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Befreiung, Autonomie und Frauenbeziehungen

In den 1970er-Jahren drehte sich der transnationale Diskurs der sich neu entfaltenden Frauenbewegung massgeblich um «Befreiung». Er bestimmte in Analogie zu US-amerikanischen und westeuropäischen Vorbildern auch die Namensgebung der sich formierenden Gruppen in der Schweiz: Frauenbefreiungsbewegung (FBB) und Mouvement de libération des femmes (MLF). Diese Befreiung definierte sich nicht über die gesetzliche Umsetzung der Menschenrechte, sondern über uneingeschränkte Selbstbestimmung, symbolhaft verdichtet in der Verfügung über den eigenen Körper im Kontext der Reproduktion, das heisst auch von Verhütung und Abtreibung. In ihren Anfängen setzte die Frauenbefreiungsbewegung den Begriff «Befreiung» noch gleich mit dem Kampf der ehemaligen Kolonialstaaten gegen imperiale Verfügungsmacht. Das wandelte sich in den 1970er-Jahren. Die neue Frauenbewegung verstand nun unter Befreiung zunehmend «Autonomie». Damit setzte sie einen Kontrapunkt zur «Integration», welche die älteren Frauenverbände verfolgten, die sich einbringen wollten, indem sie beispielsweise in gesetzgebenden Kommissionen mitarbeiteten. Autonomie hiess für die neue Frauenbewegung, sich abzugrenzen, von geschlechtergemischten Organisationen und Gruppierungen generell, auch von der Neuen Linken mit ihrer Fixierung auf Produktionsverhältnisse im Besonderen.50 Mit linken Männern liierte Frauen tauschten sich in den von den USA inspirierten Selbsterfahrungsgruppen über die gesellschaftliche Dimension ihrer alltäglichen Zurücksetzung im Privaten aus. Sie verweigerten unter dem Slogan «Das Private ist politisch» die Subsumierung feministischer Zielsetzungen unter vorgegebene Leitlinien. Vielmehr verknüpfte die neue transnationale feministische Bewegung Kapitalismus- und Patriarchatskritik, die sich der Deutungshoheit von Männern jedwelcher politischer Couleur und Machtposition entzog. Sie übernahm zwar kämpferische Begriffe der militanten Arbeiterbewegung und das Symbol der erhobenen Faust. In Verbindung jedoch mit dem Frauenzeichen markierte es den eigenständigen Kampf gegen die Unterdrückung – ein Symbol von transnationaler Kraft, das bis heute Frauen auf verschiedenen Kontinenten zu mobilisieren vermag. Während zu Beginn der 1970er-Jahre auf Flyern und Transparenten die geballte Faust das Frauenzeichen als Fessel sprengte, so wandelte sich das Symbol in der Folge gewonnener Autonomie zu einem positiven Zeichen selbstbewussten Frauseins, das sich patriarchaler Definitionsmacht entzog.51

Die Verbindung von Autonomie und Patriarchatskritik führte zu ganz spezifischen Aktionsformen. Die Frauen bildeten Arbeitsgruppen, die gänzliche Planungs- und Handlungsfreiheit hatten. Eine zentrale Entscheidungsinstanz gab es nicht. Der hierarchiefreie Austausch zwischen Frauen stand im Vordergrund. Doch um sich autonom auszutauschen und unabhängig zu handeln, brauchte es Räume. So erkämpfte sich die neue Bewegung zuerst in Zürich, dann in weiteren Städten meist von den lokalen Behörden und mit unterschiedlichem Einsatz – von Verhandlungen wie in Zürich bis zu Hausbesetzungen wie in Genf52 – zu «Frauenzentren» deklarierte Liegenschaften. In diesen Treffpunkten tauschten sich Frauen in Selbsterfahrungsgruppen aus, disputierten über Politik, gestalteten Projekte, planten Aktionen und eröffneten Beratungsstellen.

