Читать книгу: «Franz Grillparzer», страница 4

Шрифт:

Die Dialektik von Ordnung und Chaos in Ein Bruderzwist in Habsburg

Schon mit König Ottokars Glück und Ende hatte Grillparzer einen Stoff aus der Geschichte der Habsburger bearbeitet, um die Folgen der Französischen Revolution und Fragen der Legitimität der Macht zu reflektieren. Durch die offensichtlichen Ähnlichkeiten des böhmischen König Ottokars mit Napoleon und die zwiespältigen, teilweise anachronistischen Züge Rudolf von Habsburgs vermochte Grillparzer den scheinbar patriotischen Stoff der Gründung der Hausmacht der Habsburger für eine höchst zweideutige Deutungsperspektive transparent zu machen. Denn aus dem Untergang Napoleons ging das ‚System Metternich‘ hervor, und durch den allmählichen Rollenwechsel und Parallelismus im Gegensatz zwischen Ottokar und Rudolf wird sichtbar, dass der am Anfang wie eine Heiligenfigur sich christlich-demütig gebärdende Rudolf allmählich die Rolle des Tyrannen in neuer, tückisch PR-gerechter Aufmachung übernimmt, während Ottokar als Sündenbock getötet wird.1 So funktioniert das Opfer im Zentrum der Gründungszeremonie nur oberflächlich als Vanitas-Motiv, mit dem Rudolf seine Nachkommen vor der „Versuchung“ (V. 2969) warnt – der tote Menschensohn, der gegen Ende eine humanistische Kritik der Gewalt formuliert, und nun in den Armen seines Kanzlers den Topos der Pietá darstellt, erinnert zugleich an die Gewalt, Ausgrenzung und Menschenopfer, auf die auch diese neue Ordnung baut.2 So kann auch Rudolfs Verhüllung der Leiche mit dem Kaisermantel (V. 2957ff.) als eine Bestätigung dieses Sachverhalts gesehen werden, hinter der pietätvollen Geste der Würdigung.

In dem um mehr als 25 Jahre später, nach 1848 fertiggestellten Trauerspiel Ein Bruderzwist in Habsburg ist Grillparzers Blick auf die Dynamik der Geschichte radikalisiert worden. Auch hier wird die ideologische Legitimierung des Herrschaftskonzepts der Habsburger – „nicht ich, nur Gott“3 – als paternalistische Maske sichtbar, hinter der das harte Gesicht der Gewalt zum Vorschein kommt. In diesem Stück wird aber besonders deutlich, wie genau jene Seite dieses Herrschaftskonzepts, die von der Kaiserrolle als dessen akzidentieller Aspekt ausgeblendet werden sollte, sich auf verhängnisvolle Weise durchsetzt: das Ich. Die Spaltung zwischen Rolle und Spieler bleibt bei Grillparzer zwar erhalten im Prozess der Geschichte, der sich wie ein wildes Pferd von seinem Reiter nicht zügeln lässt, aber die Dynamik geht eindeutig von dem unkoordinierten Wesen des Menschen aus. Die fehlende Autonomie des Subjekts, das weder eigene Impulse noch das intersubjektive Geschehen zu steuern vermag, befreit es somit keineswegs von der persönlichen Verantwortung. Um dies zu erblicken, muss man sich allerdings von der Rhetorik und dem Selbstbild der Figuren befreien – dies gilt nicht zuletzt für Rudolf II, der bald als Stellvertreter Gottes, bald als „schwacher, unbegabter Mann“ (V. 351) argumentiert, um sich bei seiner Machtausübung zu entlasten.

Grillparzer hat Begebenheiten im Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges zu einer explosiven Mischung verdichtet: Das Drama präsentiert eine Krise in der Geschichte des Habsburgischen Reiches, das von innen durch die Glaubensspaltung bedroht ist und von außen durch den Krieg mit den Türken. Es ist aber auch eine Krise der Herrschaft, wie im 1. Akt demonstriert wird: Rudolf hat sich im Inneren der kaiserlichen Burg in Prag vor der Welt eingesperrt, während Depeschen aus aller Welt sich auf seinem Schreibtisch häufen und Verwandte des Kaisers – sein illegitimer Sohn Don Cäsar, sein Bruder Matthias mit Bischof Klesel und die Neffen Ferdinand und Leopold der Reihe nach mit dringenden Angelegenheiten an sein Ohr und Herz zu gelangen versuchen. So wird offenbar, dass es in der prekären Lage des Reiches de facto keinen Souverän gibt, nicht nur, weil Rudolf sich einbildet, durch absolutes und abstraktes Sein, durch quietistische Weltabgewandtheit und Handlungsabstinenz die zentrifugalen Kräfte des Reiches in Bann halten zu können, sondern auch weil er als Inhaber der Macht eine extreme psychische Labilität aufweist, die allein schon seine selbst erteilte Rolle als stabilisierende Mitte in Frage stellt.

