte sie um fast zwei Köpfe.

„Ich werde mein Bestes tun, bis wir wieder einen richtigen Doktor haben“, versicherte Julie und betrachtete ihn lange. Ein eigenartiges Gefühl überkam sie. Es war sehr intensiv und überrollte sie förmlich von ihrer Magengegend aus, ließ sie erröten. Obwohl sie sich schalt, sah sie sich außerstande, ihren Blick von ihm abzuwenden, genauso wie damals, als sie ihn vor Fort Gibson das erste Mal erblickt hatte. Es gehörte sich nicht, wenn eine junge Frau einen fremden Mann anstarrte! Doch auch seine Augen hingen unablässig an ihr und um seine schön geschwungenen Lippen spielte das warme, sanfte Lächeln, das sie vom ersten Augenblick an so sehr beeindruckt hatte. Schließlich tippte er sich mit zwei Fingern an den breitkrempigen Hut.

„Auf Wiedersehen, Miss!“

„Auf Wiedersehen, Sergeant!“

Die beiden Männer verließen die Praxis und zogen die Türe hinter sich ins Schloss. Lange verharrte Julie regungslos am selben Fleck, um ihnen hinterher zu starren. Sie hörte, wie sich die Schritte ihrer schweren Stiefel entfernten. Ron McVeagh, Sergeant Ron McVeagh, hatte er gesagt. Sie atmete tief durch. Was für ein Mann! Sie presste sich die Hände auf die heißen, glühenden Wangen und stellte plötzlich fest, dass sie viel zu stark eingeheizt hatte, aber das machte nichts. Sie würde noch länger in der Praxis bleiben. Der Sergeant hatte Recht – jetzt war sie die einzige, die den Menschen helfen konnte, wenn der Arzt aus dem Fort gerade nicht anwesend war. Sie würde sich auf die Bücher stürzen, die Hardy gehört hatten und alles lesen, was sie über Medizin zwischen die Finger bekam. Sie würde ihn würdig vertreten, bis wieder ein anderer Arzt mit einem Siedlertreck ankommen würde. Das zumindest war sie Hardy schuldig. Er hatte so unendlich viel Zeit in sie investiert und ihr die Chance zur Unabhängigkeit gegeben – ein Geschenk, das sie ihm niemals würde vergessen können, ganz gleich, wie ihr weiteres Leben verlaufen würde. Durch ihn hatte sie sie gekannt – die Freiheit. Vielleicht nur für kurze Zeit, aber sie konnte sie nun auf ganz andere Weise schätzen, denn Julie wusste nun, wie unendlich kostbar Freiheit war.

Hugh eilte die Straße hinab. Es war kalt und eisig und Schnee fiel wie kleine, harte Körner vom Himmel. Die Schule war für heute zu Ende, er hatte es überstanden. Hugh atmete tief durch und schloss für eine Sekunde die Augen. Wie hasste er diesen Beruf seit dem Überfall! Wie hasste er es, jeden Morgen das Schulhaus betreten zu müssen und auf den leeren Platz in der dritten Reihe starren zu müssen, auf den Platz, wo noch vor wenigen Tagen sein kleiner Bruder gesessen und neugierig und wissbegierig seinen Worten gelauscht hatte.

Aus dem Fenster der Arztpraxis fiel schwaches Licht auf die Straße und Hugh bremste ab. Er überlegte einen Moment, dann trat er unter den Vorbau. Stimmen drangen durch die Tür zu ihm heraus. Das eine war Julie und das andere – nun, er wusste nicht, wer das hätte sein können. Entschlossen schlugen seine Fingerknöchel gegen das Holz. Er wartete nicht ab, bis jemand antwortete. In der Praxis war es warm und es roch nach Medikamenten.

„Oh! Guten Tag, Hugh!“, hörte er seine Schwester erstaunt sagen und er schob sich ins Innere. Seine braunen Augen erfassten die Situation sofort und er runzelte die Stirn. Julie lehnte am Schreibtisch und neben ihr stand der Sergeant, der seit drei Tagen in der Siedlung stationiert war und zusammen mit ein paar anderen Soldaten aufpassen sollte, dass die Indianer nicht noch einmal zuschlugen. Als er Hugh bemerkte, nickte er ihm kurz und grüßend zu, ehe er sich von Julie verabschiedete und die Praxis verließ. Lächelnd wandte Julie ihre Aufmerksamkeit ihrem großen Bruder zu.