Äusserst initiativ zeigten sich bei dieser Suche nach autonomen Räumlichkeiten in den grösseren Städten neu entstandene Lesbengruppen: die Gruppe Sappho s’en fout in Genf und die Homosexuelle Frauengruppe (HFG) in Zürich. Sie grenzten sich von der Bewegung der Homosexuellen ab, da nach ihrer Erfahrung auch dort vorwiegend Männer das Sagen hätten. Erstmals traten Lesben nach aussen als selbstbewusst agierende Gruppe auf, sparten jedoch auch nach innen nicht mit Kritik an den bewegten Frauen. Sie hätten es satt, sagten beispielsweise Genferinnen, in Selbsterfahrungsgruppen immer das Jammern über die privaten Konflikte mit den eigenen Männern – «nos mecs» – zu hören oder nur über den straflosen Schwangerschaftsabbruch zu debattieren: «Ce n’est pas l’homosexualité qui nous réprime. C’est vous.»53 Längerfristig avancierten die Lesben in den Städten zum militantesten Kern der neuen Frauenbewegung. Sie waren entscheidend an der Entwicklung von autonomen sowohl hierarchie- als auch männerfreien Lebens- und Arbeitskulturen beteiligt. Sie sahen Lesbischsein bis in die späten 1980er-Jahre auch als politisches Programm und Frauenbeziehungen als befreiende Praxis. Bereits 1974 erkämpften sich Lesben in Zürich ein eigenes «Lesbenzimmer» im eben erst eröffneten Frauenzentrum an der Lavaterstrasse 4, wo zwei Arbeitsgruppen ab 1975 fast zeitgleich zwei neue Zeitschriften planten und gestalteten: die Lesbenfront (später Frau ohne Herz) mit scharfer Kritik an der gesamtgesellschaftlich dominierenden «Heterosexualität» zum einen, die Fraue-Zitig (später FRAZ) als Sprachrohr der verschiedenen thematischen Arbeitsgruppen zum andern, die beide weit über Zürich hinaus Verbreitung fanden.54 Von zwei abgegrenzten Strömungen zu sprechen, wäre allerdings verfehlt, vielmehr zeigten sich auch innerhalb der neuen Frauenbewegung Pluralitäten mit unterschiedlicher Akzentsetzung, selbst bei Themen mit gleicher Zielrichtung wie der Forderung nach «freier Abtreibung»: von der sexuellen Ausbeutung und Not ärmerer Frauen über die Selbstbestimmung und Verfügung über den eigenen Körper bis zur grundsätzlichen Ablehnung männlich definierter Praktiken der Sexualität.

Thema Abtreibung – auf der Strasse und im Parlament

Mit den Parolen «Mein Bauch gehört mir» und «Kinder oder keine, entscheiden wir alleine» forderte die neue Frauenbewegung ultimativ, dass Abtreibung nicht mehr unter Strafe gestellt werde. Sie beanspruchte mit diesen Parolen auch die Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Kontroll- und Machtansprüchen, die von Männern repräsentiert und ausgeübt werden: von Richtern, Theologen oder Ärzten. Doch die Forderung nach «freier Abtreibung» war im Gegensatz zu anderen Ländern in der Schweiz nicht von der neuen Frauenbewegung lanciert worden. Die Initiative «für Straflosigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung» wurde im Dezember 1971 von einem fünfköpfigen Komitee von drei Männern und zwei Frauen – dank des Frauenstimmrechts war dies nun Frauen erstmals möglich – eingereicht. Drei Jahrzehnte sollte die dadurch ausgelöste Auseinandersetzung dauern.55 Es ging um die Streichung der Paragrafen 118 bis 121 des schweizerischen Strafrechts. Bei der Sammlung der Unterschriften engagierten sich neben Frauen und Männern unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Zugehörigkeit auch die zur Neuen Linken zählenden Progressiven Frauen Basel und Aktivistinnen der neuen Frauenbewegung, insbesondere aus den Reihen der FBB Zürich. Trotz ihrer Absetzung von institutionalisierten Wegen des Politisierens verstanden sie diese Initiative als Ausdruck der transnationalen Mobilisierung für «freie Abtreibung» und Selbstbestimmung. Dabei gingen sie in ihrer Argumentation und ihrem Forderungskatalog weit über den Rahmen der Initiative hinaus und verlangten die Übernahme der Kosten durch die Krankenkasse.

Die Initiative beschäftigte in starkem Masse auch die in Verbänden organisierte bürgerliche Frauenbewegung. So setzte sich die Kommission für Soziales des BSF mit dem Thema auseinander und berief kurz darauf eine Ad-hoc-Kommission mit mehrheitlich jüngeren Frauen ein, um die verschiedenen Möglichkeiten eines straffreichen Abbruchs zu erörtern.56 Ähnlich verfuhren andere Frauenverbände, um im Vernehmlassungsverfahren der Gesetzesvorlage des Bundesrats Stellung zu beziehen. Dieser hatte als Reaktion auf die Initiative verschiedene Möglichkeiten eines Abbruchs formuliert – von der medizinischen über die soziale Indikation bis zur Fristenlösung. Mit Ausnahme des SKF und dessen grundsätzlicher Opposition gegen die Abtreibung sprach sich die Mehrheit der Frauenverbände bei der Vernehmlassung 1973 für die Fristenlösung aus. Eine kleine Minderheit trat sogar für die von der Initiative verlangte Straffreiheit ein. Selbst der Evangelische Frauenbund (EFB) stellte sich gegen die Kriminalisierung des Abbruchs, doch nicht wie die jungen Feministinnen aus Gründen weiblicher Selbstbestimmung, sondern im Sinne einer «Notlösung», da bei der herrschenden Doppelmoral die Kriminalisierung einseitig die Frauen treffe. Nach Meinung des EFB mache die von der FBB als Mittel zur Selbstentfaltung angepriesene Pille auch nicht frei. Frauen falle es wegen der ihnen damit auferlegten Verantwortung für die Verhütung vielmehr oft noch schwerer, in sexuellen Beziehungsverhältnissen selbstbestimmendes Subjekt zu sein. Die Parole «Mein Bauch gehört mir» werde nur dann Realität, wenn jegliches ausbeuterisches Verhalten der Männer verboten sei.57 So sah sich der EFB wegen der Volksinitiative gezwungen, sich mit den Argumenten des neuen Feminismus auseinanderzusetzen. Trotz gänzlich unterschiedlichen Entstehungshintergrunds gab es gerade in Fragen von Doppelmoral und Verfügung über den Körper der Frauen gewisse argumentative Schnittstellen.58

Doch auf der Ebene der medienwirksamen Aktionen gab weiterhin die FBB den Ton an, die 1975, in dem von der UNO ausgerufenen Jahr der Frau, einen Höhepunkt erreichten. Im März ebendieses Jahres diskutierte das eidgenössische Parlament in Bern über die Gesetzesparagrafen zum Schwangerschaftsunterbruch, ein Anlass für die erste grosse Frauendemonstration der Schweiz zum 8. März auf dem Bundesplatz. Sie blieb weitgehend ohne Wirkung auf die parlamentarische Gesetzgebung, genauso wie die grosse Nationale Demonstration für die Legalisierung der Abtreibung mit mehreren Tausend Teilnehmerinnen am folgenden Wochenende in Zürich oder gar die Aktion von rund 15 FBB-Aktivistinnen im Oktober 1975 auf der Tribüne des Nationalratssaals. Sie pfiffen, skandierten «Abtriibig frei, Nationalröt gönd hei» und «Des enfants ou non, c’est nous qui décidons», entrollten ein Transparent, warfen gleichzeitig Flugblätter und nasse Windeln in den Saal.59 Die Debatte zum Schwangerschaftsabbruch wurde kurz unterbrochen. Doch das Parlament und der dafür zuständige CVP-Bundesrat Kurt Furgler blieben bei ihrer Ablehnung der ersatzlosen Streichung der Paragrafen 118 bis 121 aus dem Strafgesetz. Dennoch befürwortete eine bedeutende Zahl von Abgeordneten die als mögliche Gesetzesrevision vorgeschlagene Fristenlösung, die Straflosigkeit des Unterbruchs in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft, für die sich im selben Jahr der von den Frauenverbänden organisierte Frauenkongress im Berner Kursaal ausgesprochen hatte. Daher zog das fünfköpfige Komitee die von ihm lancierte Initiative für einen straflosen Schwangerschaftsabbruch zugunsten einer «Fristenlösungsinitiative» zurück. Diese erhielt die Unterstützung einer breiten Allianz von Frauenverbänden und Frauen bürgerlicher Parteien, allerdings nicht aus den Reihen der CVP mit Ausnahme der späteren Luzerner Nationalrätin Judith Stamm.60 Die katholischen Politikerinnen plädierten zusammen mit dem SKF für mehr Hilfe für Schwangere in prekären Verhältnissen und gründeten diesbezüglich einen spezifischen Fonds.61