Auch sprachlich bewegt sich Rudolf allein in diesem Akt von einem Extrem zum anderen, von sprachlosen Gesten und einem kindisch-pathologisch anmutenden, affektbetonten Sprachminimalismus zum rhetorisch strukturierten, poetischen Monolog. Was die Sprache des Dramas betrifft, mag Grillparzer, noch den fünffüßigen Jamben der Goethezeit gehorchend, im Ton dem Idealismus näherstehen als Büchner. Dafür übertrifft er aber Büchner in der psychologischen Komplexität und Widersprüchlichkeit seiner Figurenkonzeption, am eindrucksvollsten in der Figur Rudolfs, ein Verwandter des armen Spielmanns Jakob. Wie für Jakob fällt für Rudolf Theorie und Praxis auseinander, auch er grenzt sich von der Welt ab, um eine Verbindung mit dem Absoluten herzustellen, scheitert dafür aber mit seinen Handlungen auf der horizontalen Ebene der Realität. Weniger liebenswürdig, weil mit kaiserlicher Macht und Härte ausgestattet, die bei der Ausübung umso verheerendere Wirkungen haben kann, darf Rudolf aber bei dem Leser ebenso wenig wie Jakob darauf hoffen, nur nach seinen „Absichten“ beurteilt zu werden, und nicht auch nach seinen „Werken“.4 Welche Auffassung soll sich denn der Leser oder Zuschauer schon nach dem 1. Akt von Kaiser Rudolf bilden, nachdem er auf unvermittelte Weise abwechselnd als Kunstliebhaber, als Misanthrop, als paranoischer, unberechenbarer, sich wie ein Kind benehmender alter Mann erscheint, als jemand, der in einer imaginären Welt lebt und wenige Augenblicke danach über die politische Lage durchaus im Bilde ist, als Vater von alttestamentlicher Härte und als liebender Onkel, als potentieller Mörder und als Humanist?

Lukrezia/Lukretia – zwischen libidinösen und revolutionären Energien

Als Zuschauer werden wir vor den Widerspruch gestellt, dass die Figur Rudolfs, die uns die Gesetze willkürlichen Waltens anschaulich vorführt, zugleich jene Instanz ist, die das „Recht“ verbürgen soll. Über eben dieses Recht herrscht von Anfang an Unsicherheit, was zunächst durch die Don-Cäsar-Handlung exponiert wird, mit der das Drama ansetzt. Das Dilemma Don Cäsars besteht aus zwei miteinander verbundenen Problemen: Sein Freund, Feldmarschall Rußworm, der den Nebenbuhler Don Cäsars, Belgijoso, im Streit erschlagen hat, ist verhaftet worden, nach der Auffassung Don Cäsars „ohne Fug und Recht“, wogegen sich die Gerichtsperson auf „Recht und Urteil wie’s der Richter sprach“ beruft (V. 4f.). Lukrezia, die im schwarzen Trauerkleid mit ihrem Vater auftritt, hat in den Augen Don Cäsars die Annäherungen Belgijosos erwidert und wird der Heuchelei bezichtigt. Ohne aber auf diese Anklage einzugehen, wendet sich ihr Vater, der Bürger Prokop, zur Gerichtsperson: „Ist es gestattet Herr, auf offner Straße / Ehrbare Mädchen zu beschimpfen also?“ (V. 54f.) Man wird aber im Text vergeblich nach einem festen Anhaltspunkt suchen, nach dem entschieden werden könnte, ob Lukrezia ein ehrbares Mädchen oder eine Heuchlerin, ob hier Recht oder Unrecht geschehen ist.

