Читать книгу: «Jeder Frau ihre Stimme», страница 2

Шрифт:

Was zu tun war, und wie es kam

Währenddessen werden nun für das Frauenstimmrecht Vorstösse eingereicht, in Gemeinden und Kantonsparlamenten, kantonale Volksinitiativen gestartet und Petitionen auf Bundesebene; im Nationalrat formuliert man Motionen und verkleinert sie zu Postulaten. Der Bundesrat steckt sie in die Schublade. Weltkriege kommen dazwischen, bald existiert das Frauenstimmrecht rund um die Schweiz, auf der halben Welt. Nicht überall ist es bedingungslos, mancherorts wird es an die Hautfarbe geknüpft. Die Schweizerinnen haben für das Frauenstimmrecht Vereine und einen Verband gegründet.28 Im Jahr 1959 wird er fünfzig Jahre alt, und 66,9 Prozent des Männerstimmvolks verwerfen das Frauenstimmrecht in der ersten eidgenössischen Abstimmung.29

Längst sind die Frauen zu diesem Zeitpunkt «Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht», wissen sich zu bewegen in den Vor- und Umhöfen der Macht, in Vernehmlassungen und Kommissionen. Schalten sich ein, wenn Verfassungen geschrieben und revidiert, Gesetze erlassen werden.30 Aber das ist nicht alles. Jenseits vom Getriebe und Gebälk der demokratischen Institutionen liegt ein Alltag, der mit dem Politischen verknüpft ist. Das wird zwar geleugnet. Doch es liegt auf der Hand. Lebensmittel und Bücher gehen durch Hände, Ideen setzen sich in Köpfen fest, der Lohn wird gezählt und mit der geleisteten Arbeit verglichen, auch mit der, die in den Knochen steckt, nicht vergütet wird und doch alles am Leben erhält. In jedem Moment steht auf dem Spiel, wie Güter und Anerkennung verteilt sind, wer wohin gehört, bleiben oder gehen kann und Anteil woran hat.

Deshalb ist vieles Protest, und seine Formen sind vielfältig: laut und lautlos, spontan und von langer Hand vorbereitet, handgreiflich oder ausgesprochen. Leiser Spott geht immer. Gesten und Worte reihen sich aneinander, knüpfen ein Gewebe aus Momenten; augenblicklich kann aus Alltag Ereignis werden, aus Routine Empörung und Forderung. Nichts schlummert, aber jederzeit kann die Sicht auf die Dinge kippen. Es fängt immer dort an, wo es eine zu sich selbst oder einer anderen sagt: wie die Verhältnisse liegen und warum sie anders sein müssten – «aus Gründen der Gerechtigkeit».31 Manchmal sind sie eine Handvoll, manchmal viele, die ausmachen, wie ein Faden verläuft. Sie ziehen daran; bei Lichte betrachtet ist er rot.

Nie, wenn sie sich zusammenschliessen, ist es für immer. Es ist für den Tag, das Jahr, für eine bestimmte Forderung oder eine Stunde. Nie, wenn sie sich zusammenschliessen, sind alle dabei, manchmal nicht mal viele, oft sind sie sich uneinig. Auch sie unterscheiden und teilen, die einen vergessen die anderen, oft die Fremden. Die Frauen in den herrschaftlichen Wohnungen wünschen sich Dienstbotinnen, denen sie weniger Freiheit zutrauen als sich selbst, deren Arbeit sie geringer schätzen als die eigene. Die einen erklären sich zu Expertinnen und halten andere Frauen für schlechte Mütter, solche, die nicht verheiratet sind oder die es an keinem Wohnort hält. Manche wähnen andere illoyal, mehr ihrem Stand und ihrer Klasse verpflichtet als der gemeinsamen Sache. Manchmal misstrauen sie einander. Und manchmal überwinden sie, was sie trennt, nicht um des Überwindens willen, sondern weil sie einen Faden zu fassen kriegen, der durch alles hindurchläuft.