Aktivistinnen der neuen Frauenbewegung reagierten ihrerseits heftig auf den Rückzug der Initiative zum straflosen Schwangerschaftsabbruch, der den Kampf um die gänzliche Selbstbestimmung in Sachen «Kinder oder keine» – ohne äussere Beschränkung oder Kontrolle – unterlaufe: «Nous ne supportons aucune instance au-dessus de nous. Ce n’est pas une loi qui nous fera gagner le libre contrôle de notre corps.»62 Während in der Romandie das MLF auch im Abstimmungsjahr 1977 noch lautstark gegen die Fristenlösung opponierte, unterstützten in der deutschen Schweiz, wenn auch mit Vorbehalt, zunehmend viele FBB-Frauen und die Mitglieder der in ebendiesem Jahr aus den POCH-Frauen herausgewachsenen Organisation für die Sache der Frau (OFRA) die Fristenlösung.63 So auch über den mit Unterstützung der Zürcher Infra produzierten Film «Lieber Herr Doktor» von Hans Stürm und dem Filmkollektiv, in dem unter anderem eine Abtreibung mit der damals neuen Absaugmethode vorkam.64 Dass die Fristenlösung als Kompromiss schliesslich wohl von der Mehrheit der Feministinnen Unterstützung erhielt oder zumindest an der Urne bejaht wurde, ist paradigmatisch für den Integrationsprozess der sozialen Bewegung ins schweizerische Politsystem.

Feministische Projekte zwischen Autonomie und Institutionalisierung

Während die Frauenverbände über den Schwangerschaftsabbruch in Kommissionen berieten und in Delegiertenversammlungen debattierten, avancierte die Abtreibung in der neuen Frauenbewegung in verschiedenen Arbeitsgruppen (AGs) zum zentralen Thema, unabhängig davon, ob sie sich explizit mit Sexualität und Körperpolitik beschäftigten oder eher mit alternativen Beratungsangeboten, wie beispielsweis die AG Infra im Zürcher Frauenzentrum. Diese bereits 1972 gegründete Informationsstelle von Frauen für Frauen verstand das Gespräch von nichtprofessionellen Auskunftgebenden mit Ratsuchenden als Akt der Solidarität und Ausdruck des gegenseitigen Austauschs, von dem emanzipatorische Impulse für beide Seiten resultieren sollten. Dieses Modell wurde im Laufe der 1970er-Jahre in grösseren Gemeinden der Deutschschweiz und der Romandie, im Consultorio delle Donne in Lugano und in den Anlaufstellen der sich neu formierenden feministischen Migrantinnengruppen nachgeahmt.65 Aktivistinnen boten Information zu diversen Fragen: von beruflicher Ausbildung über Lohn, Scheidung, Erziehung und Verhütung bis zum Schwangerschaftsabbruch. Insbesondere in letzterem Bereich blieb der intendierte gegenseitige Austausch allerdings weitgehend illusorisch. Wegen des Abtreibungsverbots und der unumgänglichen zeitlichen Dringlichkeit war die als feministisches Engagement verstandene Vermittlung von Möglichkeiten zum Abbruch bald einmal das dringlichste Angebot. Es ging dabei selten um Emanzipation, sondern schlicht um Hilfe in einer oft als extrem empfundenen Notsituation.

Andererseits waren Beratungen von Frauen auch ein Standbein verschiedener lokaler Frauenorganisationen wie der Frauenzentrale Zürich. Diese nahm mit einem gewissen Argwohn von der neuen Beratungsstelle Kenntnis und schickte zwei erwachsene Töchter von Mitgliedern mit verschiedenen Fragen an die Lavaterstrasse, um zu sehen, «ob an Ort und Stelle Ärzte und Juristen vorhanden sind».66 Mit Erleichterung erfuhren sie, dass die Infra lediglich Fachpersonen und -stellen vermittelte, wie das auch ihre Beratungsstelle tat; die behandelten Probleme waren mehrheitlich dieselben. Bezüglich Schwangerschaftsabbruch sah sich die Frauenzentrale allerdings veranlasst, per Handzettel darauf aufmerksam zu machen, dass die «Frauenzentrale» mit dem «Frauenzentrum» verwechselt werde. Sie hielt mit aller Deutlichkeit fest, dass sie «keine Adressen von Aerzten und Kliniken, weder in der Schweiz noch im Ausland, vermitteln [würden], die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen».67 Während die Frauenzentrale ihr unentgeltliches Angebot als Unterstützung von Hilfesuchenden sah, implizit ein hierarchisch strukturiertes Tun für die anderen, gaben die Infra-Frauen ihrem ebenfalls unentgeltlichen Beratungsgespräch eine ebenso antiautoritäre wie radikal-egalitäre Wende:68 «Wir arbeiten zwar umsonst, wollen aber kein Wohltätigkeitsverein sein, sondern wir versuchen, Solidarität mit andern Frauen in der konkreten Situation zu praktizieren. […] Erfolgreich wären unsere Gespräche dort, wo sie, neben der praktischen Hilfe, als Anstoss wirkten zur Infragestellung der heutigen, gesellschaftlichen Situation der Frauen.»69 Mit der Ablehnung von «Wohltätigkeit», dem Tun für die anderen, setzten sich die neuen Feministinnen von den Aktivistinnen der meisten älteren Frauenverbände ab. So zeugten beide Haltungen – der Argwohn der Frauenzentrale gegenüber den «progressiven Frauen» der FBB zum einen und die abschätzige Haltung der Infra Zürich zum andern – von einer gleichermassen verzerrten Wahrnehmung, die wenig Raum für Gemeinsames liess. Das Logo der Infra, eine das Telefon umfassende Faust im Frauenzeichen, markierte das Verständnis feministischer Beratung als Teil des Kampfes gegen die gesellschaftliche Unterordnung und Ausbeutung der Frauen.

Trotz der markierten Abgrenzungen kam es insbesondere im Bereich von Fragen der Gewalt gegen Frauen zu Annäherungen, die vom informellen Austausch bis zur institutionalisierten Kooperation gingen. So zeigte sich die Zürcher Infra gegen Ende der 1970er-Jahre froh über das Angebot des Marthahauses, das im 19. Jahrhundert vom Verein Freundinnen junger Mädchen zum Schutz junger Arbeit suchender Frauen vor Prostitution gegründet worden war. Es zeigte sich bereit, einige Zimmer für die temporäre Unterbringung von Gewalt betroffener Frauen zur Verfügung zu stellen. Mit der Frauenzentrale Zürich kam es schliesslich zur offiziellen Zusammenarbeit, als die Arbeitsgruppe Gewalt des Frauenzentrums Zürich nach ihrer Teilnahme am Internationalen Frauentribunal von 1976 in Brüssel das als autonom verstandene Projekt «Haus für geschlagene Frauen» zu realisieren suchte. Nicht nur galt es, ein Mietobjekt zu finden, es sollten neben dem freiwilligen Engagement von Frauen für das Projekt auch Mitarbeiterinnen eingestellt und der alltägliche Unterhalt finanziert werden. Geld war also eine unabdingbare Voraussetzung für die Umsetzung, erforderte aber ebenso eine formale Struktur. Letzterem kam die Gründung des Vereins zum Schutz misshandelter Frauen nach, Ersterem die Gesprächsbereitschaft der gut vernetzten und freisinnigen Politikerin Liselotte Meyer-Fröhlich von der Zürcher Frauenzentrale einerseits und einiger Initiantinnen des Projekts wie der Juristin Jeanne Dubois andererseits. Erst die zum Zwecke der Finanzbeschaffung gegründete Stiftung ermöglichte die Realisierung des Frauenhauses als feministisches Projekt: eine Mischung von Institutionalisierung und Autonomie.70 Nach ähnlichem Muster kam es im gleichen Jahr in Genf, 1980 in Bern und bald schon in weiteren Städten zur Eröffnung von Notunterkünften für geschlagene Frauen. Wie die Infra-Frauen mussten auch die Frauenhaus-Aktivistinnen allerdings zur Kenntnis nehmen, dass sich die wenigsten der Schutz suchenden Frauen aufgrund sexualisierter Gewalterfahrung zum Feminismus bekannten. Die autonom geplanten feministischen Projekte entwickelten sich vielmehr zu Institutionen mit sozialstaatlicher Funktion.71

Kongress und Gegenkongress – Trennlinien und Gemeinsamkeiten

Mit der Ausrufung von 1975 zum «Jahr der Frau» rief die UNO gleichzeitig den 8. März, der in der Nachkriegszeit de facto fast nur noch in kommunistisch regierten Staaten als Feiertag begangen wurde, zum Internationalen Tag der Frau aus. Von nun an geriet er zu einem jährlichen Orientierungspunkt für die Frauenbewegungen verschiedenster Richtungen, trotz ihrer gegenseitigen Abgrenzungen.72 In der Schweiz zeigte sich die Wechselwirkung von Abgrenzung und Annäherung geradezu paradigmatisch 1975 in Bern, wo im Januar gleichzeitig ein offizieller Kongress und ein Gegenkongress stattfanden.73

Zum «Jahr der Frau» luden rund achtzig Frauenorganisationen unter dem Motto «Partnerschaft – Collaboration dans l’égalité – Rapporto di coppia» vom 17. bis 19. Januar zu einem dreitägigen Kongress in den Kursaal ein. Neben den bekannten gesamtschweizerischen Frauenverbänden wie dem BSF, dem SKF und dem Schweizer Verband für Frauenrechte (SVF) waren auch kleinere Frauenverbände und lokale Gruppierungen beteiligt, ja selbst die Organisation Ja zum Leben. Je nach Ausrichtung deuteten die Verbände und Vereine das Motto «Partnerschaft» auf ihre Weise. So verwies der Evangelische Frauenbund Schweiz (EFS) mit Plakaten auf Partnerschaft im Sinne der Bibel,74 der SKF verstand darunter mehr die gegenseitige Hilfe und Unterstützung von Mann und Frau in der Familie, aber auch im Berufs- und Sozialleben. Ausgangspunkt des Kongresses war die von der Schweizerischen UNESCO-Kommission und dessen Mitglied Perle Bugnion-Secrétan, Präsidentin der Kommission für internationale Beziehungen des BSF, in Auftrag gegebene soziologische Studie von Thomas Held und René Levy, «Die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft».75 Die international bestens vernetzte liberale Genferin Bugnion-Secrétan agierte als Vizepräsidentin, die knapp dreissigjährige freisinnige Zürcher Juristin Lili Nabholz-Haidegger als Präsidentin der mit der Organisation beauftragten Arbeitsgemeinschaft Die Schweiz im Jahr der Frau (ARGE). Der Ablauf des dreitägigen Kongresses war genau geplant, nur Angemeldete waren zugelassen. Gerechnet wurde mit 2000 Teilnehmenden. Es meldeten sich weit mehr an, so mussten viele aus Platzgründen abgewiesen werden. Grossbanken und Konzerne unterstützten den Kongress finanziell. Vorgesehen waren vier Hauptreferate, davon eines von der Genfer Philosophin Jeanne Hersch. Genau vorbereitet waren auch die zur Diskussion stehenden Themen.

Entscheidendes Gewicht kam dem BSF als einflussreichstem Frauenverband zu, vertreten durch seine Präsidentin. Mit der weltoffenen Genfer Sozialwissenschaftlerin und Ökonomin Jacqueline Berenstein-Wavre stand ab 1975 erstmals in der Geschichte des BSF eine Sozialdemokratin an der Spitze des Verbands: Die Pazifistin und Befürworterin der Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs definierte sich, da nicht (mehr) berufstätig, als «femme au foyer». Wie der Freisinnigen Alice Moneda, Leiterin Ressort Frauen des Schweizerischen Kaufmännischen Verbands (SKV), galt ihr Einsatz zwar insbesondere der Lohngleichheit. Sie hob aber zugleich die Bedeutung der unentgeltlich geleisteten Haus- und Betreuungsarbeit hervor, deren Umfang sie ein Jahr zuvor über eine Enquête in der Westschweiz erhoben hatte und die 1977 durch die Veröffentlichung der vom BSF initiierten Studie «Die Bewertung des Arbeitsplatzes in privaten Haushalten» der Stiftung zur Erforschung der Frauenarbeit ergänzt werden sollte.76

Das Präsidium des Kongresses lag in den Händen der Juristin und CVP-Nationalrätin Elisabeth Blunschy-Steiner aus Schwyz, Expertin in Familienrechtsfragen und ehemalige Präsidentin des SKF, mit ein Grund, dass der Schwangerschaftsabbruch im offiziellen Programm fehlte. Gut vorbereitet dagegen waren die verschiedenen zur Verabschiedung gedachten Resolutionen.77 Wenig zu diskutieren gab die Resolution zur Schaffung eines gesamtschweizerischen Organs, die bereits Anfang 1976 vom Bundesrat eingesetzte Eidgenössische Kommission für Frauenfragen (EKF). Umstrittener war die auf Vorschlag von Lydia Benz-Burger vom Schweizerischen Verband für Frauenrechte eingebrachte Resolution, «dass die Gleichbehandlung von Mann und Frau in Gesellschaft, Familie und Arbeit ausdrücklich in der Bundesverfassung garantiert» werden müsse.78 Die Unterstützung durch die ARGE kann unter anderem als eine direkte Folge der Menschenrechtsdiskussion von 1968 rund um die EMRK erachtet werden. So flossen auch in die Begründung für und wider die Lancierung der Initiative Argumente aus der jahrzehntelangen Diskussion des Frauenstimmrechts ein: das Verhältnis von Rechten und Pflichten, Geduld und Zwängerei, Gleichheit und Differenz, Gesetz und Verfassung, Menschenrechten und nationaler Rechtstradition. Kaum thematisiert wurde in der Auseinandersetzung allerdings die Erfahrung, dass die Schweiz wegen der Opposition der Arbeitgeber und Branchenverbände erst nach Einführung des Frauenstimmrechts das Übereinkommen der International Labour Organisation (ILO) «Über die Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit» ratifiziert, aber dennoch kaum etwas unternommen hatte, um dieser Verpflichtung nachzukommen. Schliesslich stimmten 682 Frauen für, 375 gegen die Lancierung.79 Implizit bejahten mit dieser Entscheidung die Befürworterinnen der Gleichstellungsinitiative die im Vorfeld scharf formulierte Kritik der Juristin und prominenten Frauenrechtlerin Gertrud Heinzelmann am Kongressmotto: Nicht die Partnerschaft harre der Lösung, sondern die fehlende Gleichberechtigung. Weit schärfere Kritik noch als Heinzelmann äusserte die neue Frauenbewegung an der Ausrichtung des Kongresses.

Als Protest gegen das Motto «Partnerschaft», die beschränkte Teilnehmerinnenzahl und die Kosten des Kongresses riefen neben FBB und MLF, die sich dafür erstmals eine lose Koordination geben mussten, auch kleinere Gruppen aus dem Umfeld der Neuen Linken wie die «POCH-Frauengruppe» auf den 18./19. Januar zum Gegenkongress auf. Nicht im vornehmen Kursaal sollte er stattfinden, sondern im Berner Vorort Gäbelbach, einem traditionellen Arbeiterquartier bei Bethlehem/Bümpliz. Es gab weder eine Zulassungsbeschränkung noch Eintrittsgebühren. Erwartet wurden 300 bis 1000 Personen, tatsächlich kamen im Laufe der beiden Tage 7000 bis 8000 vorbei. Das Alter der Besucherinnen lag zwischen 23 und 35 Jahren, diese waren also um mehr als eine Generation jünger als die Teilnehmerinnen im Kursaal. Die jungen Feministinnen kritisierten am offiziellen Kongress neben den fehlenden Themen Homosexualität, Abtreibung und unbezahlte Hausarbeit insbesondere das Motto des offiziellen Kongresses. «Partnerschaft» als gleichwertiges, aber andersartiges Zusammenarbeiten von Frauen und Männern, so ihre vehemente Kritik, verschleiere die herrschenden Machtverhältnisse und die damit einhergehende systematische Ausbeutung und Unterwerfung der Frauen. Dafür stehe exemplarisch die Kriminalisierung der Abtreibung als Verbot der Verfügung über den eigenen Körper und Untergrabung des Rechts auf Selbstentfaltung. «Il ne s’agit pas de collaborer, mais de déclarer la guerre. Il s’agit der mener une lutte autonome des femmes. C’est sous le signe ‹Ensemble nous sommes fortes› que nous avons préparé, financé et réalisé l’anti-congrès.»80 Als Kampfruf war sie gedacht, die Parole «Frauen gemeinsam sind stark!», die als Motto den Gegenkongress im Berner Aussenquartier Gäbelbach prägte, gleichermassen Mobilisierung, Solidaritätsbekenntnis und Abgrenzung.

Freie und kostenlose Abtreibung war das dominierende Thema. Doch die junge Bewegung zielte dabei auf Grundsätzlicheres. In ihrer Kritik am Patriarchat und an der Politisierung des Privaten ging es um Sexualität, das Sündige und Tabuisierte, aber auch um die unbezahlte Haus- und Betreuungsarbeit als unsichtbare Grundlage des kapitalistischen Ausbeutungssystems. Sie richtete sich gleichermassen gegen die Männerpolitik, die Kirche, die Ärzte, die Unternehmer, den Staat, das Recht. Ein Konnex zu den «Menschenrechten» fehlte. Dennoch rückte der Gegenkongress Themen vom Rande ins Zentrum, die sehr wohl einen zentralen Bezug zu den «Menschenrechten» hatten, von der organisierten Frauenbewegung allerdings kaum je beachtet wurden: Aktivistinnen diskutierten über Frauen im Gefängnis, Lesben traten erstmals an einem gesamtschweizerischen Anlass auf, Migrantinnen stellten ihre spezifischen Forderungen.81 Die Teilnehmerinnen waren frei, welche Themen sie wie zum Ausdruck brachten: ob über Diskussionen, freie Theaterinszenierungen, die Vorführung von «Histoires d’A» (A-vortement), einem Film, der einen von Feministinnen selbst ausgeführten Schwangerschaftsabbruch zeigte,82 oder Installationen wie das von Lesben angelegte Labyrinth zu Frauenbeziehungen. Es endete vor einem Spiegel, in dem die Frau sich mit sich selbst konfrontiert sah.

Unangemeldet und ausser Programm intervenierten Teilnehmerinnen des Gegenkongresses auch am offiziellen Kongress. Am letzten Kongresstag skandierten zwischen fünfzig und hundert Frauen von Gäbelbach kommend Parolen, hielten Transparente hoch, setzten sich an den Vorstandstisch und brachten höchst medienwirksam das nicht traktandierte Thema «freie Abtreibung» zur Sprache. Das Mikrofon mussten sie sich nicht erkämpfen, die Kongressorganisatorin Lili Nabholz-Haidegger und die verantwortliche Tagesleitung unter Liliane Uchtenhagen überliessen ihnen das Wort. Die sozialdemokratische Nationalrätin brachte in der Folge zwar nicht die «freie Abtreibung» zur Diskussion, wohl aber den von einer tribune libre bereits am ersten Tag eingebrachten Resolutionsvorschlag (Resolution 6) zur Fristenlösung mit dem sibyllinischen Titel «Schutz der Schwangerschaft»: Gegen die «Flut von Abtreibungen» müssten die Anstrengungen zur Verhütung und soziale Hilfeleistungen für eine «verantwortungsbewusste Mutterschaft» verstärkt werden. Dabei erinnerte der Kongress daran, «dass die Mehrheit der schweizerischen Frauenverbände sich für die Fristenlösung mit freier Arztwahl, obligatorischer Beratung sowie Bedenkfrist für die Frau ausgesprochen» habe.83 Ein Meilenstein. Konsterniert über den Entscheid zeigten sich allerdings die Kongresspräsidentin Elisabeth Blunschy-Steiner, der SKF und die CVP-Politikerinnen, ohne dass sie am Entschluss etwas hätten ändern können. Trennlinien und Gemeinsamkeiten waren nicht mehr so klar zu orten. Eines aber wurde deutlich: Wegen der provokativen Auftritte der jüngeren Feministinnen in Gäbelbach wie im Kursaal erreichten sowohl der Kongress wie der Gegenkongress ein überaus grosses Medienecho. Fazit im offiziellen Schlussbericht: «Der Antikongress hat die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nicht nur auf die Anliegen der Frauenbefreiungsbewegung gelenkt, sondern auch auf den Kongress. Dieser wurde plötzlich zu einem Ereignis, das in aller Munde war.»84 Die an beiden Orten über informelle wie institutionalisierte Mittel aufgegleisten Themen blieben über den Januar 1975 von öffentlichem Interesse und führten weiterhin sowohl zu Abgrenzungen wie zur Zusammenarbeit.

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9783039199594
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