Mit dem römischen Lukretia-Stoff, auf den hier – wie in Dantons Tod – angespielt wird, wird nicht nur das Thema der Heuchelei eröffnet, wie in der ersten Szene bei Büchner, sondern auch das Thema der Revolution und der sozialen Spannungen zwischen Adligen und Bürgern, das in Ein Bruderzwist in Habsburg sich wie ein roter Faden zieht und den Bezug zur Gegenwart Grillparzers herstellt. Die Energie der Auflehnung gegen die willkürliche Machtausübung der Aristokratie, die das Bürgertum in Lessings Emilia Galotti auf zugespitzte Weise im Akt des Selbstmords nach innen kehrt, ist bei Bücher in revolutionäre Energie umgewandelt, die jedoch vor den revolutionären Bürgern selbst keinen Halt macht.1 Bei Grillparzer wird der Lukretia-Stoff in einer Art Umkehrung thematisiert: War bei Lessing die Integrität der Bürgerstocher Emilia schon von ihr selbst in Frage gestellt, und ihr Selbstmord – durch die Hand ihres Vaters – damit begründet, dass sie sich ihre Verführbarkeit eingesteht und daher für ihre Handlungen nicht mehr verbürgen kann, treibt bei Grillparzer die opake Selbstgerechtigkeit Lukrezias Don Cäsar zur Wahnsinnstat – an Lukrezia und an sich selbst. Als der von seiner Haft entflohene Don Cäsar Lukrezia am Anfang des 4. Aufzugs aufsucht, während ihr Vater in der Stadt zur Wehr der Prager Bürger gegen das von Rudolf genehmigte Passauer Heer ruft, geht es ihm nicht um Verführung, sondern um die

[…] einzge Leidenschaft der Wunsch: zu wissen.

Lasst mich erkennen Euch, nur deshalb kam ich;

Zu wissen was Ihr seid, nicht was Ihr scheint.

Denn wie’s nur eine Tugend gibt: die Wahrheit,

Gibt’s auch ein Laster nur: die Heuchelei. (V. 1914ff.)

Als Lukrezia in das Seitengemach flüchtet, in dem sich das von einer Kerze beschienene Bild Belgijosos befindet, schießt er seine Pistole nicht gegen Lukrezia, sondern „in der Richtung der offenen Türe ab“, gleichsam als könne er damit als letzten Ausweg den erfahrenen Riss überbrücken, der in der Zweiteilung des Raumes symbolisiert ist. Indem er im starken Affekt Lukrezia tötet, wird aber der Riss nur noch verstärkt.

Die Spaltung, die er durch die Heuchelei erfährt, ist vom Anfang des Stückes eng mit seiner Beziehung zum Vater verknüpft. In diesem Stück äußert sich die Spaltung nicht nur in den inneren Widersprüchen des Subjekts und in der Unlesbarkeit des Anderen, die in Dantons Tod mit dem Masken-Motiv verbunden war – die Verkennung des Anderen ist hier ebenso sehr den Projektionen des Betrachters geschuldet. Lukrezia und Don Cäsar sehen in einander längst nicht mehr das Individuum, sondern den Repräsentanten des Bösen. Lukrezias Reaktion, als sie Don Cäsar erblickt, „O Gott, so schaut das Unglück!“, beantwortet er mit: „Erschreckt nicht, holde Maid! Ich bin es selbst; / Und bins auch nicht.“ (V. 1882ff.). Wie das Folgende zeigt, sieht auch er Lukrezia nicht so sehr als eine Frau, die er liebt, sondern als Vertreterin der Einsichten, die ihn bedrücken und die mit seiner Situation als Bastard, der von seinem Vater verleugnet wird, zusammenhängen. Aus seiner Darstellung der Anzeige Belgijosos geht hervor, daß der Verlust der Vaterliebe dem Verlust Lukrezias vorausging:

Im wilden Toben war er mein Genoß.

Doch ging er hin und zeigt’ es heimlich an

Und brachte mich um meines Vaters Liebe.

[…]

Zu gleicher Zeit betrat er euer Haus.“ (V. 1945ff.)

Nachdem sich Don Cäsars Bild von Lukrezias „Reinheit, Unschuld, Tugend“ (V. 1925) in Schein verwandelt hat, versucht er zunächst den Riss zu schließen, indem er ihr ein Geständnis ihrer Liebe zum toten Belgijoso abfordert. Lukrezia kommentiert dies mit Worten, die ein allgemeines Problem im Drama formulieren: „Wie ohne Grund ihr mich zu hoch gestellt, / So stellt ihr mich zu tief nun ohne Grund.“ (V. 1936f.). Denn ebenso unerklärlich scheint die Abkehr Rudolfs von Don Cäsar im 1. Akt (nachdem er ihn mit den Worten Klesels V. 174 „sehr geliebt“ hat), und die im Folgenden demonstrierte Übertragung seiner Liebe auf Leopold. Rudolf beginnt im 1. Akt erst nach dem Auftritt Don Cäsars sich mit der Außenwelt zu befassen, und bricht das Schweigen mit einem jähen Ausdruck seines Zorns auf die Bitte Don Cäsars, Rußworm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen:

„Er stirbt! – Und du mit ihm,

Wagst ferner dus ein Wort für ihn zu sprechen. –

Entarteter! Ich kenne deine Wege.

Du schwärmst zu Nacht mit ausgelaßnen Leuten,

Stellst nach den Kindern ehrbar stiller Bürger,

Hältst dich zu Meutern, Lutheranern.“ (V. 270ff.)

An allem, was er hier Don Cäsar vorwirft, macht sich aber auch er selbst oder aber machen sich Personen, deren Handlungen er billigt, irgendwann schuldig. So ist der nächste Vertraute Rudolfs, sein Freund Julius von Braunschweig, ein Lutheraner; das nächtlich ausgelassene Schwärmen wird auch dem Neffen Leopold nachgesagt, doch in seinem Falle nimmt Rudolf dies als Beweis dafür, daß er „ein Mensch“ ist (V. 515). Als Leopold im 2. Akt Lukrezia vor Don Cäsar rettet, macht er ihr zugleich ohne ihre Billigung den Hof.2 Man darf außerdem vermuten, daß die Mutter Don Cäsars ebenfalls ein „Kind ehrbar stiller Bürger“ war, dem Rudolf seinerzeit nachgestellt hat. Rudolf belegt aber die Identität Don Cäsars als die seines Sohnes mit einem Tabu, dessen Verletzung mit „ewige[m] Gefängnis, / Entfernt vom Strahl des gottgegebnen Lichts“ (V. 295f.) bestraft werden soll. Diese Drohung ist Ausdruck einer Verkoppelung von väterlicher bzw. kaiserlicher und göttlicher Macht, die Rudolf immer wieder herstellt. Etwas Ähnliches macht sich in seinem Blick auf Don Cäsar bemerkbar. Denn wie er sich selbst mit Gott verbindet, so sieht er in Don Cäsar plötzlich ein Teufelsgesicht: „Und also steht er da, hohnlachend, trotzend, / Wie einst der Teufel vor des Menschen Sohn.“ (V. 298f.).

Don Cäsar muss es ertragen, dass der dämonisierende Blick seines leiblichen Vaters ihn zum „frechen Sohn der Zeit“ stilisiert, ein Symbol der geschichtlichen Dynamik, die er als Kaiser zugegebenermaßen nicht beherrscht, während er den Neffen Leopold adoptiert, der sich als der wahre Versucher entpuppt3. Indem dieser in der Peripetie des Dramas dem psychisch destabilisierten Rudolf mit dem Argument der Liebe4 die schriftliche Genehmigung zur Einsetzung des Passauer Heeres zum Schutz Rudolfs abringt, übernimmt Rudolf aber in der Logik der Handlung die Vaterschaft jener zentrifugalen Kräfte der Zeit, die er stellvertretend in Don Cäsar bändigen wollte.5

Dieser Zusammenhang wird im Drama auch bildlich durch das Motiv des Pferdes reflektiert. Von Leopold heißt es im 1. Akt: „Im Schloßhof tummelt er das türksche Roß, / Das ihr gekauft und das Don Cäsar schulte.“ (V. 509f.) Im 4. Akt taucht das Motiv in übertragener Bedeutung auf, das eingetretene (und von Leopold beschleunigte) Chaos reflektierend. Hier tritt Graf Thurn als der neue, vorläufige Herrscher im Hradschin auf, der Rudolf unter Aufsicht gestellt und den Zugang zu Rudolfs Laboratorium zugemauert hat. Auf den Einwand Graf Schlicks, dass die Maßnahmen gegen Rudolf doch weiter gingen, „als die Absicht war“, antwortet Thurn:

Die Absicht, Freund, ist ein vorsichtger Reiter

Auf einem Renner feurig, der die Tat,

Den spornt er an zu hastigem Vollzug.

Hat er das Ziel erreicht, zieht er die Zügel

Und meint, nun wärs genug. Allein das Tier,

Von seiner edlen Art dahingerissen

Und von dem Wurf des Laufes und der Kraft,

Es stürmt noch fort durch Feld und Busch und Korn,

Bis endlich das Gebiß die Glut besiegt.

Da kehrt man denn zurück.

SCHLICK. Wenns dann noch möglich. (V. 2211ff.)

Damit sind menschliche Absichten und Taten keineswegs als ohne Bedeutung für geschichtliche Ereignisse dargestellt, denn, wie Thurn abschließend bemerkt: „All, was geschehn, das hast du auch gewollt“ (V. 2222)6 – aber sie stehen nur am Anfang eines irreversiblen Prozesses. Ganz parallel dazu taucht das Motiv des zügellosen Pferdes im Alptraum Dantons auf, der von der Ohnmacht dem Weltgeschehen gegenüber handelt: „Unter mir keuchte die Erdkugel in ihrem Schwung; ich hatte sie wie ein wildes Ross gepackt, mit riesigen Gliedern wühlt‘ ich in ihren Mähnen und presst’ ich ihre Rippen, das Haupt abwärts gewandt, die Haare flatternd über dem Abgrund; so ward ich geschleift.“7

„Aus eignem Schoß ringt los sich der Barbar“ – Die Inversion der Humanität

In der Metaphorik des Pferdes wird implizit Rudolfs Verschiebung bzw. Projektion unlösbarer Probleme auf seinen Sohn deutlich, den er zum Sündenbock einer nicht mehr beherrschbaren Entwicklung machen will: „Der freche Sohn der Zeit. – Die Zeit ist schlimm, / Die solche Kinder nährt, und braucht des Zügels. / Der Lenker findet sich, wohl auch der Zaum.“ (V. 1345ff.). Die Logik des Bildbereichs weiterführend, könnte man daraus folgern, dass Rudolf auch in Bezug auf die Probleme der Zeit die Vaterschaft besitzt. Diese Vaterschaft wird aber sowohl der Zeit als auch seinem Sohn gegenüber verleugnet, so wie er sich weigert, die Rolle des „Meisters“1 auf sich zu nehmen, weil sich lieber er als „Schüler“ der Weisheit des Alls versteht. Aber der Versuch, den Sohn als Gegner zu entäußern und ihn als die Verkörperung des Bösen zu dämonisieren, wird auch durch eine Reihe anderer Strategien im Text dekonstruiert, die den Parallelismus im Gegensatz zwischen den beiden etablieren und somit eine supplementäre Logik der gegenseitigen Abhängigkeit aufdecken.2 Überhaupt dient die Don-Cäsar-Handlung als Vehikel der Dekonstruktion des von Rudolf präsentierten Herrscherkonzepts. Der von Grillparzer erfundene illegitime Sohn ist sozusagen in die Welt gebracht, um die Legitimität der paternalistischen Machtausübung in Frage zu stellen und um die Schwächen in Rudolfs Idee eines Staates aufzuzeigen, der auf der ewigen Ordnung der Natur beruht. Zu dieser gehört die sich durch Generationen reproduzierende Ordnung der Familie, die „heilgen Bande, / Die unbewusst, zugleich mit der Geburt, / Erweislos, weil sie selber der Erweis.“ (V. 1617ff.)