„Heute schon fertig mit dem Unterricht?“

„Hmm“, machte Hugh und deutete hinter sich. „Was wollte er?“

„Ach!“ Julie zuckte die Schultern und lächelte. „Nichts Besonderes, nur ‚Guten Tag‘ sagen.“

„So, so!“, erwiderte ihr Bruder gedankenverloren und seufzte. „Bist du dir sicher?“

„Hubert Kleinfeld!“, fuhr Julie ihn entrüstet und verärgert zugleich an. „Ich sage immer die Wahrheit! Er hat sich nur mit mir unterhalten...und mich für Samstagabend zum Tanz eingeladen!“

„Zum Tanz?“, wiederholte Hugh verwundert. „Die Soldaten gehen so schnell über zur Normalität? Und du schließt dich ihnen an, nach allem, was geschehen ist?“

„Ja, das tun sie!“ Julie blinzelte ein wenig beschämt. „Und ich möchte diesen Tanz unter keinen Umständen verpassen!“

Hugh seufzte. „Ich verstehe.“

„Was gibt es da zu verstehen?“

„Dass du dich unmöglich benimmst!“ Er schüttelte den Kopf und legte sich die Hand vor die Augen. „Entschuldige. Ich wollte dir keine Vorwürfe machen.“

„Ist schon in Ordnung.“ Julie trat zu ihm, legte ihr kleinen Hände auf seine Schultern. „Wir...wir sind wohl alle sehr mitgenommen.“

„Mitgenommen...“ Hugh stieß einen tiefen Seufzer aus. „Das kannst du laut sagen.“

„Was hast du denn nur?“, wollte Julie besorgt wissen. „Bist du krank?“

Sie wollte ihre Hand auf seine Stirn legen, doch er stieß sie fort. „Ach, lass das! Mir geht’s prächtig!“

„Na, ich weiß nicht...“ Abschätzend betrachtete Julie ihn mit schiefgelegtem Kopf.

„Wie...ich meine, wie läuft es denn, ohne Hardy?“

Seine kleine Schwester senkte den Kopf und biss sich auf die Lippen. „Offen gestanden bin ich der Ansicht, dass ich hier eigentlich nichts verloren habe. Ich bin kein Doktor! Ich kann den Leuten doch gar nicht wirklich helfen!“ Verzweifelt krampften sich ihre Hände ineinander. „Aber sie haben alle so viel Vertrauen in mich! Ich...ich kann sie doch nicht einfach wieder fortschicken oder sollte ich?“

„Nein“, bestätigte Hugh und zog sie an sich. „Nein, das kannst du nicht, jedenfalls nicht, solange kein anderer Arzt hier angekommen ist.“

Es war für sie alle schwer. Julie war jetzt siebzehn, kein Mädchen mehr und doch auch noch keine richtige Frau. Und er? Ihm ging es nicht viel besser. Er übte einen Beruf aus, den er nie gelernt hatte und der ihn überforderte. Er merkte, dass der Punkt gekommen war, da er den größeren Kindern nichts mehr beibringen konnte und es war an der Zeit, dass er sich eingestand, nicht glücklich zu werden als Lehrer. Es war nicht das, was er wirklich als Beruf ausüben wollte. Es war nicht das, was er sich für sein Leben gewünscht und erträumt hatte. Vielleicht, dachte er, ist es das nie und wir reden es uns immer bloß ein, damit wir inneren Frieden finden können.

Er ließ Julie allein zurück und machte sich auf den Heimweg. Er wollte fort, weg von dieser trostlosen, einsamen Siedlung in einem Gebiet, das ihnen noch immer nicht zustand und das es vielleicht nie tun würde, weil die Indianer es nicht hergeben wollten. Und dann wird es wieder einen Krieg geben, dachte Hugh. Wieder wird die Kavallerie gegen die eigentlichen Besitzer dieses Landes ausziehen und sie vernichten...immer mehr und mehr, bis keiner von ihnen mehr übrig ist.

Er schüttelte den Kopf und versuchte, die Gedanken abzuschütteln. Wie konnte er nur? Die Rothäute hatten seinen Bruder getötet! Er musste sie dafür hassen und verachten, aber er brachte es nicht so recht fertig. Er konnte es ihnen nicht einmal übelnehmen, dass sie ihren Ort überfallen hatten. Wir besitzen kein Recht hier zu sein, schrie es in ihm. Wir haben uns dieses Gebiet geraubt, genau wie Hardy es immer formuliert hat, geraubt!

Hardy – der junge, österreichische Arzt mit den strohblonden Haaren erschien vor Hughs Augen. Jetzt lag er dort hinten, auf dem Friedhof, neben der Kirche. Er konnte niemandem mehr helfen. Aber ich kann, schoss es Hugh durch den Kopf und ein heftiger Schauer der Erkenntnis durchzuckte ihn. Sein Herz begann zu rasen. Ich kann noch jemandem helfen!

Zwei Tage später war Samstag und Julie konnte sich nicht entschließen, welches Kleid sie anziehen sollte. Sie mochte die Farbe des einen nicht und bei dem anderen missfiel ihr der Schnitt. Und dann war da natürlich die Sache mit ihren Haaren, die selbstverständlich in eine entsprechende Hochsteckfrisur gebracht werden mussten.

Verständnislos schüttelte Luise den Kopf, während sie vor dem Spiegel mit den Haarnadeln und dem Kamm hantierte. „Ich verstehe dich nicht, Juliane. Wie kannst du so kurz nach all diesen schrecklichen Dingen wieder ein farbiges Kleid tragen und dann auch noch zum Tanzen gehen?“

„Mutter, bitte!“ Aufgeregt zupfte Julie an den Rüschen des dunkelgrünen Kleides, das an die Tannen des Waldes nach einem langen Herbstregen erinnerte. Es war das einzig wirklich schicke Kleid, das sie überhaupt besaß. „Ich bin eingeladen worden! Es wäre doch unanständig gewesen, wenn ich das ausgeschlagen hätte, oder nicht?“

Luise seufzte. Ihre hellbraunen Augen waren mit einem roten Rand umgeben. Sie hatte die letzten Nächte weder viel geschlafen, noch Ruhe gefunden. Sie weinte beinahe andauernd und saß apathisch in ihrem Schaukelstuhl vor dem Kamin, die Strickarbeit auf dem Schoß, ohne jedoch daran zu arbeiten. Luise betrachtete ihre Tochter lange. Sollte sie doch gehen! Weshalb sollte sie jetzt auch noch mit ihr streiten, wo sie kaum die Kraft aufbrachte, überhaupt am Morgen aufzustehen? Julie war ein junges Mädchen, das allmählich zu einer Frau heranwuchs und das sich ruhig unter die anderen jungen Leute aus der Siedlung mischen konnte. Weshalb auch nicht? Es gab keinen Grund, es ihr zu verbieten. Sie war Nikolaus‘ Schwester gewesen, nicht seine Mutter und sie trug immerhin eine dezente Farbe, nichts Helles und Auffälliges. Luise schluckte. Ihre einzige Tochter würde heute Abend zum ersten Mal mit einem Mann zum Tanzen gehen. Vielleicht bedeutete das noch nichts, vielleicht war es lediglich eine unschuldige Verliebtheit, aber irgendwann würde Juliane von ihnen fort gehen, um mit einem Mann zu leben, eine eigene Familie zu gründen. Sie konnte nur beten, dass es noch eine Weile dauern und sie ihre einzige Tochter nicht auch noch verlieren würde.

Aufgeregt drehte das junge Mädchen sich von rechts nach links, um ihre Frisur in dem kleinen Spiegel zu beobachten.

„Glaubst du“, wollte sie von ihrer Mutter wissen, „dass er mich hübsch finden wird?“

Luise musste trotz des Schmerzes und der Trauer, die sie nicht eine Sekunde des Tages verließen, kurz lächeln. „Natürlich wird er das! Du bist das bezauberndste Mädchen in der ganzen Siedlung!“

„Oh, Mutter!“ In Julies Augen war dies eine maßlose Übertreibung; doch sie spürte, wie sie bei den Worten leicht errötete. „Das stimmt doch gar nicht!“

Luise tätschelte ihre Wangen. „Nun komm! Zieh dir noch dein Cape über. Es ist kalt draußen.“

Sie beobachtete ihre Tochter bei ihrem hektischen, aufgeregten Tun und Erinnerungen stiegen in ihr hoch. Wie war es damals doch gleich gewesen, als sie mit Friedrich zum Dorffest gegangen war und zur Einweihung des neuen Pfarrhauses? Als er ihr erklärt hatte, dass er dort eines Tages einziehen würde, sobald er sei Studium zu Ende gebracht hatte? Luise erschrak und presste sich die Hände gegen die Wangen. Damals war sie ganze sechzehn gewesen und Friedrich auch nur drei Jahre älter! Beide waren sie voller Träume und Zukunftsvisionen gewesen – und das, obwohl die Ehe längst durch ihre Eltern beschlossen worden war. Sie hätte sich überhaupt keinen anderen mehr suchen dürfen, ohne, dass es zum Skandal gekommen wäre, aber sie hatte Friedrich sofort gern gehabt, von der ersten Sekunde an und deshalb war ihr das ‚Ja‘ nicht schwer gefallen.

Und jetzt, dachte Luise, jetzt ist meine eigene Tochter schon älter als ich damals. Als ich siebzehn war, hatte ich bereits Hubert auf dem Schoß sitzen und ich trug das nächste Kind unter meinem Herzen.

Wehmut überkam sie und sie musste sich abwenden. Sie tat, als würde sie den Dutt, der ihr eigenes, rotblondes Haar zusammenhielt, kontrollieren und trat an den Spiegel. Alt war sie geworden, fand sie, alt über den Strapazen, über den Sorgen und dem Leid. Jeden Moment konnte dieser junge Mann auftauchen und Juliane mit sich fortnehmen. Vorerst zwar nur zum Tanz, wer konnte ihr jedoch versprechen, dass es ihr nicht jetzt genauso ergehen würde, wie ihrer eigenen Mutter damals? Luise seufzte. Sie hatte die Sorgen ihrer Mutter nicht verstanden. Das tat sie erst jetzt, da sie ihr eigenes Kind freigeben musste, da das Leben von ihr verlangte, sich dem Schicksal zu beugen – dem Schicksal des Altwerdens und der Gleichgültigkeit, denn es erwartete sie nichts mehr, außer der Hoffnung auf Enkelkinder und darauf, dass Hubert eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Das verhaltene Klopfen an der Haustür ließ Luise zusammenzucken. Nervös kam Julie zu ihr gelaufen und fasste ihre rauen, von der Arbeit mitgenommenen Hände.

„Oh, bitte, Mutter! Mach’ du ihm auf und lass ihn herein! Bitte!“

Um Luises schmale Lippen spielte ein verständnisvolles Lächeln. „Schon gut! Ich gehe!“

Sie schritt hinüber in den Wohnraum, wo Friedrich den jungen Sergeant soeben hereinbat. Er trug – wie immer – seine Uniform und hielt seinen Hut in den Händen, während er zuerst Friedrich, dann Luise höflich und zurückhaltend die Hand reichte.

„Guten Abend, Mr. Kleinfeld – Mrs. Kleinfeld.“

„Es freut uns sehr, Sie kennenzulernen!“, versicherte Friedrich und musterte den jungen Mann eindringlich von oben bis unten.

Luise spürte, wie ihr schwer ums Herz wurde. Es war das erste Mal, dass sie ihn bewusst wahrnahm. Sie hatte zwar längst mitbekommen, dass ein paar Soldaten vom Fort hier untergebracht waren, als Wachposten, doch sie hatte noch keinem von ihnen wirklich ins Gesicht gesehen, denn im Grunde gab sie ihnen die Schuld. Schuld, weil sie das wichtigste, das bedeutendste und das liebste ihrer Kinder verloren hatte, weil der Sonnenschein, für den sie so hart hatte kämpfen müssen, ihr nun doch viel zu früh genommen worden war. Luise biss sich auf die Lippen. Wieder wollten sich Tränen in ihre hellbraunen Augen drängen, doch sie lächelte.

„Meine Tochter ist jeden Moment soweit!“ Sie trat zur Schlafzimmertür des Mädchens und öffnete sie einen Spalt. „Kommst du?“, fragte sie hinein und stieß die Tür ganz auf. Es schien ihr wie endgültig und nicht mehr rückgängig zu machen, als sie nun beiseite trat und den Weg freigab.

Strahlend und hinreißend wie nie zuvor, betrat Julie den Wohnraum. Drei Schritte vor Ron McVeagh blieb sie stehen. „Guten Abend, Sergeant!“

Es dauerte einen Moment, ehe er ihr antworten konnte. Seine hellblauen Augen hingen an ihrer bezaubernden Erscheinung und er musste schlucken. „Guten Abend, Miss Kleinfeld.“

Und wieder war es da – dieses warme, herzliche Lächeln, das sie so sehr zu faszinieren vermochte. Er bot ihr galant seinen Arm und sie hakte sich bei ihm unter. Die Berührung seines Körpers durch die Jacke hindurch jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Da war plötzlich ein Gefühl, das sie nicht kannte, eine Sehnsucht nach etwas, das sie nicht zu benennen vermochte.

Vielleicht, dachte sie, ist es das, wovon Hardy gesprochen hat: ‚Dieses bestimmte Gefühl, wenn ich dich berühre...‘ Vielleicht ist es das und ich lerne es gerade kennen.

Lange blickte Luise den beiden nach, während sie langsam in der Dunkelheit, die nur von einzelnen Lichtern vor Häusern durchbrochen wurde, die Straße hinab schlenderten und leise miteinander redeten.

„Komm“, sagte Friedrich schließlich sanft und schob sie zurück, um die Türe zu schließen. „Es wird kalt. Ich sollte nochmal Holz nachlegen, damit das Feuer nicht ausgeht über Nacht.“

„Ja“, erwiderte Luise gedankenverloren. „Tu’ das.“

Sie setzte sich in ihren Schaukelstuhl neben dem Kamin und griff, ganz selbstverständlich und ohne überhaupt darüber nachzudenken, nach ihrer Strickarbeit. Der Pullover, den sie für Nikolaus hatte stricken wollen, war überflüssig geworden. Jetzt würde Hubert ihn bekommen, er konnte ihn gebrauchen, denn wenn er das Schulhaus jeden Morgen als Erster betrat, war es eisig und bis der Ofen eine anständige Wärme abgab, dauerte es mindestens eine halbe Stunde. Meistens saß er dann dort alleine in der Kälte und kontrollierte die letzten Arbeiten der Schüler oder traf die letzten Vorbereitungen für den Unterricht.

Luises Hände ruhten auf ihrer Strickarbeit und sie beobachtete mit starrem Blick das knisternde Spiel der Flammen. Der Weg, ihr Weg, hatte weiß Gott ungeahnte Richtungen eingeschlagen.

„Ein gutaussehender und sympathischer junger Herr, dieser Sergeant“, sagte Friedrich leise in ihre Gedanken hinein.

„Ja“, flüsterte Luise, denn jedes laute Wort hätte sie in Tränen ausbrechen lassen. „Er passt zu ihr.“

Friedrich zündete seine Pfeife an und schmunzelte in sich hinein. „Hast du bemerkt, wie sie einander angesehen haben? Ich hoffe, unser Mädchen verbringt einen schönen Abend!“

„Das wird sie“, erwiderte Luise leise. „Das wird sie ganz bestimmt...sie liebt ihn.“

Langsam und in seine Überlegungen versunken schlenderte Hugh die Hauptstraße hinab. In wenigen Tagen war Weihnachten. Wie eigenartig. Das erste Weihnachten, das sie hier, in ihrer Stadt verbrachten, dabei kam es ihm viel länger vor, dass sie Deutschland verlassen hatten, wie Jahre und nicht nur einige Monate. St. Louis erschien vor seinem inneren Auge...die Erinnerung daran ließ ihn lächeln. Das Bild einer jungen, hübschen Frau erschien vor seinem geistigen Auge und die Gefühle, die sie in ihm ausgelöst hatte. Er schüttelte den Kopf, kurz und heftig. Nein, daran wollte er sich nicht erinnern. Es kam ihm vor, als läge dies schon zehn Jahre oder noch länger zurück. Alles kam ihm unendlich vor.

Die Tage waren schrecklich kurz und es herrschte mehr Nacht und Dunkelheit als Tag. Hugh seufzte und wickelte sich den Schal fester um den Hals. Er hasste den Winter mit all seiner Kälte und Trübsinnigkeit. Die Praxis von Doktor Retzner, die nun Julie nach bestem Wissen und Gewissen führte, erschien zu seiner Linken. Licht erhellte die dünnen Vorhänge von innen, die bis zur Hälfte des Fensters hinauf reichten. Hugh stoppte abrupt. Er blickte sich um. Niemand ließ sich bei diesem Wetter auf der Straße blicken, wenn es nicht unbedingt sein musste. Auch jetzt war niemand zu sehen und nach kurzem Zögern und der Frage der Richtigkeit seines Tuns, huschte er an das Fenster. Behutsam schob er sein Gesicht vor die Scheibe und blinzelte hinein. Julie stand vor ihrem Medizinschrank und sortierte irgendwelche Fläschchen und Gefäße ein, vermutlich neue Medikamente. Daneben, am Behandlungstisch, lehnte Sergeant McVeagh und beobachtete sie, während sie sich miteinander unterhielten. Hugh konnte ihre Worte nicht verstehen, das brauchte er auch gar nicht. Es war offensichtlich, jedenfalls für ihn. Da standen zwei Menschen, die einander sehr viel bedeuteten.

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