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Abbildung 2


Bei der Interpretation der Befunde sollte bedacht werden, dass retrospektive Erhebungen immer mit dem Problem selektiver Erinnerungseffekte behaftet sein können. Besonders schwerwiegende Ereignisse, die zu einer sehr langen Dienstunfähigkeit geführt haben, werden dadurch weniger beeinflusst sein, als jene, die hinsichtlich dieses Kriteriums weniger folgenreich waren. Zu beachten ist ferner, dass die Befragung im ersten Quartal des Jahres 2010 erfolgte, wodurch nicht auszuschließen ist, dass auch Übergriffe, die sich Anfang 2010 ereignet haben, mitberichtet worden sind. Trotz der Einschränkungen lässt sich ein Anstieg der Gewalt gegenüber Polizeibeamten nicht leugnen, welcher sich insbesondere für weniger schwerwiegende Übergriffen, gemessen an der Dauer der Dienstunfähigkeit, beobachten lässt.7 Interessanterweise spiegelt sich auch in der subjektiven Einschätzung der Beamten eine Zunahme von Gewaltübergriffen wieder. Fast Dreiviertel aller Befragten (74,6 %) waren der Meinung, dass die Wahrscheinlichkeit eines Gewaltübergriffs in den letzten fünf Jahren (sehr) viel größer geworden ist (21,4 % etwas größer geworden). Nur 4,0 % halten einen Gewaltübergriff gegen Polizeibeamte im Vergleich der letzten fünf Jahre für etwas weniger bzw. gleich wahrscheinlich. Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt auch eine Untersuchung von Polizeibeamten im Regierungsbezirk Karlsruhe (ProPikA2009, 2010). Dabei haben nach Einschätzung der befragten Beamten sowohl Gewaltdelikte als auch andere konfliktbehaftete Alltagssituationen unterhalb der strafrechtlichen Relevanz (z. B. Provokationen) in den letzten fünf Jahren stark zugenommen.

Eine zentrale Frage ist, wie der gefundene Anstieg von Gewaltübergriffen mit nachfolgender Dienstunfähigkeit erklärt werden kann. Oft wird auf eine generell zunehmende Respektlosigkeit der Polizei gegenüber in der Bevölkerung, insbesondere aber in der Gruppe der Jugendlichen und Heranwachsenden, verwiesen. Im Widerspruch dazu stehen Untersuchungen, die zeigen konnten, dass sowohl Schüler als auch Erwachsene der Polizei gegenüber mehrheitlich positiv eingestellt sind (vgl. Schülerbefragung: Baier et al., 2010; repräsentative Bevölkerungsbefragung: Baier et al., 2011). Auch die Vermutung einer zunehmenden Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft als Grund für den Anstieg kann vor dem Hintergrund einer Abnahme der Gewaltkriminalität in der PKS seit 2007, die sich zuvor bereits in Dunkelfeldstudien abzeichnete (Baier et al., 2009), nicht aufrechterhalten werden. Ellrich et al. (2011, S. 144) weisen als mögliche Ursache für den Anstieg der Gewalt gegen Polizeibeamte auf zunehmende Polarisierungstendenzen in der Gesellschaft hin. Demnach nimmt die Spaltung der Bevölkerung in einander gegenüber stehende Gruppen zu. Eine solche Polarisierung zeigt sich in verschiedenen Bereichen, so z. B. zwischen einkommensschwachen und einkommensstarken Familien oder zwischen Einheimischen und Migranten. In den letzten Jahren ist zudem eine sich verschärfende Polarisierung hinsichtlich der politischen Orientierung (Links-Rechts) in der Gesellschaft festzustellen. Solche Spaltungstendenzen erklären für sich genommen noch nicht das Phänomen des Anstieges der Gewalt gegen Polizeibeamte. Verbunden mit der zunehmenden Polarisierung ist aber, dass heute häufiger Milieus entstehen, die sich von den Norm- und Wertvorstellungen der gesamtdeutschen Gesellschaft entfremden. Innerhalb dieser Milieus wird vor dem Einsatz von Gewalt gegen Polizeibeamte nicht zurückgeschreckt. Die Gewalthandlungen sind einerseits ein Weg, sich in den Milieus Anerkennung zu verschaffen; sie dienen anderseits aber auch dazu, politischen Ideen Nachdruck zu verleihen, wie dies bspw. für linksextreme Gruppierungen gilt. Die Verfassungsschutzberichte der letzten Jahre weisen in Übereinstimmung damit ansteigende Gewaltaktivitäten linksextremer Gruppierungen, insbesondere Polizeibeamten gegenüber, aus (BMI, 2011). Obwohl diese Überlegungen zur Rolle von Polarisierungstendenzen eine plausible Erklärung darstellen könnten, ist bislang der empirische Beleg für deren Gültigkeit noch nicht erbracht. Andere Erklärungsansätze sind daher ebenso in Betracht zu ziehen (z. B. eine zunehmende außenorientierte Freizeitgestaltung von Jugendlichen und Heranwachsenden).

3.4 Durch welche Merkmale sind die Täter, die den Angriff ausgeübt haben, gekennzeichnet?

Im Rahmen der Befragung wurden die von einem Übergriff mit Dienstunfähigkeit betroffenen Beamten gebeten, einen ausgewählten Übergriff, der zwischen 2005 und 2009 erfolgte, ausführlicher zu beschreiben.8 Somit liegen detaillierte Angaben zu 2.603 Fällen vor, die nicht nur Aussagen zu den Tätern, sondern auch zu den situativen Umständen und Folgen des Übergriffs erlauben.

In Bezug auf die Täter der Gewaltübergriffe mit Dienstunfähigkeit lässt sich dabei Folgendes festhalten (vgl. Ellrich et al., 2010a, S. 16 ff.; Ellrich et al., 2011, S. 10 ff.):

• Knapp drei von vier Übergriffen erfolgten durch einen Einzeltäter (74,8 %).

• Die Angreifer waren fast ausschließlich männlich (92,9 %).

• Jüngere Personen sind unter den Angreifern im Vergleich zu ihrem Anteil in der deutschen Gesamtbevölkerung überrepräsentiert. Insgesamt 59,3 % der Täter waren zum Zeitpunkt des Übergriffs unter 25 Jahre alt.

• In sechs von zehn Fällen (59,4 %) wurden die Täter von den Beamten als deutsch eingestuft, 36,1 % wiesen eine nichtdeutsche Herkunft auf, wobei hier am häufigsten Länder der ehemaligen Sowjetunion (z. B. Russland, Kasachstan) bzw. die Türkei oder andere islamische Länder (z. B. Iran, Irak) genannt wurden. Bei einigen wenigen Personen (4,5 %) war die Herkunft unbekannt.9 Der Anteil nichtdeutscher Täter liegt zudem bei Übergriffen in großstädtischen Gebieten deutlich höher als in ländlichen Bereichen.

• In fast drei Viertel aller Fälle standen die Täter zum Zeitpunkt des Übergriffs unter dem Einfluss von Alkohol (71,7 %). Sie befanden sich also mehrheitlich in einem Zustand der Enthemmung und verringerter Selbstkontrolle, wenn sie der Polizei entgegen traten. Dabei ist eine Zunahme des Anteils alkoholisierter Täter über die letzten fünf Jahre hinweg festzustellen.

• Bei zwei von drei Übergriffen (64,8 %) handelte es sich zudem um Personen, die zuvor schon einmal polizeilich in irgendeiner Form in Erscheinung getreten waren.

• Die Täter setzten hauptsächlich körperliche Gewalt in Form von Rangeln, Schlägen oder Tritten gegen die Beamten ein (84,0 %). Der Einsatz von Waffen oder anderen gefährlichen Gegenständen (z. B. Zaunlatten) wurde bei jedem fünften Übergriff berichtet (19,3 %), wobei diese Art des Übergriffs im Rahmen von Demonstrationen überrepräsentiert ist. Angriffe unter Verwendung eines Autos oder anderer Vehikel stellen die Ausnahme dar (3,0 %).

Dass die Täter mehrheitlich allein handelnd, männlich, jung, alkoholisiert und polizeibekannt sind, bestätigt sich auch in anderen in- wie ausländischen Untersuchungen (vgl. z. B. Brown, 1994; Falk, 2000; FBI, 2010; Griffiths & McDaniel, 1993; Ohlemacher et al., 2003). Allerdings kann auf Basis dieser Beschreibung keine Aussage darüber getroffen werden, bei welchen Tätern ein höheres Risiko für den Beamten besteht, angegriffen zu werden. Da Polizisten häufig mit alkoholisierten Personen konfrontiert sind, ist es nicht weiter überraschend, dass diese auch zu einem hohen Anteil zu den Angreifern gehören. Ob sie ein höheres Risiko für Beamte darstellen als nicht alkoholisierte Personen, lässt sich damit noch nicht sagen. Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: Wenn fünf von 100 Einsätzen mit alkoholisierten Bürgern zu einem Angriff mit Dienstunfähigkeit führen, gleiches aber auch für fünf von 100 Einsätzen mit nicht alkoholisierten Bürgern gilt, ist das Risiko für einen Angriff bei beiden Tätergruppen jeweils 5 %. Angenommen, dass Einsätze mit alkoholisierten Personen aber dreimal häufiger vorkommen als Einsätze mit nicht alkoholisierten Personen, dann werden innerhalb eines bestimmten Zeitraums 15 Beamte durch alkoholisierte Täter verletzt, aber nur 5 Beamte durch nicht alkoholisierte Täter (d. h. bei 75,0 % der Übergriffe war der Täter alkoholisiert). Um eine echte Risikoabschätzung durchführen zu können, ist es notwendig, Einsätze, die in einer Gewalterfahrung resultierten mit denen zu vergleichen, die friedlich verlaufen sind. Nur wenige Studien haben sich bislang um solche Analysen bemüht (vgl. Johnson, 2011). Im Rahmen eines zusätzlichen Fragebogenmoduls, in dem es um den letzten Einsatz bei häuslicher Gewalt ging, sollte deshalb der Frage nachgegangen werden, welche Faktoren das Risiko von Beamten erhöhen können, im Einsatz verletzt zu werden (näheres s. Ellrich et al., 2011, S. 34 ff.). Neben der Zusammensetzung des Einsatzteams wurde auch danach gefragt, welche Herkunft der Täter hatte, welches Geschlecht und ob er ggf. unter Einfluss von Alkohol stand. Zudem sollten die Beamten angeben, ob sie oder ihre Kollegen bei diesem letzten Einsatz verletzt wurden. Dabei dient die Verletzung eines Beamten im Folgenden als Maß zur Abschätzung der Gefährlichkeit bestimmter Konstellationen. Bei der Analyse wurde sich auf Einsätze, in denen nur zwei Beamte vor Ort waren, beschränkt. Diese stellen zum einen die typische Einsatzsituation bei häuslicher Gewalt dar. Zum anderen sind die Einsätze überschaubarer, so dass der Einfluss bestimmter Faktoren besser abgeschätzt werden kann. Wie sich zeigt, endete etwa jeder siebzehnte Einsatz im Rahmen häuslicher Gewalt mit einer Verletzung mindestens eines Beamten (6,0 %). Welche Merkmale dieses Risiko beeinflussen, dokumentiert Tabelle 2. Dabei werden wiederum Ergebnisse einer logistischen Regressionsanalyse vorgestellt.

Tabelle 2


Einflussfaktoren auf die Verletzung mindestens eines Beamten beim letzten Einsatz im Rahmen häuslicher Gewalt (nur Zweierteams, logistische Regression; abgebildet: Exp(B)
Modell I
Täter: FrauTäter: MannTäter: andereReferenz 0.924 2.097
Täter alkoholisiert5.546***
Familie mit Migrationshintergrund1.439*
weibliche Beamte im Team0.786†
Beamter mit Migrationshintergrund im Team1.749
NNagelkerkers R23.819.067

*** p < .001, ** p < .01, * p < .05, † p < .10

Wie deutlich wird, spielt das Geschlecht des Täters der häuslichen Gewalt im Hinblick auf das Verletzungsrisiko der Beamten keine Rolle. Einsätze, bei denen Frauen die Täter der häuslichen Gewalt waren, endeten genauso häufig mit einer Verletzung eines Beamten, wie bei männlichen Tätern. Handelte es sich hingegen um andere Täterkonstellationen (z. B. Frauen und Männer als Täter), zeigt sich ein leicht erhöhtes Risiko für die Beamten, verletzt zu werden. Möglicherweise verbünden sich bei solchen Einsätzen die Parteien gegen den Beamten und gehen gemeinsam gegen ihn vor.

Der einflussreichste Faktor für eine Verletzung stellt das Vorliegen von Alkoholkonsum auf Seiten des Täters dar. Einsatzteams, die auf einen alkoholisierten Täter treffen, haben insgesamt ein etwa 5,5fach höheres Risiko, verletzt zu werden, verglichen mit Einsätzen wegen häuslicher Gewalt ohne Alkoholkonsum der Beteiligten. Mit anderen Worten endete etwa jeder vierzehnte Einsatz mit einer Verletzung der Beamten (7,2 %), wenn der Täter unter dem Einfluss von Alkohol stand, während dies nur auf 1,3 % der Einsätze mit nicht alkoholisierten Tätern zutraf. Dass Alkohol ein zentraler Risikofaktor für Übergriffe bei häuslichen Streitigkeiten darstellt, konnte auch in anderen Studien gezeigt werden (Johnson, 2011; Rabe-Hemp & Schuck, 2007). Eine mit dem Konsum von Alkohol einhergehende reduzierte Selbstkontrolle, sowie gesteigerte emotionale Reaktionen in Form von Wut, Zorn, Ärger, oder Angst, könnten verantwortlich für diesen Effekt sein (Johnson, 2011; Schmalzl, 2005). Daneben zeigt sich, dass es bei Einsätzen in Familien mit Migrationshintergrund etwas häufiger zu einer Verletzung der anwesenden Beamten gekommen ist (7,0 %; deutsche Familie: 5,3 %). Möglicherweise wird das „Einmischen“ von Polizeibeamten in private Angelegenheiten von Personen mit einem anderen kulturellen Hintergrund noch weniger akzeptiert als bei Familien deutscher Herkunft. Weiterhin ist es möglich, dass ein nicht Beachten besonderer Verhaltensregeln (z. B. als männlicher Polizeibeamter alleine mit der Frau zu sprechen), leichter zu einer Eskalation führt.

Ist mindestens eine weibliche Beamtin im Einsatzteam, sinkt hingegen das Risiko einer Verletzung (der Person selbst und/oder ihrer Kollegen) zumindest tendenziell verglichen mit ausschließlich männlichen Einsatzteams. Die Annahme, dass sich Frauen bei solchen Einsätzen hauptsächlich um die Opfer kümmern und somit die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung niedriger ist, kann an dieser Stelle keine Erklärung liefern. Zusätzliche Analysen zeigen, dass die Anwesenheit einer Beamtin insbesondere das Risiko reduziert, dass beide Beamte verletzt werden (Ellrich et al., 2011, S. 50 ff.). Vielmehr scheinen weibliche Beamte einen deeskalierenden Effekt auf die Konfliktsituation zu haben. Ob dies mit besonderen Kompetenzen der Beamtinnen zusammenhängt oder eine größere Hemmung seitens des Täters besteht, gemischtgeschlechtliche Teams anzugreifen, müsste in weiteren Studien überprüft werden. Auch ein Selektionseffekt ist nicht auszuschließen, wonach rein männliche Teams zu besonders gefährlichen Einsätzen bei häuslicher Gewalt geschickt werden, und damit generell einem höheren Verletzungsrisiko ausgesetzt sind. Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass von alkoholisierten Personen sowie Familien mit Migrationshintergrund ein erhöhtes Risiko für den Beamten ausgeht, im Rahmen eines Einsatzes wegen häuslicher Gewalt verletzt zu werden. Inwiefern sich die Befunde auch auf andere Einsatzsituationen übertragen lassen, bleibt zu prüfen.

3.5 Durch welche Merkmale sind die Situationen, in denen es zu Gewalt gegen Polizeibeamte gekommen ist, gekennzeichnet?

Die Situationen, in denen es am häufigsten zu Übergriffen mit Dienstunfähigkeit gekommen ist, stellen Festnahmen/Überprüfungen Verdächtiger dar (16,9 %, s. Abbildung 3). Insbesondere Festnahmen können auf Seiten des Bürgers als massiver Eingriff und starke Restriktion der persönlichen Freiheit empfunden werden, denen sich der Bürger zu entziehen versucht (Haller et al., 1999; Schmalzl, 2005). Etwa gleichhäufig wurden die Beamten im Rahmen außer- und innerfamiliärer Streitigkeiten angegriffen (13,1 % bzw. 13,0 %). Weiterhin gab jeder neunte Befragte an, dass sich der Übergriff bei einem Einsatz wegen Störung der öffentlichen Ordnung ereignete (11,3 %), worunter überwiegend Ruhestörungen sowie Randale durch Betrunkene zu fassen sind. Zu vergleichbaren Ergebnissen kommen auch andere Studien in diesem Bereich (Bragason, 2006; Brown, 1994; Falk, 2000; FBI, 2010; Griffiths & McDaniel, 1993; Hirschel et al., 1994; Manzoni, 2003; Ohlemacher et al., 2003). Zwar lassen sich Variationen in der Rangfolge der Situationen über die Untersuchungen hinweg feststellen, diese sind aber nicht zuletzt auf unterschiedliche Kategorisierungen der Einsatzanlässe sowie der zu analysierenden Gewaltformen zurückzuführen. Gerade öffentlich diskutierte Einsatzsituationen wie Demonstrationen oder Fußballspiele werden vergleichsweise selten genannt. Daraus kann jedoch nicht geschlussfolgert werden, dass Beamte bei solchen Großereignissen mit weniger Gewalt konfrontiert sind als bspw. Beamte, die zu einer häuslichen Gewalttat gerufen werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Einsätze im Rahmen von Demonstrationen seltener zu Übergriffen mit Dienstunfähigkeit führen, weil die Beamten bspw. besser ausgestattet sind (insbesondere Körperschutzausstattung), sich der Gefahr solcher Einsätze eher bewusst sind und speziell hinsichtlich besonderer Gefahrenlagen ausgebildet werden. (Abb. 3).

Im Hinblick auf die zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten kann folgendes hervorgehoben werden:

• Insbesondere an den Wochenenden findet sich eine erhöhte Konzentration von Übergriffen. Fast zwei Drittel aller Angriffe (63,1 %) ereigneten sich zwischen Freitag und Sonntag. Zudem ist im Vergleich zu früheren Untersuchungen (z. B. Ohlemacher et al., 2003) eine deutliche Verlagerung von Übergriffen auf das Wochenende festzustellen.

• Die Angriffe erfolgten überwiegend in den Abend- und Nachtstunden (zwischen 20 und 4 Uhr: 53,2 %; vgl. auch Bragason, 2006; Falk, 2000).

• Hinsichtlich des Charakters des Stadtgebietskann festgehalten werden, dass sich die Übergriffe vorwiegend in (eher) bürgerlich geprägten Gebieten ereigneten (44,0 %), während als eher sozial problematisch einzustufende Stadtteile vergleichsweise selten genannt wurden (27,4 %; vgl. auch Ohlemacher et al., 2003). Dass sozial problematische Stadtteile nicht an erster Stelle stehen, kann zum einen damit erklärt werden, dass sie prozentual gesehen nur einen kleinen Teil von Städten und Gemeinden ausmachen. Zum anderen ist zu vermuten, dass die Beamten gerade in diesen Gebieten mit einem höheren Gefährdungspotenzial rechnen und deshalb aufmerksamer sind und vorsichtiger agieren als in bürgerlich geprägten Stadtvierteln.

• Fast jeder zweite Angriff (47,0 %) fand im öffentlichen Raum (Straße, Platz, Park) statt, weitere 23,6 % der Beamten wurden in einer Wohnung, einem Haus oder Garten angegriffen. Dabei galt der Ort des Einsatzes allgemein nicht als gefährlich für die Polizei (80,3 %). Auch hier zeigen sich Übereinstimmungen mit anderen Untersuchungen (Falk, 2000; Jäger, 1988; Ohlemacher et al., 2003).

Abbildung 3


Erfasst wurde zusätzlich, welche Informationen dem Beamten zur Verfügung standen, wie der Beamte die Situation vor dem Übergriff bewertete und wie er sich dem Täter gegenüber verhielt. Dabei zeigte sich, dass:

• den Beamten relativ selten umfassende Informationen zu den Merkmalen der beteiligten Personen (z. B. Bewaffnung, polizeiliche Vorgeschichte) sowie zur Konflikthaftigkeit der Situation vorlagen (12,4 bzw. 21,5 %, Ellrich et al., 2011, S. 71 ff.). Es ist anzunehmen, dass sich ausreichend informierte Beamte besser auf die Situation bzw. den Täter vorbereiten und situationsadäquate Strategien einsetzen können, als jene, denen keine Informationen vorliegen.

• nur zwei von fünf Beamten (39,8 %) die Situation vor dem Übergriff als (eher) gefährlich einschätzten.

• in 74,4 % der Fälle der spätere Täter im Vorfeld des Übergriffs als (eher) aggressiv bewertet wurde.

• die Beamten in drei von vier Fällen (75,4 %) vor dem Übergriff mit dem späteren Täter kommuniziert haben.

• die Beamten selbst am häufigsten körperliche Zwangsmaßnahmen dem Täter gegenüber einsetzten (84,0 %). Deutlich seltener benutzten die Befragten ein Reizstoffsprühgerät oder einen Schlagstock zur Abwehr des Angriffs (26,2 bzw. 29,9 %). Lediglich bei 35 Übergriffen (1,5 %) musste von der Dienstwaffe als ultima ratio Gebrauch gemacht werden. Auch hier bestätigt sich der in anderen Untersuchungen bereits beschriebene Geschlechtsunterschied, wonach Beamtinnen seltener Drohungen und Gewalt im Umgang mit dem Bürger einsetzen (Garner et al., 1996; Rabe-Hemp, 2008; Schuck & Rabe-Hemp, 2005).

Vor dem Hintergrund, dass dem Übergriff mehrheitlich eine Kommunikation mit dem späteren Täter vorausging und dieser als aggressiv bewertet wurde, stellt sich die Frage, warum der Angriff trotz der Hinweise auf eine potenziell eskalierende Situation nicht verhindert werden konnte. Auch in anderen Untersuchungen werden Übergriffe von den betroffenen Beamten überwiegend als überraschend erlebt, obgleich diese meist nicht unmittelbar beim Eintreffen der Beamten erfolgten, sondern sich vielmehr im Zuge einer Interaktion mit den Bürgern ereigneten (Ohlemacher et al., 2003; Sessar et al., 1980). In diesem Zusammenhang diskutiert Schmalzl (2005, 2008) die Frage, ob es nicht möglicherweise doch bestimmte Hinweise oder Warnsignale auf den vermeintlich plötzlichen Angriff gegeben haben könnte, die nicht adäquat wahrgenommen bzw. bewertet worden sind. Er verweist auf die Entwicklung eines psychologischen Frühwarnsystems bzw. Gefahrenradars (s. auch Füllgrabe, 2002), welches eine bessere Wahrnehmung bzw. Risikoeinschätzung erlaubt.

Um zukünftigen Gewaltübergriffen vorzubeugen, ist es von Bedeutung, auch das eigene Verhalten in der Interaktion mit dem Bürger selbstkritisch zu reflektieren. Wie Abbildung 4 entnommen werden kann, sehen sechs von zehn Beamten rückblickend keine Fehler in ihrem eigenen Verhalten. Nur rund jeder siebte Betroffene räumte eigene Verhaltensfehler ein, die vor allem in einer Unterschätzung der Gefährlichkeit der Situation gesehen werden. Deutlich seltener wurden andere Strategien, wie z. B. Einsatz von Führungs- und Einsatzmitteln, Vermeiden eines Alleinganges, mehr Wertlegen auf die Eigensicherung, Verstärkung anfordern oder eine bessere körperliche Verfassung als Möglichkeiten genannt, durch die der Übergriff hätte vermieden werden können. Ebenfalls mehrheitlich von den Beamten verneint, wurden die Fragen, ob sie sich selbst im Vorfeld des Übergriffs konfliktfördernd verhalten haben oder ob ihr Auftreten aus Sicht des Täters als provokant hätte bewertet werden können (Ellrich et al., 2011, S. 107). Dass die Beamten ihr eigenes Verhalten insgesamt eher positiv bewerten, ist nicht überraschend. Einerseits sind sie geschult darin, deeskalierend zu agieren und sollten folglich wenig provozierendes und konfliktförderndes Verhalten zeigen. Andererseits muss bei der Beantwortung nach eigenen Fehlern auch von einem Effekt sozialer Erwünschtheit ausgegangen werden. Das Einräumen eigener Fehler erhöht die Gefahr, selbst für den Übergriff verantwortlich gemacht zu werden. Im Einklang damit steht die von Schmalzl (2008, S. 25) geäußerte Vermutung, „dass man als angegriffener Polizeibeamter schon zum Eigenschutz eher die Umstände als das eigene Verhalten für den Angriff und dessen Folgen verantwortlich machen wird“.

Abbildung 4


Im Gegensatz zum eigenen Verhalten beurteilten die Befragten die Vorbereitung auf den Übergriff durch die Aus- und Fortbildung deutlich kritischer (Ellrich et al., 2011, S. 104 ff.). Dabei wurden insbesondere mangelnde Vorbereitungen in Bereichen der Konflikthandhabung, der körperlichen Abwehr und der psychischen Beurteilung der Situation berichtet. Zudem waren über die Hälfte aller Beamten mit der Fürsorgepflicht des Dienstherrn bezüglich der Verarbeitung der Gewalttat sowie der Vorbereitung auf zukünftige Gewalttaten nicht zufrieden.

3.7 Welche Folgen haben Gewaltübergriffe für den betroffenen Beamten?

Obgleich sich Polizeibeamte des Risikos bewusst sind, während ihrer Dienstausübung auch selbst Opfer von Gewalt zu werden, wird die Vorstellung, im Dienst körperlich verletzt zu werden, als sehr belastend empfunden (Klemisch et al., 2005). Gewalterfahrungen können ein einschneidendes Lebensereignis darstellen. Die zuvor angenommene „Unverletzlichkeit“ der eigenen Person sowie die wahrgenommene Kontrollierbarkeit von (auch kritischen) Situationen, können durch eine solche Erfahrung erschüttert werden und Ängste auslösen (Reiser & Geiger, 1984). Unter welchen körperlichen und psychischen Beschwerden die Beamten infolge des Gewaltereignisses gelitten haben, soll nachfolgend beantwortet werden.

Am häufigsten gaben die Beamten Verletzungen im Hand- und Armbereich als Folge des Übergriffs an (46,6 %, Ellrich et al., 78 ff.). Deutlich seltener wurde der Gesichts-/Kopfbereich (29,6 %) sowie die Nacken-, Hals-, Schulter- und Rückenpartie verletzt (22,6 %). Allerdings scheinen gerade letztgenannte Verletzungen besonders gravierend zu sein. So weisen Beamte mit Nacken-, Hals-, Schulter- oder Rückenverletzungen nicht nur längere Dienstunfähigkeitsdauern auf. Sie werden infolge des Übergriffs auch häufiger anders verwendet oder außendienstunfähig.

Neben den körperlichen Beschwerden wurde auch nach Problemen in anderen Lebensbereichen gefragt. Am häufigsten klagten die betroffenen Beamten mit 27,7 % über Schlafprobleme infolge des Übergriffs. Schwierigkeiten im sozialen Kontakt, sprich im Umgang mit dem Partner oder anderen Menschen des sozialen Umfelds, wurden von etwa jedem siebten Beamten berichtet (14,9 %). Dabei kann festgehalten werden, dass mit der Dauer der Dienstunfähigkeit auch der Anteil der von diesen Problemen betroffenen Beamten zunimmt.

Da Polizeibeamte in ihrem Beruf mit einer Vielzahl extremer, belastender und potenziell traumatisierender Ereignisse konfrontiert werden, worunter auch eigene Gewalterfahrungen zu subsumieren sind, haben sich mehrere Studien mit Posttraumatischen Belastungsstörungen bei Polizeibeamten auseinandergesetzt (z. B. Gasch, 2000; Latscha, 2005; Schneider & Latscha, 2010). Gekennzeichnet ist dieses psychische Beschwerdebild unter anderem durch Albträume, Rückzug, Vermeidungsverhalten und psychosomatische Beschwerden wie Nervosität oder Schlafstörungen, infolge eines traumatischen Erlebnisses (Saß et al., 2003). In der vorgestellten Untersuchung wiesen insgesamt 4,9 % der angegriffenen Beamten vier Wochen nach dem Übergriff den Verdacht auf eine Posttraumatische Belastungsstörung auf (Ellrich et al., 2011, S. 83 ff.). Dabei ergaben sich keine bedeutsamen Unterschiede bezüglich des Geschlechts, des Alters oder der Dienstgruppenzugehörigkeit. Allerdings ist ein Zusammenhang zwischen der Dauer der Dienstunfähigkeit und dem Vorliegen einer Verdachtsdiagnose festzustellen. Beamte, die über zwei Monate dienstunfähig wurden, wiesen demnach neunmal häufiger einen Verdacht auf als jene mit maximal zweitägiger Dienstunfähigkeit (18,6 zu 2,1 %). Zusätzlich konnten noch einige andere Merkmale des Übergriffs mit diesem psychischen Beschwerdebild in Verbindung gebracht werden. Dazu gehört bspw. die Wahrnehmung des Beamten hinsichtlich des Tatmotivs. So liegt bei Beamten, die dem Täter als Motiv eine Feindschaft gegenüber Polizei/Staat, eine persönliche Differenz oder eine Tötungsabsicht attestieren, häufiger der Verdacht auf eine Posttraumatische Belastungsstörung vor. Erfolgte der Angriff durch Waffen oder andere gefährliche Gegenstände, kommt es sogar zu einer Verdoppelung der Fälle mit einer solchen Verdachtsdiagnose.

Vor dem Hintergrund, dass alle Beamten infolge des Angriffs dienstunfähig geworden sind, erscheinen die berichteten Beschwerderaten jedoch vergleichsweise niedrig. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass Polizeibeamte über besondere Bewältigungsstrategien verfügen, die es ihnen erlauben, trotz des Erlebens potenziell traumatischer Situationen gesund zu bleiben (vgl. Latscha, 2005; Schneider & Latscha, 2010). Anderseits bestehen möglicherweise auch Hemmungen, insbesondere psychische Probleme zuzugeben, da diese nicht mit dem Rollenverständnis dieser Berufsgruppe i. S. eines unerschütterlichen, maskulinen Helfers konform gehen (vgl. Pieper & Maercker, 1999; „Alpha-Männer“).

Bislang wenig Aufmerksamkeit wurde den möglichen psychischen Folgen geschenkt, die sich ergeben können, wenn der Übergriff auch für den viktimisierten Beamten strafrechtliche Konsequenzen in Form einer Beschwerde, Anklage oder eines Disziplinarverfahrens nach sich zieht. Dies ist zwar eher selten der Fall, nur zwei von zehn Beamten (17,7 %) wurden in irgendeiner Form rechtlich belangt; dennoch darf die Wirkung dessen auf Polizeibeamte nicht unterschätzt werden (Ellrich et al., 2011; S. 93). Wie deutlich wird, nimmt mit dem Grad der strafrechtlichen Maßnahme auch die Belastung der Beamten zu. Insbesondre Disziplinarverfahren erweisen sich bezüglich der psychischen Konstitution des Beamten infolge des Übergriffs als besonders belastend. Etwa jeder fünfte Beamte (19,6 %), der sich sowohl in einem Ermittlungs- als auch einem Disziplinarverfahren verantworten musste, wies Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung auf, während dies nur auf 4,1 % der Beamten ohne strafrechtliche Konsequenzen zutraf. Auf Basis der Daten können keine Aussagen zu den dahinter liegenden Gründen gemacht werden. Möglicherweise sind sich manche Beamte eigener Verhaltensfehler in der Übergriffsituation bewusst und fürchten sich deshalb vor der Auseinandersetzung. Andere wiederum fühlen sich vielleicht zu Unrecht beschuldigt, können nicht nachvollziehen, dass das Täter-Opfer-Verhältnis umgekehrt wird oder ihnen zumindest eine Mitschuld an dem Übergriff, der für sie selbst sehr folgenreich war, unterstellt wird. Ganz gleich, ob eigene Fehler wahrgenommen werden oder nicht, lösen rechtliche Konsequenzen sicherlich auch Zukunftsängste aus, die für sich genommen bereits eine starke psychische Belastung darstellen können. Vor diesem Hintergrund wäre eine Unterstützung des betreffenden Beamten gerade in diesen Situationen hilfreich.

Neben körperlichen und psychischen Beschwerden können sich durch Viktimisierungserfahrungen auch Veränderungen in Einstellungen und Wahrnehmungen ergeben. Belegt ist dies bspw. für das Konzept der Kriminalitätsfurcht (Skogan, 1987). Eine Komponente dieses Konstrukts ist die kognitive Furcht, welche allgemein die Erwartung, in naher Zukunft Opfer einer Straftat zu werden, erfasst. Im Kontext der vorliegenden Befragung wurde darunter die Wahrscheinlichkeit verstanden, in den nächsten zwölf Monaten im Dienst derart angegriffen zu, dass daraus eine Dienstunfähigkeit resultiert. Die Analysen bestätigen, dass es Beamte, die solch einen Übergriff in den fünf Jahren zwischen 2005 und 2009 erlebt haben, fast 8mal häufiger als sehr wahrscheinlich erachten, im nächsten Jahr noch einmal derart angegriffen zu werden, verglichen mit Beamten ohne Opfererfahrungen (31,7 zu 4,1 %, s. Abbildung 5). Folglich könnten die viktimisierten Beamten in ihrem Dienst von einer höheren Angst begleitet werden. Es ist anzunehmen, dass sich solche Ängste gerade in Situationen manifestieren, die ein vergleichbares Muster mit der bereits erlebten Gewalterfahrung aufweisen. Eine damit einhergehende starke emotionale Belastung kann sich wiederum negativ auf die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des Beamten auswirken und somit letztlich das Risiko einer Reviktimisierung erhöhen. (Abbildung 5).

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