Rudolf entfaltet seine im Naturrecht begründete, absolutistische Staatsideologie in langen Monologen, die immer wieder die Aufmerksamkeit der Interpreten auf sich gezogen haben und oft als das konservative Vermächtnis Grillparzers gelesen wurden, die aber schon als Selbst- und Weltauslegungen keiner stringenten Logik folgt. Vor Erzherzog Ferdinand im 1. Akt spricht er von Don Cäsar als „Schüler“ einer Zeit, dem „Achtung für der Väter Sitte“ (V. 328) verloren gegangen ist, bzw. als einem von den „Keime[n] […] der Verkehrtheit“ angesteckten, die „ihm geliehn so wildverworrne Welt.“ (V. 343f.) Der in seiner Denkweise ganz anders geartete Ferdinand greift diese Metapher mit der Aufforderung auf: „Die Zeit bedarf des Arztes und ihr seids“, worauf Rudolf sofort diese einfache Gegenüberstellung unterläuft: „Ein wackrer Arzt, der selber Heilung braucht!“ (V. 356f.) Für Ferdinand besteht, ja muss eine Übereinstimmung bestehen zwischen Gesinnung, Wort und Handlung, sowie zwischen Status, Autorität und Macht. Diese Einheit wird aber sowohl durch Rudolf als auch vom Drama als Ganzem in Frage gestellt. Nur aber durch das Extreme seines Charakters unterscheidet sich Rudolf von den übrigen Figuren, die wie er zusammengesetzt und unkoordiniert sind und in mancher Hinsicht ebenso blind sein können, wie sie in anderer Hinsicht weit- und klarsichtig sind. Es gilt somit für alle zentralen Figuren, dass ihre Aussagen manchmal auf die tatsächliche Lage im Drama zutreffen und daher Anspruch auf allgemeine Geltung erheben können, manchmal aber auch in ihrer Subjektivität isoliert dastehen. So drückt Rudolf eine Wahrheit des Dramas aus, wenn er Ferdinand gegenüber den Unterschied im Lauf der Sterne vom Lauf der Menschenwelt erklärt: „Dort oben wohnt die Ordnung, dort ihr Haus, / Hier unten eitle Willkür und Verwirrung“. (V. 428f.) Diese Einsicht entspricht dem unheilvollen Mangel an Rationalität und Durchsichtigkeit im Stück, der nicht zuletzt an Rudolf selbst exponiert wird. Andererseits erscheint Konsequenz und Logik, wenn sie in den Säuberungsmaßnahmen des Religionsfanatikers Ferdinands – der St. Just der Gegenreformation – auftritt, als ein Schreckgespenst der Zukunft. Rudolfs Einwand Ferdinand gegenüber, dass der „vielverschlungene Knoten der Verwirrung“ nicht mit einem Streich gelöst werden kann, und sein Erschrecken über die unmenschliche Vertreibung von zwanzigtausend Protestanten „an einem Tag“, mit dem Ferdinand in der Steiermark, in Krain und Kärnten „ausgetilgt den Keim der Ketzerei“ (V. 476f.), zeigt Rudolf als den Humanisten, der sich v.a. in der Optik des Fernen, Visionären und Allgemeinen um das Ganze bemüht – mit einem Blick der Inklusion. Das Tragische besteht aber in diesem Stück darin, dass die Idee des Humanen und gesellschaftlich Guten in eine inhumane Barbarei umschlägt – wie in Dantons Tod. Rudolfs Aufopferung seines Sohns entbehrt dabei den tragischen Sinn, den das Opfer in der klassischen Tragödie der Goethezeit innehatte.3 Der Tod Don Cäsars hat mit dem ausbrechenden politischen Chaos nichts zu tun, das natürlich durch sein Opfer auch nicht gebannt wird. Im Zusammenhang des Stücks wird Don Cäsar in einem der Perspektive Rudolfs ganz entgegengesetzten Sinne zu einem Stellvertreter der vielen Menschen, die im Namen der Ordnung umgebracht werden. Wie in Dantons Tod wird der tragische Konflikt nicht durch den Tod Don Cäsars oder Rudolfs beendet, sondern eher beschleunigt bzw. mündet im Bewusstsein des historisch versierten Zuschauers in einen furchtbaren, langjährigen Krieg.

Im Vordergrund von Grillparzers komplexer dramatischer Reflexion geschichtlicher Erfahrungen im Hinblick auf eine bedrängte Gegenwart und die Alpträume der Zukunft steht aber die Auseinandersetzung mit dem Absolutismus à la Habsburg angesichts der Forderungen nach Demokratie und Bürgerrechten in der Folge der Französischen Revolution. Die allbekannte Ambivalenz Grillparzers in dieser Frage stimmt mit der offenen Struktur dieses Dramas und der polyphonen und zugleich transpersonalen Reflexion überein, vor allem aber mit der Tatsache, dass das Habsburgische System durch die extrem heterogene Figur Rudolfs sowohl von innen, durch die vielen Selbstwidersprüche, als auch von außen, durch die Forderungen von schriftlichen Verträgen zur Sicherung individueller Rechte und des kollektiven Friedens, in Frage gestellt wird. Die Indignation Rudolfs über die Forderung der böhmischen Stände nach einer verträglichen Sicherung jener „Freiheit der Meinung und der Glaubensübung“ (V. 1530), die er ihnen de facto zugebilligt hat, setzt die „Schrift“, die „toten Züge einer toten Hand“ dem „lebendig warmen Wort“ gegenüber, das „von dem Mund der Liebe fortgepflanzt, / Empfangen wird vom liebedurst’gen Ohr“ (V. 1653ff.). Dass die Böhmen aber von Rudolf auf diese Weise „der Neigung Pfänder“ fordern, wird angesichts der Entwicklung der Ereignisse nur allzu verständlich. Der Jurist Grillparzer zeigt sich hier, wenn nicht als ideologischer Bannerträger ihrer Forderungen, dann doch indirekt als ihr Anwalt, indem er das „erweislose“ ‚Gesetz‘ Rudolfs, das sich der Logik und der Überprüfung durch eine Erwägung von Sachverhalten entzieht, eine Art Selbstmord begehen lässt. Die duldsame Vaterliebe des Kaisers, die jeden Augenblick in ihr Gegenteil umschlagen kann, erweist sich als Alternative zum positiven Recht ungeeignet. „Zieht nicht vor das Gericht die heilgen Bande“ lautete die Warnung Rudolfs (V. 1617) – eben das tut das Drama aber, indem es die allzu menschlichen Schwächen analysiert, die die Rollen in der Familie und im politischen Feld durcheinanderbringen. Rudolfs privater, jeder rechtlichen Begründung entbehrender Racheakt an seinem illegitimen Sohn – seinem supplementären Stellvertreter – dient dabei dazu, den ‚Selbstmord‘ der Theorien Rudolfs durch seine Inversion in einen rachsüchtigen Barbaren anschaulich vorzuführen.

Im 3. Akt hatte Rudolf seine Theorie einer humanen Ordnung mit dem Bild der Familie vorgeführt, die im Gegensatz zu Ferdinands Idee der Reinheit des Glaubens und des Staates auf Liebe baut, die aber mit Ambivalenz einhergeht:

Du ehrst den Vater – aber er ist hart;

Du liebst die Mutter – die beschränkt und schwach,

Der Bruder ist der nächste dir der Menschen,

Wie sehr entfernt in Worten und in Tat;

Und wenn das Herz dich zu dem Weibe zieht,

So fragst du nicht ob sie der Frauen Beste,

Das Mal auf ihrem Hals wird dir zum Reiz,

Ein Fehler ihrer Zunge scheint Musik,

Und das: ich weiß nicht was, das dich entzückt,

Ist ein: ich weiß nicht was für alle andern;

Du liebst, du hoffst, du glaubst. Ist doch der Glaube

Nur das Gefühl der Eintracht mit dir selbst,

Das Zeugnis, daß du Mensch nach beiden Seiten:

Als einzeln schwach, und stark als Teil des All.

Daß deine Väter glaubten, was du selbst,

Und deine Kinder künftig treten gleiche Pfade

Das ist die Brücke, die aus Menschenherzen

Den unerforschten Abgrund überbaut,

Von dem kein Senkblei noch erforscht die Tiefe.

O Prüfe nicht die Stützen, beßre nicht!

Dein Menschenwerk zerstört den geistgen Halt

Und deine Enkel lachen einst der Trümmer

In denen deine Weisheit modernd liegt. (V. 1621ff.)

Isoliert betrachtet klingt dies wie eine konservative Utopie des friedlichen Zusammenlebens im heterogenen Vielvölkerreich der Habsburger Monarchie, in der Zusammengehörigkeit, Liebe und Respekt durch nichts Bestimmtes legitimiert und daher nicht theoretisierbar sind, in dem es aber zugleich Raum für entgegengesetzte Gefühle und Eigenschaften gibt. In seinen Monologen ist diese gekoppelt mit einer Theorie des Rechts, mit erkenntnistheoretischen und metaphysischen Aspekten, kurz: sie gehen aufs Ganze. Don Cäsar ist der einzige, der gedanklich einen vergleichbaren Anspruch und ähnliche Spannweite aufweist – schon die Länge und die poetischen Qualitäten seines Monologes Lukrezia gegenüber (V. 1882ff.) machen ihn mit denen Rudolfs vergleichbar. Bei genauerem Hinsehen sind aber alle Elemente seiner Rede in Relation zu Rudolf zu verstehen, als Parallelität, Gegensatz oder Konsequenz. Im Gegensatz zu Rudolfs göttlicher Ganzheitsperspektive, aus der scheinbar die Perspektive des Ichs verschwunden ist, ist der Monolog Don Cäsars der Versuch, die Situation aus der Perspektive des suchenden, verzweifelten Ichs darzustellen:

Was ist es auch: ein Weib? Halb Spiel, halb Tücke,

Ein Etwas, das ein Etwas und ein Nichts,

Je demnach ich mirs denke, ich, nur ich.

Und Recht und Unrecht, Wesen, Wirklichkeit,

Das ganze Spiel der buntbewegten Welt,

Liegt eingehüllt in des Gehirnes Räumen,

Das sie erzeugt und aufhebt, wie es will.

Ich plagte mich mit wirren Glaubenszweifeln,

Ich pochte forschend an des Fremden Tür,

Gelesen hab ich und gehört, verglichen,

Und fand sie beide haltlos, beide leer.

Vertilgt die Bilder solchen Schattenspiels,

Blieb nur das Licht zurück, des Gauklers Lampe,

Das sie als Wesen an die Wände malt,

Als einzge Leidenschaft der Wunsch: zu wissen. (V. 1900ff.)

In der Metaphorik von Licht und Dunkelheit wird deutlich, dass das Problem der Liebe auf alle Seinsbereiche ausgedehnt worden ist und somit Identität, Recht, Wahrheit und Erkenntnis umfasst – wie in den Monologen Rudolfs. Während aber für Rudolf im Dunklen die Sterne aufleuchten als Zeichen jener Ordnung, von der die Menschen abgefallen sind, ist Wissen und Glaube für Don Cäsar nicht mehr erreichbar, sondern löst sich im Nichts auf. Das Licht rührt in seinen Bildern vom Bewusstsein, von der Lebensenergie und Leidenschaft des Menschen her, die er nunmehr als „den letzten Schimmer dieses Daseins“ erfährt, der „noch ins Dunkel strahlt, das Leben heißt“ (V. 1887f.) – „Der Schatten nur des Wesens, das ich war.“ (V. 1886). Durch die Anspielung auf Platons Höhlengleichnis reflektieren diese Bilder, dass Don Cäsar auf seiner Suche nach dem Licht nicht zur Idee des Guten vorgedrungen ist, wie Rudolf es sich einbildet, sondern desillusioniert in die Schattenhöhle der menschlichen Existenz zurückgekehrt ist, wo er nun von den anderen als störend aufgefasst wird. Wie sich die Gefangenen in Dantons Tod vor dem Sterben angesichts der leeren Transzendenz das Lachen der Götter vorstellen, sieht Don Cäsar, oft genug selbst als Teufel an die Wand gemalt, nun noch „des Gauklers Lampe / Das sie [die Bilder] als Wesen an die Wände malt“.

Wem Gott zum Gaukler wird, erscheint die Welt als kontingent, wenn nicht absurd. Als das Stück voranschreitet, wird aber der Kontrast zwischen der erhabenen Pose Rudolfs und seiner Ohnmacht und willkürlichen Handlungen auch für den Zuschauer zum Problem, wie der arme Spielmann Jakob, der wie eine Kippfigur zugleich erhaben und lächerlich erscheint – denn wie soll man aus diesem Sowohl-als-auch einen Sinn bilden, an dem man sich erbauen könnte oder eine erhebende Katharsis durchleben? Rudolf als Kippfigur, die man mit der Selbstcharakteristik Don Cäsars als „Ein Zerrbild zwischen Niedrigkeit und Größe“ (V. 1893) beschreiben könnte, nähert sich eher dem Eindruck des Grotesken: Zu krass ist bei Rudolf der Unterschied zwischen Theorie und Praxis, zwischen der hellen und der dunklen Seite, als dass sein Fall im 4. Akt als tragisch gelten könnte.

Hinzu kommt, dass Rudolf kaum mehr als eine selbständige Figur zu betrachten ist, sondern in Don Cäsar seine Schattenseite besitzt. Zeigte sich dieser am Anfang des 4. Aktes in der Lukrezia-Szene als ein Gefangener des Nihilismus, ist er wenig später ein Gefangener seines Vaters, was sowohl konkret als auch symbolisch zu verstehen ist. In dieser Szene (V. 2225ff.) bleibt er im Verborgenen unsichtbar, während sein Schicksal im Gespräch zwischen Julius und Rudolf entschieden wird. Don Cäsars Funktion als supplementärer Stellvertreter entsprechend, stirbt er in einer zweideutigen Weise, die zugleich als Mord und Selbstmord gesehen werden kann. Denn dieser stirbt einerseits, weil er den Verband der Ärzte, die ihm seine Ader zur Heilung seines Wahnsinns geöffnet hatten, eigenhändig abreißt, einen Richter fordernd, andererseits, weil Rudolf ihm – als Richtspruch – einen Arzt verweigert, und dabei den Quasiselbstmord in einen Quasimord verkehrt. Rudolf, nun in der Tat selbst in Haft, ist wieder zu dem im 1. Akt vorgeführten Zustand von Wortkargheit, gepaart mit psychischer Labilität und starken Affekten zurückgekehrt und spielt nun zugleich den Arzt, der wie Ferdinand durch Töten heilen will, und den Richter, während sein Freund Julius zugleich als Übersetzer seiner Gedanken und als Anwalt Don Cäsars auftritt. Der Ruf des verzweifelten und lebensmüden Don Cäsars „nach einem Richter, um Gericht“ (V. 2171) ist Ausdruck seines Wunsches nach einer Art Objektivierung und verbindlicher Anerkennung, was ihn mit dem politischen Strang der Handlung verbindet, wo die böhmischen Stände und Bischof Klesel auf schriftlichen Verträgen bestehen. Vergebens plädiert Julius für das objektivierbare, weltliche Recht Don Cäsars:

5 975,35 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
432 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783772001765
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают