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Paradoxien im Kampf um die Initiativen zu Abtreibung, Mutterschaft und Gleichstellung

Deutlich bezeugte die 1977 neu gegründet OFRA diese Integration in die institutionalisierte Art des Politisierens mit ihrer bereits am Gründungskongress deklarierten Absicht zur Lancierung einer Mutterschaftsinitiative.85 Damit band sich die neue Organisation in die Tradition der Arbeiterinnenbewegung ein, für die Lohnfortzahlung während des gesetzlich verordneten Mutterschaftsurlaubs und Kündigungsschutz während der Schwangerschaft seit Ende des 19. Jahrhunderts unabdingbar zu einem echten Mutterschutz zählten. Wenig Interesse zeigte sie anfänglich an der Kritik der Lesben an der Heteronormativität, deren Einfluss in der neuen Frauenbewegung einige ihrer Exponentinnen unterschwellig ablehnten.86 Diese Haltung war neben der Organisationsstruktur mit ein Grund für Spannungen mit der FBB. Statt auf autonom agierende Arbeitsgruppen und lose Koordination setzten sie auf lokale Sektionen, Delegiertenversammlung, Vorstand und Sekretariat.

Nachdem die Sozialdemokratinnen und Frauen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) protestiert hatten, dass die OFRA sich aus Profilierungsgründen ihrer Anliegen bemächtigt habe, wurden breite Kreise in die Vorbereitung der Initiative miteinbezogen. Die Beteiligung von FBB und MLF an der Ausarbeitung signalisierte eine grundsätzliche Wende, die zu internen Diskussionen führte, da es sich mit dem starken Einfluss der Gewerkschaften nicht mehr um ein autonomes Frauenprojekt handelte. Kernstück waren neben dem Kündigungsschutz ein bezahlter Mutterschaftsurlaub von 16 Wochen und ein dem Vater oder der Mutter wahlweise zustehender bezahlter Elternurlaub von neun Monaten.87 Während Frauen aus dem linken Parteienspektrum und der Gewerkschaften sowie aus FBB und MLS dem Initiativkomitee beitraten, konnte sich weder die Frauengruppe des SKV unter Alice Moneda noch der BSF – obwohl er seit seinem Bestehen ein klarer Befürworter der Mutterschaftsversicherung war – zur Unterstützung der Initiative durchringen, ebenso wenig der SKF, obwohl er sich als Gegenstrategie zur Fristenlösung der Verteidigung der Mutterschaft verschrieben hatte. Die Ablehnung galt insbesondere dem neunmonatigen Elternurlaub, dem Kernstück der feministischen Anforderungen an die Initiative. Nur die dem EFB zugeordnete Evangelische Frauenhilfe legte, von Initiantinnen und Frauenverbänden kaum beachtet, ihrer Zeitschrift Unterschriftenbogen bei.88 Auch das Interesse der autonomen Feministinnen hielt sich wegen des Gewichts von OFRA und Gewerkschaften in Grenzen. Doch der Elternurlaub bedeutete implizit ansatzweise die Bezahlung der Hausarbeit als feministisches Anliegen. So beteiligten sich die FBB wie die Radikalfeministinnen an der Lancierung im Herbst 1978.89 Die Volksinitiative «Für einen wirksamen Schutz der Mutterschaft», zu dessen Komiteemitgliedern unter anderem Ruth Dreifuss als Vertreterin des SGB, die neu SP-nahen Feministinnen Christiane Brunner und Gret Haller sowie die Radikalfeministin Ursula Streckeisen gehörten, wurde Anfang der 1980er-Jahre mit einem Anteil von rund 85 Prozent Nein-Stimmen brutal verworfen. Es sollte über zwanzig Jahre dauern, bis die heute gültige, höchst bescheidene Vorlage gesetzlich verankert wurde.

Nur geringe Unterstützung der Frauenverbände erhielt auch die Gleichstellungsinitiative, obwohl sie 1975 vom Kongress im Berner Kursaal lanciert worden war. Die Ausformulierung der Initiative zur «Gleichbehandlung von Mann und Frau in Gesellschaft, Familie, Arbeitswelt, Erziehung und beruflicher Ausbildung» war vorwiegend ein Werk von Jacqueline Beren stein-Wavre und ihrem Ehemann Alexandre Berenstein, Bundesrichter und Generalsekretär der Internationalen Gesellschaft für das Recht der Arbeit und der Sozialen Sicherheit. Beim Gleichstellungsartikel ging es Berenstein-Wavre um die Menschenrechte, wie sie von der UNO definiert waren: «L’homme et la femme sont égaux en droit et en dignité.»90 Trotz der Beteiligung ihres Ehemanns bei der Ausarbeitung war es die erste nur von Frauen lancierte Verfassungsinitiative der Schweizer Geschichte überhaupt. Sechs der fünfzehn Mitglieder des Initiativkomitees waren bereits Mitglied der ARGE gewesen, darunter Alice Moneda vom SKV, Lydia Lenz-Burger und Jacqueline Berenstein-Wavre, Letztere allerdings nur als Einzelperson und nicht als Vertreterin des BSF, den sie präsidierte. Dieser tat sich schwer mit der Initiative und beteiligte sich nicht an der Unterschriftensammlung, da in der Delegiertenversammlung die dafür notwendige Zweidrittelsmehrheit nicht erreicht wurde. Selbst die Delegierten des SVF, wie sich der vormalige Frauenstimmrechtsverein nun nannte, verweigerten die aktive Unterstützung. Vor allem die Westschweizer Sektionen vertraten die Meinung, die Bevölkerung goutiere die «Flut von Initiativen» nicht. Es sei besser, die Gleichstellung auf der Gesetzes- statt auf der Verfassungsebene zu verfolgen, eine Haltung, welche die ehemalige Verbandspräsidentin Lotti Ruckstuhl-Thalmessinger scharf kritisierte. Ebenso kritisierte sie als langjähriges engagiertes Mitglied den SKF, der wie auch der EFB und der SGF es ablehnte, sich am Sammeln von Unterschriften zu beteiligen.91 Bemerkenswert war die Unterstützung der Initiative durch die Zürcher Frauenzentrale. Dem Argument, die Männer könnten ob der Initiative «vertäubt» sein, entgegnete die Präsidentin Hulda Autenrieth-Gander, Mitorganisatorin des Frauenkongresses von 1975, ganz undiplomatisch: «Jede Freiheitsbewegung – und die Frauenbewegung gehört mit dazu – ist unbequem, muss unbequem sein. Sie stellt Fragen und Forderungen, verlangt Überdenken des Gewohnten und Verzicht auf Privilegien.»92

Dennoch: Der Rückhalt in der bürgerlichen Frauenbewegung war gering. Dass in der vorgegebenen Frist die Unterschriften dennoch zusammenkamen, war neben dem persönlichen Einsatz der Mitglieder des Initiativkomitees auch der nicht eingeplanten Unterstützung junger Feministinnen zu verdanken. Die entscheidenden fehlenden Unterschriften sammelten im Schlussspurt Frauen von der FBB, dem MLF und insbesondere POCH-Frauen, die alle noch im Januar in Bern kaum Interesse für rechtliche Gleichstellungsfragen markiert hatten, liefen doch gleichzeitig die Diskussionen um die Abtreibungsparagrafen.93 Überraschend war die Kehrtwende nicht. Einige der Gründerinnen des MLF und der FBB waren verheiratet, hatten Kinder; die rechtliche Ungleichstellung in der Familie wirkte sich direkt auf ihr Leben aus. Zudem liess der ausformulierte Gleichstellungsartikel in Bezug auf die geschlechterspezifische Arbeitsteilung in Familie und Beruf Spielraum für feministisch geprägte Deutungen. Und für die POCH-Frauen war die Nutzung politischer Institutionen Teil ihres linken Programms. Gleichstellungs-, Mutterschafts- und Fristenlösungsinitiative waren in ihrer 1975 – fast zeitgleich mit der Fraue-Zitig und der Lesbenfront – gegründeten Zeitschrift Emanzipation gewichtige Inhalte.

Um der Verankerung der Gleichstellung in der Verfassung eine Chance zu geben, zog das Initiativkomitee die Initiative zurück, nachdem Bundesrat und Parlament für einen detaillierten Gegenvorschlag mit analogem Inhalt, aber ohne feste Umsetzungsfrist votiert hatten94 – für die jüngeren Feministinnen ein unverzeihliches Einknicken vor dem patriarchalen Dominanzgebaren von Politikern und Wirtschaftsverbänden. Dafür unterstützten nun – eine neue Kehrtwende – die meisten Frauenverbände, von BSF über SVF, SKF, EFS und den Bund schweizerischer israelitischer Frauenvereine (BSIF) bis zum Verband der Akademikerinnen den Gegenvorschlag mit einem klaren Ja. Die Unterstützung verweigerte weiterhin der SGF: Es brauche Gesetze, keinen Verfassungsartikel. Ebenso distanzierte sich der Verband der Berufs- und Geschäftsfrauen (heute BPW) von der Initiative mit dem alten Argument aus den 1950er- und 1960er-Jahren, Gleichstellung solle nicht erzwungen werden. Die Unterstützung verweigerten auch die Freisinnigen Frauen, obwohl profilierte Freisinnige wie Lili Nabholz-Haidegger seit Anbeginn für die Verankerung in der Verfassung eintraten. Eine Kehrtwende gab es auch bei den deklarierten Feministinnen: Zita Küng von der OFRA stellte für den Abstimmungskampf Unterlagen zur Lohngleichheit zusammen, Martine Chapponière-Grandjean, Mitbegründerin des MLF, leitete das Genfer Komitee und übernahm das Präsidium der Zeitschrift Femmes Suisses, des Organs der Frauenstimmrechtlerinnen.95 Sie alle trugen zum Erfolg bei: Am 14. Juni 1981 votierten Stimmende und Kantone für die Verankerung der Gleichstellung in der Verfassung. Für Berenstein-Wavre «le plus beau jour de ma vie». Ein Tag, eine Abstimmung, die ein Jahrzehnt später mit dem Frauenstreik einen Mobilisierungseffekt von historischer Bedeutung erzeugen sollten – über (fast) alle Abgrenzungen und Generationen hinweg.96

Neue Horizonte

Eine Öffnung markierte bereits 1971 die Zeitschrift Schritte ins Offene, die der EFB zeitgleich mit der Einführung des Frauenstimmrechts ab 1971 im Zeichen des ökumenischen wie sozialen Aufbruchs neu gemeinsam mit dem SKF anstelle der je eigenen Verbandszeitung herausgab.97 Die Redaktion dieser Zeitschrift, der unter anderen Marga Bührig, die Theologin und Leiterin des evangelischen Studienzentrums Boldern, und die Journalistin Anne-Marie Holenstein, die erste Sekretärin der entwicklungspolitischen Organisation Erklärung von Bern (heute Public Eye), angehörten, nahm in der Folge immer wieder Impulse von feministischer Seite auf und setzte selbst sozial- und entwicklungspolitische Akzente, die ihrerseits von jüngeren Feministinnen rezipiert wurden.

Feministische Akzente setzte die 1976 eingesetzte EFK. Die Sozialdemokratin Emilie Lieberherr fungierte als deren erste Präsidentin, ihr folgte 1981 die Freisinnige Lili Nabholz-Haidegger. Auch dank dieser unerschrockenen Politikerinnen aus verschiedenen politischen Lagern erwies sich die EFK seit Anbeginn als Instrument, das die breite Palette rechtlicher Gleichstellungsfragen beleuchtete, neue feministische Themenbereiche aufgriff und auch politisch gesehen brisante Diskussionen nicht scheute. Von der neuen Frauenbewegung zuerst noch belächelt, zeigte sich die EFK bald als eine entscheidende Institution, die ihre Postulate aufnahm und institutionell absicherte.98 In der seit 1978 mehrmals jährlich erscheinenden EFK-Publikation Frauenfragen schrieben immer auch Autorinnen mit einem feministischen Hintergrund, so die in die SP eingetretene Feministin Gret Haller, die 1973 zu Menschenrechtsfragen dissertiert hatte und mit ihrer pointierten Aussage «Mehr vom Kuchen für Frauen heisst weniger für Männer» Machtfragen auf den Punkt brachte.99 1979 veröffentlichte sie im Auftrag der EFK in Frauenfragen den Beitrag «Die Stellung der Frau im Spiegel des internationalen Rechts».100 Noch im selben Jahr beleuchtete Lydia Trüb als Gewerkschafterin im Themenheft zur Arbeitswelt die ambivalente Haltung des SGB zur Teilzeitarbeit, und die Feministin Katharina Ley stellte die von ihr mitverfasste Untersuchung der Lebens- und Arbeitssituation italienischer Frauen in der Schweiz vor.101 Wie rasch Frauenfragen neue Ansätze aufgriff, bezeugte das im Herbst 1979 veröffentlichte Themenheft zur Feministischen Theologie.102 Auch die Demonstrationen zum 8. März und vielfältige Aktivitäten von FBB und OFRA erschienen in der regelmässig von der Redaktion der Frauenfragen erstellten «Chronologie der laufenden Ereignisse»: vom Schutz misshandelter Frauen bis zur Eröffnung des «Frauenzimmers» in Basel als erster Frauenbeiz in der deutschsprachigen Schweiz.103

Dass die am offiziellen Frauenkongress von 1975 nicht thematisierte Homosexualität bereits gegen Ende der 1970er-Jahre von älteren Vertreterinnen der Frauenbewegung aufgegriffen wurde, erstaunt nur auf den ersten Blick. Enge Freundschaften und intime Lebensgemeinschaften zwischen Exponentinnen der Frauenbewegung prägten diese seit ihren transnationalen Anfängen im 19. Jahrhundert, ja sie ist ohne diese kaum denkbar. Erinnert sei nur an die Begründerinnen des BSF, Helene von Mülinen und Emma Pieczynska-Reichenbach,104 um die Jahrhundertwende oder an die Lebensgemeinschaft der Waadtländer Anwältin Antoinette Quinche mit der spanischen Frauenrechtlerin Clara Campoamor, die sich als im franquistischen Spanien verfolgte Republikanerin in der Schweiz niederliess.105 Nur über eine mögliche sexuelle Dimension dieser Lebensgemeinschaften wurde öffentlich nicht geredet und kaum geschrieben. So lebten und arbeiteten auch in den 1970er-Jahren sowohl Emilie Lieberherr106 als auch die Theologin Marga Bührig mit Frauen, ohne sich als Lesben zu definieren. Dennoch organisierte Bührig als Leiterin des evangelischen Tagungszentrums Boldern mit ihrer Partnerin Else Kähler ab 1974 die Tagungen für Lesben.107

In der katholischen Paulus-Akademie lud ihrerseits Brigit Keller als Leiterin der von ihr aufgebauten Tagungen zu Frauen 1980 die Germanistin und Lesbenfront-Redaktorin Madeleine Marti zur Führung eines Gruppengesprächs und 1981 zu einem ersten Referat zu lesbischer Literatur ein.108 Ebenso ermöglichte Keller in der Paulus-Akademie Veranstaltungen von und mit Migrantinnen von bedeutender Wirkung.109 So rückten mit den Veranstaltungen von Lesben und Migrantinnen, die 1975 nur am Gegenkongress als feministische Aktivistinnen in Erscheinung getreten waren, gegen Ende der 1970er-Jahre neue Themen vom Rande ins Zentrum.

Seit den Divergenzen zwischen Kongress und Gegenkongress um die private Haus- und Betreuungsarbeit gewann dieses Thema nach 1975 neue Beachtung – die Bewertung blieb umstritten, die Perspektive ambivalent. Mit dem Aufruf «Révalorisation!» pochte Berenstein-Wavre als Präsidentin des BSF auf die eidgenössische Anerkennung des sozialen und ökonomischen Werts der Familienarbeit. Als Sozialdemokratin trieb sie in der Romandie die Gründung des Syndicat des personnes actives au foyer (SPAF) voran und verankerte die Hausarbeit als Kernthema des 1978 gegründeten gewerkschaftsnahen Collège du Travail in Genf. Vor der Forderung nach «Lohn für Hausarbeit» wich sie allerdings ebenso zurück wie der BSF. Doch «Würdigung» allein genügte den feministischen Kritikerinnen des Kapitalismus nicht. Sie machten unter dem Begriff «Gratisarbeit» als feministischer Leitkategorie die Freiwilligen- und Hausarbeit der Frauen unabhängig vom Kriterium der Bezahlung als Arbeit erkennbar, darin allerdings der jahrzehntealten Tradition der Frauenbewegung nicht unähnlich.110 Trotz der Divergenz um die Bezahlung zeigten sich hier gemeinsame Wertungen der Hausarbeit, die sich als Debatte von grundlegender Bedeutung für die Frauenbewegung längerfristig am Horizont abzeichnen sollte: sei es im Kontext der Berücksichtigung in der AHV, sei es als gesellschaftlich unabdingbare Care-Arbeit. Diese Debatte sollte dem als Kampfparole verstandenen Aufruf Berenstein-Wavres neue Aktualität verleihen: «À la maison et au-dehors, je vaux de l’or!»111 In der von ihr 1977 initiierten und bis 2014 jährlich erschienenen «Agenda des femmes / Agenda der Schweizer Frau»112 zeigten sich gegen Ende der 1970er-Jahre die sich abzeichnenden Pluralitäten innerhalb der Frauenbewegung in ihrer ganzen Breite – als Aufbruch zu neuen Horizonten.

Margrith Bigler Eggenberger


Erste Bundesrichterin – mit Sensibilität für Gleichstellung und soziale Gerechtigkeit

Ein Jahr nach Einführung des Frauenstimmrechts wählte das eidgenössische Parlament mit knappem Mehr die St. Galler Juristin Margrith Bigler-Eggenberger zur ersten Ersatzrichterin und zwei Jahre später ähnlich knapp zur ersten ordentlichen Richterin am Bundesgericht in Lausanne. Ihre Arbeit sei ungemein befriedigend gewesen, sagt sie heute. Nicht zuletzt deshalb, weil ihre Argumente wegweisende Urteile zugunsten der Frauen begründeten.

Das Prozedere und die Resultate der Wahlen Margrith Bigler-Eggenbergers zur Ersatzrichterin und dann zur ersten ordentlichen Richterin am Bundesgericht waren symptomatisch für die immer noch geringe Wertschätzung der Frauen in der Schweizer Politlandschaft der 1970er-Jahre. Ein Politiker manipulierte ihren beruflichen Werdegang in den Bewerbungsunterlagen und liess sie damit als unerfahrene Praktikantin und Hausfrau erscheinen. 1972 opponierte der fremdenfeindliche Nationalrat Robert Schwarzenbach offen gegen ihre Kandidatur, 1974 ein St. Galler Jungpolitiker. Das CVP-Organ Die Ostschweiz griff sie als Kindsmörderin an, weil sie für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs eintrat. Und überhaupt, so die Meinung vieler, «könne man den roten Frauen nicht trauen».113 Unglaubliche 17 Jahre lang sollte sie die einzige Bundesrichterin bleiben, bis 1991, dem Jahr des ersten Frauenstreiks. Margrith Bigler-Eggenbergers Erfolge während ihrer langen Tätigkeit zeugen von ihrem starken Engagement im Dienste der Menschenrechte, der Gleichstellung der Frauen, der Gerechtigkeit und sozialen Absicherung der schwächeren Mitglieder der Gesellschaft, einem Engagement, das in ihren lebensweltlichen Erfahrungen verwurzelt ist.

Geboren 1933 in Henau-Uzwil, einer von der Textil- und Maschinenindustrie geprägten St. Galler Gemeinde, war Margrith Eggenberger seit Kindsbeinen mit der Armut vieler Arbeiterfamilien konfrontiert, einem Thema, das in der Familie mit fünf Kindern immer wieder abgehandelt wurde. Ihrem Vater, einem sozial-religiös ausgerichteten Primarlehrer, gelang als Sozialdemokrat und Bauernsohn der Aufstieg zu einem der profiliertesten Politiker des Kantons: Er war Regierungsrat, dann National- und schliesslich Ständerat. Die Mutter gehörte zu den Mitbegründerinnen der lokalen sozialdemokratischen Frauengruppe, in der regelmässig bekannte Frauen Vorträge hielten. Als Referentin war auch die promovierte Germanistin und Philosophin Anna Siemsen im Hause Eggenberger zu Gast, die als engagierte Pazifistin und Sozialdemokratin beim Machtantritt der Nationalsozialisten von Deutschland in die Schweiz emigriert war. Einen ebenso nachhaltigen Eindruck hinterliessen bei Margrith Bigler-Eggenberger die Flüchtlinge, die während des Kriegs bei der Familie ein- und ausgingen. Bis in die heutige Gegenwart unvergesslich blieb ihr die Tatsache, dass die verwitwete Grossmutter 1948, nach Einführung der AHV, erstmals eigenes Geld ausbezahlt erhielt. Dass auch ihre Mutter – trotz ihres politischen Engagements – als Hausfrau finanziell gänzlich von ihrem Ehemann abhängig war, löste bei Margrith Eggenberger den festen Entschluss aus, als Frau immer auf eigenen Füssen zu stehen.

Nach ihrem Studium der Rechte in Genf und Zürich dissertierte sie über die Resozialisierung von Straffälligen.114 Während der Recherchen zu ihrer Doktorarbeit in Bern wohnte sie temporär bei der Primarlehrerin Bertha Bigler, Adoptivmutter von Kurt Bergheimer. Mit seinen Eltern 1941 von Deutschland zuerst in die Konzentrationslager in Südfrankreich deportiert, war dem 1925 geborenen jüdischen Jugendlichen die Flucht und nach tagelangen Fussmärschen die Überquerung der Grenze nach Genf gelungen. Seine Eltern dagegen wurden in Auschwitz ermordet. Nach dem Krieg adoptierte Bertha Bigler den schwer erkrankten jungen Mann. In ihrem Heim begegneten sich Margrith Eggenberger und der acht Jahre ältere promovierte Historiker. Nach ihrer Heirat 1959 liessen sie sich in Ins nieder. Doch die beruflichen Aussichten sowohl am Gericht als auch in einer Anwaltskanzlei erwiesen sich für die St. Galler Juristin und Anwältin im Kanton Bern als äusserst schwierig. Die Wahl ihres Ehemanns ans Lehrerseminar Rorschach geriet daher ihrer eigenen Aussage gemäss zum zentralen Wendepunkt in ihrem Leben.115 Das Paar liess sich in Margrith Bigler-Eggenbergers Herkunftskanton nieder, was für sie der Beginn breiter beruflicher und politischer Aktivitäten bedeutete. Als eigenwilliges Mitglied des kantonalen Sozialversicherungsgerichts trieb sie die Verwaltung «zur Weissglut», da sie über die Anträge für Hilflosenentschädigung nicht nur aufgrund von Akten entscheiden wollte, sondern sich jeweils ein Bild von der Situation der Antragstellenden machte und dabei nicht selten über die arrogante Haltung der Verwaltung erschrak. Diese rekurrierte ihrerseits beim Eidgenössischen Versicherungsgericht in Luzern, das sie zurückpfiff: Ein persönlicher Augenschein sei nicht Sache des Gerichts.116 Dennoch war es für Margrith Bigler-Eggenberger eine reiche Zeit. Als erste Dozentin der Handelshochschule St. Gallen, der heutigen HSG, hielt sie Seminare und Vorlesungen zum Sozialversicherungsrecht und beteiligte sich an der Enquête über die Heimarbeiterinnen im Kanton.117 In ihrem gesellschaftspolitischen Engagement verband sie soziale Anliegen mit frauenspezifischen Postulaten. Als Vorstandsmitglied der Frauenzentrale St. Gallen stiess ihr Eintreten für die Etablierung der Familienplanung bei den Katholikinnen vorerst auf Misstrauen, doch gelang ihr in dieser Frage der Durchbruch. Als Vorstandsmitglied des Bundes schweizerischer Frauenorganisationen (BSF) vertrat sie diesen ab 1969 in der Schweizerischen AHV- und IV-Kommission, ebenso war sie Mitglied im Verwaltungsrat der SUVA. In der juristischen Kommission der Sozialdemokratischen Frauen der Schweiz arbeitete sie eng mit deren Präsidentin, Marie Böhlen, und anderen erfahrenen Juristinnen zusammen. Sie verfassten Vernehmlassungen zu anstehenden Gesetzesrevisionen und Einführungen zum Familienrecht für interessierte Leserinnen.118 Viele ihrer Vorschläge und Kommentare flossen in den 1990er-Jahren in die für Frauen bahnbrechende 10. AHV-Revision ein, was Margrith Bigler-Eggenberger bis in die Gegenwart mit Genugtuung erfüllt.119

Nach Einführung des Frauenstimmrechts schlug die Sozialdemokratische Partei der Schweiz die inzwischen bekannte Juristin zur Wahl als Ersatzrichterin am Bundesgericht vor, zwei Jahre später folgte die Wahl zur ordentlichen Bundesrichterin. Als Ersatzrichterin in der staats- und verwaltungsrechtlichen Abteilung behandelte Margrith Bigler-Eggenberger als ersten Fall die staatsrechtliche Beschwerde von Zürcher Prostituierten, die sich gegen den Entscheid der Stadt Zürich stellten, sie auf ein Fabrikareal zu verdrängen. Mit dem Argument, auch für die «Dirnen» gelte die Handels- und Gewerbefreiheit, drang sie bei den Richterkollegen durch. Damit wurde Prostitution in der Schweiz von höchster Instanz als Berufstätigkeit definiert, ein Durchbruch auch das. Als ordentliche Richterin wurde sie gegen ihren Wunsch in die zivilrechtliche Abteilung versetzt, da die Mehrheit ihrer Kollegen offensichtlich der Meinung war, eine Frau gehöre ins Familienrecht. «Es war nicht immer ein einfaches Leben, aber meine Arbeit war ungemein befriedigend», so ihr Fazit Jahrzehnte später gegenüber der Republik.120 Langfristige Genugtuung erfuhr sie auch deshalb, weil ihre Argumente wegweisende Urteile zugunsten der Frauen begründeten. Einem Rentner, der verlangte, dass die Versicherung den Schaden bei der Entschädigung mitberücksichtigte, den er durch den Wegfall der Arbeitsleistung seiner Frau nach deren Tod erlitt, gab das Bundesgericht recht. Seit diesem Entscheid kann der errechnete Stundenlohn für Hausarbeiten Entschädigungsansprüche legitimieren. Auch erreichte Margrith Bigler-Eggenberger, dass das Bundesgericht in Scheidungsangelegenheiten die Notwendigkeit der sozialen Absicherung nicht erwerbstätiger Frauen im Urteil zu berücksichtigen hat, was später im neuen Scheidungsrecht klar geregelt wurde.121 Ein Höhepunkt ihrer Karriere war der erste Lohngleichheitsprozess der Schweiz 1977, Jahre vor der Verankerung des Gleichstellungsartikels in der Verfassung. Angespornt von der Genfer Sozialdemokratin Jacqueline Berenstein-Wavre legte eine Neuenburger Lehrerin eine staatsrechtliche Beschwerde wegen Lohndiskriminierung ein. Gestützt auf den damaligen Artikel 4 der Bundesverfassung, «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich», und das von der Schweiz ratifizierte Übereinkommen der International Labour Organisation (ILO) «Über die Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit», gab ihr das Bundesgericht recht.122 Da zwischen 1980 und 1989 die Zusammensetzung der Richter der zivilrechtlichen Abteilung fortschrittlich geprägt war, fällten diese vielfach Entscheide, die ins neue Familienrecht von 1988 einflossen. Margrith Bigler-Eggenbergers Erfahrungen der Rechtsprechung in Gleichstellungsfragen schlugen sich in dem zusammen mit Claudia Kaufmann 1997 herausgegebenen Kommentar zum Gleichstellungsgesetz123 und insbesondere in dem von ihr veröffentlichten Standardwerk «Justitias Waage – wagemutige Justitia?» nieder. Sie wünscht sich darin entgegen der Norm eine «sehende Justitia», welche die Augen vor der Wirklichkeit der faktischen Ungleichheit trotz formaler Gleichheit nicht verschliesst.124

Ihre publizistische Tätigkeit entfaltete Margrith Bigler-Eggenberger vorwiegend nach ihrer Tätigkeit als Bundesrichterin. Sie zog sich 1994, früher als beabsichtigt, vom Amt zurück, nachdem jüngere Kollegen Vorwürfe erhoben hatten, sie entscheide politisch.

Über zwei Jahrzehnte war sie wöchentlich zwischen St. Gallen und Lausanne gependelt. Das Gelingen ihrer Ehe auf Distanz verdankte sie auch der fortschrittlichen Einstellung ihres Mannes, Kurt Bigler, mit dem sie die politische Einstellung und gemeinsame kulturelle und historische Interessen teilte, die eng von dessen Geschichte als jüdischer Flüchtling beeinflusst waren. So verfasste Margrith Bigler-Eggenberger 1999 für die Fachzeitschrift Recht einen Beitrag über die mörderischen Folgen des Bürgerrechtsverlusts durch Heirat mit einem Nichtschweizer für Frauen im Zweiten Weltkrieg.125 Schwerpunkt ihrer Interessen blieben neben den Fragen der Gleichstellung die soziale Sicherung und das Engagement gegen jegliche Form der Diskriminierung. So gilt für sie bis heute die Europäische Menschenrechtskonvention (ERMK) als eine Errungenschaft, die gegen alle Anfechtungen der Gegenwart verteidigt werden muss.126 Diese spielte ja zudem bei der Einführung des Frauenstimmrechts eine beschleunigende Rolle.127 Dass die Lohnungleichheit immer noch erst in kleinen Schritten gemindert wird, Jahrzehnte nach dem von ihr beeinflussten Bundesgerichtsentscheid von 1977, erachtet sie schlicht als penibel.128

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