Man sagt, ihre Anliegen seien nachrangig, ihr Menschsein anders, ihre Geschichte eine Fussnote. Adams Rippe, der Mensch und sein Weib.32 Nichts ist weniger wahr. Sie sind dahin versetzt, von wo aus die Sicht klar ist: Der angebliche Mensch ist nur ein Mann, und alles, was sich ganz und allgemein gibt, ist nur halb und partikular. Der Schleier reisst, und es geht ganz einfach. Wenn ihnen die Menschenrechte verweigert werden, erfinden sie die Frauenrechte. Wenn Teilhabe ans Volk geknüpft wird, ruft sich das Frauenvolk ins Leben. Wenn man ihnen einen Platz verweigert, erfinden sie ein neues Gefüge. Und wenn man behauptet, sie hätten keine Vergangenheit, schreiben sie die Geschichte neu.

Sie seien unfähig zur Politik, wurde über die Frauen gesagt. So sind sie zu politischen Subjekten geworden.

1970er-Jahre
Elisabeth Joris

Das Boulevardblatt Blick unterstützt zwar die Kampagne für das Frauenstimmrecht 1970/71. Als es dann aber so weit ist, nutzt es die Gunst der Stunde: «Sex sells» werden sich die männlichen Redaktoren gedacht haben. Langhaarig, blond und kurvig muss sie sein. Das Sträusschen spielt auf eines der Abstimmungsplakate an. 1978 führt der Blick das «Seite 3-Girl» ein. 2016 verschwinden die leicht Bekleideten auf Seite 3 endgültig.

Die ersten elf Nationalrätinnen mit Nationalratspräsident Wil liam Vontobel, Bern 1972 (v. l.n.r.): Hanny Thalmann (CVP, SG), Gabrielle Nanchen (SP, VS), Hanna Sahlfeld-Singer (SP, SG), Nelly Wicky (PDA, GE), Liselotte Spreng (FDP, FR), Martha Ribi (FDP, ZH), Lilian Uchtenhagen (SP, ZH), Tilo Frey (FDP, NE), Elisabeth Blunschy-Steiner (CVP, SZ), Josi Meier (CVP, LU), Hedi Lang (SP, ZH).

Die klassische Hausfrau ist 1971 das gängige Rollenmodell für verheiratete Frauen mit Kindern. Auch für solche ohne Kinder. 1971 sind rund 55 Prozent der Frauen zwischen 30 und 64 Jahren nicht erwerbstätig. Diese Quote sinkt bis 2019 auf 18 Prozent. Doch die heutige hohe Erwerbsquote von über 80 Prozent täuscht. Viele Mütter sind in Teilzeit erwerbs tätig und erledigen immer noch rund 70 Prozent der Haus arbeit, die Männer 20 bis 30 Prozent.

1971 beträgt die Lebenserwartung für Frauen 76 Jahre, für Männer 70 Jahre. Heute liegt sie für Frauen bei 85 Jahren und für Männer bei 81 Jahren. Nicht nur die Lebenserwartung ist stark gestiegen, auch bezüglich Aussehen und Lebensumstände hat sich das Älterwerden stark verändert. Das verdeutlicht diese Aufnahme aus einem Altersheim von 1974.

An der Lavaterstrasse 4 in Zürich entsteht 1974 das erste Frauenzentrum der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) mit der Beratungsstelle Infra (Informationsstelle für Frauen). Hier finden Beratungen zu Themen wie Familienplanung, Abtreibung und Rechtsfragen in ungezwungenem Rahmen statt. Kein Schreibtisch trennt Beraterinnen und hilfesuchende Frauen. Man sitzt auf Augenhöhe bequem zusammen und versteht das Gespräch als Akt der Solidarität und Ausdruck des gegenseitigen Austauschs.

Flyer des Frauenzentrums der FBB in Zürich. Elisabeth Joris gehört von 1976 bis 1978 auch zum Beratungsteam und hilft – damals selbst hochschwanger – Frauen, die in Not sind. Helen Pinkus-Rymann, Grafikerin, Mitinitiantin der Beratungsstelle und lange selbst dort aktiv, hat den Flyer gestaltet.

Der im Auftrag der schweizerischen UNESCO-Kommission durch das Soziologische Institut der Universität Zürich erstellte Bericht «Die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft» hält fest: Die Schweizerin wird in Familie, Beruf, Gesellschaft und Staat diskriminiert. Im Bild die Pressekonferenz vom 25. April 1974 (v. l. n. r. Professor Peter Heintz, Leiter der Untersuchung, Perle Bugnion-Secrétan, Mitglied der Arbeitsgruppe, Jacques Rial, Generalse kretär der UNESCO-Kommission, und die Autoren des Berichts, René Levy und Thomas Held).

Mehr als 1000 Frauen aus 80 etablierten Frauenorganisationen nehmen vom 17. bis 19. Januar 1975 am grossen Frauenkongress in Bern teil. Am zweiten Konferenztag dringen Frauen des Antikongresses im Gäbelbach mit Transparenten in die Versammlung ein. Am Ende stimmt eine Mehrheit – gegen den Willen der katholischen Frauenverbände – für eine Fristenlösung in der Abtreibungsfrage.

Am Antikongress im Quartierzentrum Gäbelbach nehmen Frauen der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) und des Mouvement de libération des femmes (MLF) teil – sie bilden die sogenannte neue Frauenbewegung. Erwartet werden 300 bis 1000 Personen, es kommen aber mehr als 7000. Ihr Protest richtet sich gegen das Motto «Partnerschaft» am grossen Kongress und die Unterbewertung der Frage des Schwangerschaftsabbruchs.

Anlässlich des UNO-Jahrs der Frau gestalten 1975 Künstlerinnen gemeinsam mit Amateurinnen im kreativ-feministischen 35-köpfigen Kollektiv die Schau «Frauen sehen Frauen» im Zürcher Strauhof. Es ist eine anarchisch aufbegehrende Ausstellung, die sich kritisch-provozierend mit dem weiblichen Alltag und den vorherrschenden Geschlechterrollen auseinandersetzt. Auf dem Plakat die Kunstwissenschaftlerin Bice Curiger (*1948), spätere Kuratorin am Kunsthaus Zürich und Mitgründerin der Kunstzeitschrift Parkett.


Erste Sitzung der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen (EKF) am 19. Februar 1976.Damit wird die erste staatliche Institution für Gleichstellung etabliert, eine Forderung des Frauenkongresses von 1975. Am Tischende Bundesrat Hans Hürlimann, links neben ihm die erste Präsiden tin, Emilie Lieberherr (SP). Ihr fol gen in den ersten drei Jahrzehnten Lili Nabholz-Haidegger (FDP), Judith Stamm und Chiara Simoneschi-Cortesi (beide CVP).

Im August 1960 kommt in den USA die erste Antibabypille auf den Markt, Grundstein für die sogenannte sexuelle Revolution. «Die Pille macht frei» lautet der Slogan zunächst, wobei in der Frauenbewegung bald auch Kritik an der ständigen Verfügbarkeit aufkommt. Schwangerschaft, Verhütung und Abtreibung sind bis zur Einführung der Fristenlösung 2002 wichtige politische Themen der Frauenbewegung. Im Bild Frauen, die 1965 die Pille einpacken.

Zum Internationalen Tag der Frau finden am 12. März 1977 das erste Mal Anti-Gewalt-Demonstrationen in Zürich und Basel statt. Die Gesichter der Frauen sind weiss, die Augenhöhlen schwarz gefärbt. Auf den Plakaten liest man «Gewalt gegen die Frau ist: wenn Frauen durch Pornofilme und Pornofotos diskriminiert werden», «Gewalt gegen die Frau ist: wenn der Chef die Frau als Bedienstete benützt» etc.

Frauenliebe wird in den 1970er-Jahren zum öffentlichen Thema und ist stark verflochten mit der neuen Frauenbewegung. Lesbisches Leben soll kein Tabu mehr sein, die Frauen erheben ihre Stimme und organisieren sich. 1972 entsteht die Gruppe Sappho s’en fout in Genf.

Im August 1974 setzen Lesben sich von der Männerorganisation Homosexuelle Arbeitsgruppe Zürich (HAZ) ab und gründen 1976 die autonome Lesbengruppe Homosexuelle Frauengruppe Zürich (HFG). In der ersten Ausgabe ihrer Zeitschrift Lesbenfront vom Oktober 1975 heisst es: «Wir Lesben haben eingesehen, dass eine Zusammenarbeit mit den Phallokraten der HAZ unmöglich ist.» Die Zeitschrift besteht bis 1984. Von 1985 bis 1995 erscheint die Nachfolgepublikation Frau ohne Herz.

Kritik am Patriarchat und Frauenbefreiungsbewegung

Abtreibungsdiskussionen

Frauenräume, Frauenberatung

Lesben treten an die Öffentlichkeit

Frauenkongress und Gegenkongress

Eidgenössische Frauenkommission

7. Februar 1971: Endlich! Endlich Zeit zum Mitgestalten, dachten die langjährigen Aktivistinnen der organisierten Frauenbewegung. Das Ja der Männer zum Frauenstimmrecht ermöglichte ihnen die seit Jahrzehnten angestrebte Integration in den bürgerlichen Staat, öffnete ihnen dieselben Partizipationsmöglichkeiten wie den Schweizer Männern, sei es als Stimmende, Parlamentarierin, Regierungsmitglied oder Richterin. Nach den eidgenössischen Wahlen vom Oktober desselben Jahres nahmen im Dezember neben 232 Männern erstmals 12 Frauen im Parlament Einsitz: im Ständerat die Genfer Freisinnige Lise Girardin, im Nationalrat eine Repräsentantin der PdA, drei Repräsentantinnen der CVP, vier der SP und drei der FdP, darunter Tilo Frey aus Neuenburg, die erste Vertretung der Schwarzen im Bundeshaus. Die Presse vermerkte über sie indes nur, dass sie sich mit ihrem weissen Kleid über alle parlamentarischen Kleidervorschriften hinweggesetzt habe.33 Der Einfluss des vier Jahre später von 5 auf 7,5 Prozent und bis 1979 auf 10,5 Prozent gestiegenen Frauenanteils im eidgenössischen Parlament blieb allerdings in den 1970er-Jahren insbesondere im bürgerlichen Lager beschränkt, da die Parlamentarierinnen sich mehrheitlich der von Männern bestimmten Parteilinie unterwarfen.34

Die späte Ausdehnung des Grundrechts auf Partizipation auf das weibliche Geschlecht ist Frauenorganisationen zu verdanken, die gegen das Ansinnen der Regierung, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unter Vorbehalten zu unterzeichnen, 1968/69 mit vehementem Protest – vom diskreten Lobbying bei Parlamentariern über den Grossanlass im Berner Kursaal bis zum Marsch nach Bern – reagiert hatten. Sie ist das Resultat eines Rekurses auf transnationale Rechtsverbindlichkeiten, konkretisiert in den völkerrechtlich garantierten Menschenrechten. Diese schreiben unmissverständlich das Diskriminierungsverbot und damit auch die Gleichheit von Frau und Mann fest. Auf dieses unverrückbare Prinzip bezog sich die spätere SP-Politikerin Emilie Lieberherr, als sie im März 1969 auf dem Bundesplatz im Namen der rund 5000 für das Frauenstimmrecht Demonstrierenden verkündete: «Nicht als Bittende, sondern als Fordernde stehen wir hier.»35

Fordern, nicht bitten, das sagten ebenso die mehrheitlich jungen Frauen, die sich im Gefolge des 1968er-Aufbruchs zur «Frauenbefreiungsbewegung» formierten, welche erst im Laufe der 1970er-Jahre als feministisch definiert werden sollte. Unabhängig von Rechtsparagrafen verstanden sie sich als ausserparlamentarische Aktivistinnen, die sich auch ohne formelle Partizipationsmöglichkeiten über provokative Aktionen in den Medien Gehör zu verschaffen wussten. Nicht ums Mitgestalten ging es den «Neo-Feministinnen», so die Bezeichnung der Westschweizer Historikerin Sarah Kiani, sondern um die grundlegende Veränderung der Gesellschaft. Im Gegensatz zum Rekurs auf die abstrakte Ebene des Rechts verwiesen sie auf konkrete Lebenswelten, auf alltäglich erfahrene Abhängigkeiten. Diese zeigten sich in der unhinterfragten Nutzung der Arbeit, des Einkommens und des Körpers von Frauen, zementiert durch die ebenso formelle wie informelle Definitionsmacht männlicher Autoritäten. Diese alltäglichen Erfahrungen von Unterordnung und Ausbeutung waren nicht an Staatsgrenzen gebunden. Daher verstanden sich die widerständigen und aufbegehrenden jungen Frauen als Teil einer transnationalen sozialen Bewegung. Das grenzüberschreitende Mobilisierungspotenzial lag in der konkreten Forderung nach Abschaffung der Abtreibungsparagrafen im Strafrecht. Die Parole «freie Abtreibung» trieb von Frankreich über Deutschland bis Italien Frauen zu Tausenden auf die Strasse. Das Ziel dieser transnationalen, sich um die Abtreibungsfrage konstituierenden neuen Frauenbewegung war nicht die Integration in bestehende öffentlichrechtliche Strukturen politischen Handelns, sondern Autonomie: hierarchiefreie Räume des Denkens und Begehrens, die von keinen vorgegebenen Strukturen und Abhängigkeitsverhältnissen eingeschränkt würden.

Und: Das Stimmrecht war in diesem transnationalen Aufbruch von Frauen der späteren 1960er-Jahre kein Thema, sondern historische Reminiszenz – ausser in der Schweiz, präziser noch: der deutschen Schweiz. In den drei Westschweizer Kantonen Genf, Waadt und Neuenburg war das Stimmrecht schon seit Beginn der 1960er-Jahre Realität. Die Frauenstimmrechtsfrage hatte für das Mouvement de libération des femmes (MLF) keine Dringlichkeit mehr. Vielmehr sahen sie dessen Nutzen für die gesellschaftliche Umgestaltung als allzu beschränkt. «Das Frauenwahlrecht ist nicht genug» sprayte die Front des Bonnes Femmes am 7. Februar 1971 an Wände der Stadt Genf.36 Der Kampf um das Frauenstimm- und -wahlrecht sei passé, sagten auch die jungen Zürcher Feministinnen bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt im November 1968 im Schauspielhaus: «Auch wenn das Stimmrecht in einigen Jahren Realität sein wird, müssen wir erkennen, dass der Anspruch der Frauen auf Gleichberechtigung keineswegs erfüllt ist, dass damit nur eine formale Gleichstellung erreicht wird. […] Andere, direkte Kampfformen müssen gefunden und verwirklicht werden, die Aktionen müssen an den immer noch aktuellen Missständen im Leben der Frauen selbst ansetzen.»37 Es gehe um viel weiter reichende Forderungen, die das gesamte private, öffentliche, soziale und wirtschaftliche Leben tangierten, wie Ausbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, die «himmelschreiende» Lohnungleichheit, die zivilrechtliche Diskriminierung im Vermögens- und Eherecht, auch um antiautoritäre Kinderbetreuung. Die Transnationalität und die staatskritische Haltung der Bewegung waren zusammen mit der Orientierung an lebensweltlichen Erfahrungen und dem Föderalismus mit seinen ungleichen Tempi in der Rechtssetzung mit ein Grund für das geringe Interesse der neuen Feministinnen an nationalstaatlich definierten Gesetzesverfahren, ja dafür, dass sie sich sogar mit provokativen Aktionen darum foutierten und sich von der vereinsmässig organisierten Frauenbewegung distanzierten, nicht selten in ignoranter Überheblichkeit.

Zwei Faktoren erzeugten in der Schweiz allerdings die nicht zu unterschätzende spezifische Wirkung, dass sich die in Vereinsstrukturen organisierte Frauenbewegung und die neue, über informelle Arbeitsgruppen, Aktionen und Demonstrationen agierende Frauenbewegung nach Einführung des Frauenstimmrechts 1971 in der Schweiz immer wieder gegenseitig dynamisierten: zum einen die Wechselwirkung zwischen der im Verhältnis zu anderen westlichen Staaten späten Umsetzung der rechtlichen Gleichstellung im Gesetz, und der Mobilisierungseffekt direktdemokratischer Instrumente zum anderen. Dieser Dynamisierungsprozess erwies sich als spannender als die gegenseitige Abgrenzung oder das Sprechen von zwei «Wellen».38 Er barg viel kreatives Potenzial in sich und brachte die Pluralität der Positionen und deren Schnittstellen zum Ausdruck.39 Diese zeigten sich im Befreiungsdiskurs, in Fragen der gesetzlichen Liberalisierung der Abtreibung, der Schaffung feministischer Beratungsstellen und Institutionen zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen, der Verankerung der Gleichstellung und des Mutterschaftsschutzes in der Verfassung und in der positiven Wertung von Frauenbeziehungen. Doch obwohl die Diskussion um die Ratifizierung der EMRK Ende der 1960er-Jahre der Einführung des Frauenstimmrechts den notwendigen Schub verlieh, kam den Menschenrechten trotzdem lange ein geringes argumentatives Gewicht zu, bei den jüngeren Feministinnen noch weniger als bei der älteren Generation von Frauenrechtlerinnen.40

Geringe Gewichtung der Menschenrechte

Die Frauenrechtsbewegung der Schweiz war seit ihren Anfängen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in internationale Organisationsstrukturen eingebunden, die gleiche Rechte von Männern und Frauen mit unterschiedlichen Begründungen einforderten. Sie bezog sich in ihrer Argumentation weniger auf das Prinzip der «Gleichheit», sondern verwies weit häufiger auf die herrschende «Ungerechtigkeit». Es sei «ungerecht», dass Frauen und Männer nicht gleichermassen Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben könnten und deshalb ebenso in Familie und Beruf diskriminiert seien, hiess es bereits um 1912 im ersten Flugblatt des Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht (SVF).41 Noch nach dem Ja vom Februar 1971 hob die Waadtländer Juristin und langjährige Vizepräsidentin des SVF, Antoinette Quinche, rückblickend diese Argumentationslinie hervor: «Nous avons donc toujours mis l’accent sur l’injustice faite aux femmes.»42

Vor dem Hintergrund, dass die in Vereinen organisierten Frauen in Kriegszeiten bedeutende Aufgaben zur Existenzsicherung von Familien in prekärer Lage übernommen hatten, legitimierte insbesondere in der deutschen Schweiz ein bedeutender Teil der Frauenrechtlerinnen ihren Anspruch auf staatsbürgerliche Mitbestimmung mit dem Argument, dass Frauen und Männer wegen ihrer sich ergänzenden Kompetenzen nicht lediglich im privaten Bereich zusammenarbeiten müssten. Nur so könnten Frauen analog zu den Männern die von ihnen zu leistenden Pflichten zum Wohle aller übernehmen. Wie die befürwortenden Parteien beschworen auch Frauenverbände oft ländlich geprägte Familienbilder kooperierender Paare, obwohl eine Mehrzahl der sich exponierenden Frauenrechtlerinnen alleinstehende Berufstätige wie Lehrerinnen oder Juristinnen waren. Diese sahen sich im Alltag immer wieder mit Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts konfrontiert und als «alte Jungfern» diskreditiert. Seit Langem war die enge Verknüpfung von «Rechten» mit «Pflichten» im männlich definierten Diskurs zum schweizerischen Milizsystem stark verankert. Er setzte demokratische Mitbestimmung, ehrenamtlichen Einsatz in politischen Gremien und Wehrpflicht weitgehend gleich. So untergrub die enge Verknüpfung von «Rechten» mit «Pflichten» das in den Menschenrechten festgeschriebene Diskriminierungsverbot, das keiner Vorbedingung bedarf.43

Einen klaren Konnex zwischen Menschenrechten und uneingeschränkten staatsbürgerlichen Rechten stellte die Berner Lehrerin und Frauenrechtlerin Ida Somazzi in einer Rede zum hundertjährigen Jubiläum des schweizerischen Bundesstaats 1948, ein halbes Jahr vor der UNO-Deklaration, explizit her. Dennoch avancierte diese Verbindung im Kalten Krieg nicht zum zentralen Argument der Frauenbewegung in ihrem Kampf um das Stimm- und Wahlrecht.44 Zwar forderte der Frauenstimmrechtsverein Zürich 1954 im Vorfeld eines kantonalen Urnengangs zum Frauenstimmrecht die Männer unmissverständlich mit der Aussage «Stimmrecht ist Menschenrecht» zu einem Ja auf. Die meisten Frauenverbände dagegen sprachen sich für ein Nein aus, weil diese Abstimmung von der kommunistischen Partei der Arbeit (PdA) initiiert worden war. So appellierten die befürwortenden Stimmen in der Nachkriegszeit mehrheitlich an helvetische Werte, wie die demokratische Mitbestimmung als Pflichterfüllung, die Zusammenarbeit in der Familie oder, wie es im Plakat mit dem gemeinsam Kartoffeln erntenden Ehepaar hiess, «zämme schaffe, zämme stimme», ohne die patriarchalen Machtverhältnisse zu analysieren oder zu kritisieren.45 Erst die Diskussion um die Ratifikation der EMRK hob in den späten 1960er-Jahren die Bedeutung des Diskriminierungsverbots für die Einforderung des Wahl- und Stimmrechts hervor. Doch im Kontext der fremdenfeindlichen Schwarzenbach-Initiative, die zu eben dieser Zeit hohe Wellen schlug und 1970 von den Schweizer Männern nur knapp abgelehnt wurde, hatten Menschenrechtsargumente in der Schweiz allgemein einen sehr schweren Stand.

Doch auch nach der Einführung des Frauenstimmrechts blieben in den 1970er-Jahren die alten Argumentationslinien in der organisierten Frauenbewegung und unter den gewählten Politikerinnen wirksam, wenn es um die Gleichstellungspostulate ging: gleiche Pflichten bei gleichen Rechten, partnerschaftliches Zusammenarbeiten von Männern und Frauen. Insbesondere für den Bund Schweizerischer Frauenorganisationen (BSF), aber auch für einen Teil der ehemaligen Frauenstimmrechtsaktivistinnen und weitere Frauenverbände wie den Schweizerischen gemeinnützigen Frauenverein (SGF) und die Schweizerische Vereinigung der freisinnigen Frauen (SVFF) geriet der analog zur Wehrpflicht der Männer von Frauen oder Mädchen zu leistende «Dienst am Vaterland», ob im militärischen oder in anderen Bereichen, zu einer Frage von staatsbürgerlicher Bedeutung.46 Alle diesbezüglichen Impulse der 1970er-Jahre versandeten längerfristig. Zum einen scheiterten die Vorlagen wegen der erstarkenden feministischen Bewegung, für die ein geschlechterspezifischer Dienst – die Männer in der Armee, die Frauen im sozialen Bereich – unter der damaligen Vorgabe der mit mehrmonatiger Haft bestraften Verweigerung des Militärdienstes zugunsten eines Zivildienstes schlicht nicht diskussionswürdig war. Sie scheiterten aber ebenso an der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung anderer Frauenverbände und dem geringen Interesse vieler Männer an einer obligatorischen Dienstpflicht der Frauen.47

Entgegen diesem Trend zur Verknüpfung von Pflichten und Rechten, der bereits den frühsoziologischen Diskurs französischer Feministinnen im 19. Jahrhunderts geprägt hatte,48 betonten zwar nicht die Verbände, wohl aber einzelne Frauenrechtlerinnen ebenso vor als auch nach 1971 die Bedeutung der Menschenrechte. Dazu gehörten die 1934 geborene spätere erste Bundesrichterin Margrith Bigler-Eggenberger und die um mehr als eine Generation ältere Juristin Lotti Ruckstuhl-Thalmessinger (1901–1988); Sozialdemokratin die eine, Mitglied des Schweizerischen Katholischen Frauenbunds (SKF) die andere. So hielt Ruckstuhl-Thalmessinger in einer von der International Alliance of Women herausgegebenen Schrift 1968 zwar fest, dass die Umsetzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte noch zu wünschen übrig lasse, aber dessen ungeachtet bleibe sie «für die Frauen eine Verkündigung von einem nie erreichten Wert. Dadurch wird ihnen eine unanfechtbare Grundlage geboten, um ihre Befreiung zu erwirken.»49 Ruckstuhl-Thalmessingers Befreiungsdiskurs verweist auf eine Schnittstelle zwischen ihren Erwartungen und jenen der neuen Generation von Feministinnen.

3 734,59 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
363 стр. 73 иллюстрации
ISBN:
9783039199594
Редактор:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают