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Literatur

Dusini, Arno (2017). Zensur und Diskretion. Zu Franz Grillparzers Selbstbiographie. In: Dusini, Arno/Kaufmann, Kira/Reinstadler, Felix (Hrsg.) Franz Grillparzer: Selbstbiographie. Salzburg und Wien: Jung und Jung, 223–242 (= Österreichs Eigensinn. Eine Bibliothek. Hrsg. von Bernhard Fetz).

Fetz, Bernhard (2021). Der Dichter mit der Kettensäge. Thomas Bernhards zerfetzte Arbeitshose. In: Kaukoreit, Volker/Gausterer, Tanja/Inguglia-Höfle, Arnhilt/Atze, Marcel (Hrsg.) Pässe, Reisekoffer und andere „Asservate“. Archivalische Erinnerungen ans Leben. Wien: Praesens Verlag, 242–246. (= Sichtungen. Archiv. Bibliothek. Literaturwissenschaft. 18./19. Jahrgang).

Fetz, Bernhard (2015). Das Literaturmuseum. 101 Objekte und Geschichten. Salzburg und Wien: Jung und Jung.

Grillparzer Franz (2017). Selbstbiographie. Hg. von Dusini, Arno/Kaufmann, Kira/Reinstadler, Felix. Salzburg und Wien: Jung und Jung, 223–242 (= Österreichs Eigensinn. Eine Bibliothek. Hrsg. von Bernhard Fetz).

Grillparzer, Franz: Ansuchen um Urlaub, 3. Juni 1826. Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv/Finanz- und Hofkammerarchiv, Finanzarchiv Präsidialakten.

Kürnberger, Ferdinand (1967). Feuilletons. Ausgewählt und eingeleitet von Karl Riha. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 109–113.

Strigl, Daniela (2016). „Und die Größe ist gefährlich“. Über den schwierigen Umgang mit einem Klassiker. In: Fetz, Bernhard/Hansel, Michael/Schweiger, Hannes (Hrsg.) Franz Grillparzer. Ein Klassiker für die Gegenwart. Wien: Zsolnay Verlag, 9–23.

„Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ – Geschichte als Groteske in Büchners Dantons Tod und Grillparzers Bruderzwist in Habsburg

Birthe Hoffmann

Ausgehend von einer Aufdeckung überraschender Affinitäten zwischen Büchners Dantons Tod und der ebenfalls deutlich postidealistischen Geschichtsdramatik Grillparzers, wird in Ein Bruderzwist in Habsburg Grillparzers Reflexion geschichtlicher Prozesse nach der Französischen Revolution angesichts des gespaltenen, unkoordinierten Charakters des metaphysisch heimatlosen Subjekts herausgearbeitet. In Grillparzers nüchterner Analyse der Dialektik von Ordnung und Chaos wird die Autonomie der Dramenfiguren aufgelöst zugunsten einer polyphonen, transpersonalen Reflexion von Fragen der Identität, Recht, Wahrheit, Erkenntnis und persönlicher Verantwortung angesichts einer allumfassenden Krise. Die widersprüchliche und offene Dramenstruktur erlaubt dem Zuschauer somit keinerlei Fixpunkte, und statt als tragisches Sinnangebot des individuellen Opfers an eine ideale Ordnung, erscheint der geopferte und vom Vater verneinte Menschensohn Don Cäsar lediglich als Stellvertreter künftigen Massentötens im Namen der Ordnung – ein Scheitern der Humanität, das nur noch mit einer grotesken Mischung aus Grauen und Lachen in die Zukunft blicken lässt.

Die Französische Revolution ist das Paradigma der Dialektik der Aufklärung, der Idee der Machbarkeit von Geschichte im Namen der Emanzipation, die sich vom Menschen als handelndes Subjekt verselbständigt und in totalitären Terror umschlägt. Sie markiert eine Schwelle in einem Modernisierungsprozess, der alle Aspekte des individuellen und gesellschaftlichen Lebens umfasst, und löst somit nicht nur eine Krise monarchischer und republikanischer Gesellschaftskonzepte aus, sondern fügt sich zu den Erschütterungen erkenntnistheoretischer und metaphysischer Art, bei denen „Immanuel Kant, der große Zerstörer im Reiche der Gedanken, an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf“, wie Heinrich Heine 1834 bemerkte.1 Diese Krise koinzidiert außerdem mit dem dialektischen Umschlag der Anthropologie der Aufklärung, die nun der ‚dunklen‘ Seite des Menschen zunehmend Platz einräumen muss.

Indem aber Autonomie, Freiheit und Selbsterkenntnis des Individuums in Frage gestellt wird, wird auch das handlungsmächtige, mit sich selbst identische Subjekt als Voraussetzung des klassischen Tragödienkonzepts, wie es seit Lessing in Deutschland entwickelt worden war, zunehmend fragwürdig. Die ästhetischen Konsequenzen dieser Krise wurde in den Geschichtstragödien Goethes und Schillers, deren idealistische Sinnangebote dem bürgerlichen Publikum des 19. Jahrhunderts die zunehmende Erfahrung von Kontingenz überbrücken halfen, erst ansatzweise gezogen.2 Dieser Beitrag soll zeigen, dass Grillparzer – wie sein Zeitgenosse Büchner – im Hinblick auf Personengestaltung, Sprache und Dramaturgie eine deutlich postidealistische Dramenästhetik entwickelt hat. Zwischen dem revolutionären Büchner und dem konservativen Grillparzer können überraschende Affinitäten beobachtet werden in Bezug auf die dramaturgische Umsetzung ihrer Reflexionen über die Dialektik von Chaos und Ordnung, Freiheit und Ohnmacht des Individuums in politischen Krisen, in denen auch Begriffe wie Recht, Wahrheit, Ethik und individuelle Verantwortung zum Problem werden.

Wie Helmut J. Schneider dargelegt hat, hat Büchner in Dantons Tod (1835) – in direkter Anspielung auf Goethes Egmont – den ästhetischen Bruch mit der klassischen Tragödie der Goethezeit vollzogen, die „den tragischen Tod als Opfer an eine ideale Ordnung in geschichtsphilosophischer Perspektive (Familie, Menschheit, Gesellschaft, Nation)“3 verstand. Dass der König in der modernen, demokratischen Tötungsmaschine seinen Kopf verliert, ist auch ideengeschichtlich ein Schnitt, der nicht mehr rückgängig zu machen ist:

Der König des Ancien Régime hatte dem Staat eine lebendige und überdauernde Gestalt gegeben; weit mehr als bloß eine politische Herrschaftsform nach Art der ihr folgenden, repräsentierte das Königtum – selbst in seiner durch das aufgeklärte Jahrhundert geschmälerten Geltung – eine kosmische Ordnung, in der der Mensch sich wiedererkennen und aufgehoben fühlen konnte. Dieser mythischen Ordnung stellte die Republik in einem gewalttätigen Schnitt die rationale Herrschaft des Gesetzes und der anonymen Institution entgegen. Sie setzte den Einzelnen in die Freiheit zur autonomen Selbstentfaltung – die politische Bedingung für das ‚moderne Individuum‘ – doch entzog sie ihm andererseits die Repräsentanz in einem übergeordneten gesellschaftlichen Gefüge. Umgekehrt verlor das staatlich-politische Handeln seine konkrete – personale Gestalt.4

Büchner habe „dem Königsmord der Revolution den Todesstoß gegen die klassische Dramaturgie hinzugefügt“, […] jenen „Darstellungsmodus historischen Geschehens, das in handlungsmächtigen und repräsentativen Individuen verkörpert und für die Zuschauer zum Leben gebracht wird.“5 Im Folgenden sollen zunächst die wichtigsten Konsequenzen dieses Schnitts für die Dramenstruktur und Personengestaltung in Dantons Tod dargelegt werden, um anschließend die ungleichzeitige Modernität von Ein Bruderzwist in Habsburg deutlicher herausstellen zu können.6 Somit soll gezeigt werden, wie das um 1848 vollendete, 1872 posthum uraufgeführte Stück Grillparzers aus rezeptionsästhetischer Sicht Herausforderungen darstellt, die die Rezeption des Stückes bis ins späte 20. Jahrhundert erschwert haben7 und es an manchen Stellen in die Nähe des absurden Theaters nach 1945 rücken. Der Status als Klassiker, der Büchners Dantons Tod erst im 20. Jahrhundert zuteilwurde, sollte im Falle Grillparzers entsprechend revidiert werden: Nicht im Sinne des identitätsstiftenden Klassikerkults des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, der in unterschiedlichen politischen Konstellationen und geschichtlichen Kontexten immer wieder zur Stabilisierung nationaler Identität(en) eingesetzt wurde, sondern als Klassiker gemessen an der Fähigkeit des Werks, dank seiner Komplexität und Gestaltungskraft immer wieder neue Perspektiven für die Gegenwart zu eröffnen.

Dantons Tod als Metatheater der Geschichte

Wie Grillparzers Bruderzwist schildert Dantons Tod einen politischen Ausnahmezustand, in dem es „im strengen Sinne des Wortes keinen Souverän“ gibt, wie es Harro Müller in einer neueren Studie formuliert.1 Das Drama behandelt einen Höhepunkt des jakobinischen Terrors und der Säuberungen unter den Revolutionären, zwischen der Hinrichtung des radikalen Atheisten Héberts am 24. März 1794 und der Hinrichtung Dantons am 5. April. Während der hungernde Volkskörper weiterhin nur mit Köpfen gesättigt werden kann, entzündet sich ein neuer Konflikt unter den Revolutionären um die Frage, wie sich die Revolution zur Republik weiterentwickeln soll. Der Wunsch der Dantonisten, durch Begnadigungen und eine Verfassung eine rechtsstaatliche Ordnung zum Schutz des Individuums zu etablieren, kollidiert mit den Anhängern des Terrorregimes Robespierres, das keinen Pluralismus verträgt. Denn die Zivilreligion der Jakobiner sakralisiert die soziale Vernunft, die im abstrakten Sinne alle gleichmacht – wer sich aber von ihrem Allgemeinwillen verselbständigt, wird zum Vertreter des Bösen, das vernichtet werden muss. „In einer Republik sind nur Republikaner Bürger; Royalisten und Fremde sind Feinde“, wie es in einer der vielen rhetorischen Phrasen Robespierres heißt; im „Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei“ sind Begriffe dehnbar und können je nach Zweck in neuen Bedeutungen eingesetzt werden – Gleichheit bedeutet nun Gleichschaltung, Brüderlichkeit gilt nur solange sie nicht durch die Freund/Feind-Dichotomie aufgehoben wird.2

Mit der rationalen Logik des Entweder/Oder, die auch die der Guillotine ist, stilisiert Robespierre nun die Revolution als einen Kampf der „Tugend“ gegen das „Laster“, um die Dantonisten zu treffen, deren hedonistische Lebensweise er als aristokratischen Verrat am hungernden Volk und den Tugenden der Republik darstellt. Büchner macht aber in diesem Stück die pragmatische Funktion der Sprache als Machtmittel in einer Weise sichtbar, die sie allmählich von den dargestellten Figuren löst und die aufgestellten Dichotomien dekonstruiert. Dies geschieht zunächst durch Danton, der schon von Anfang an die Situation wie ein bereits Gestorbener betrachtet und von Erinnerungen und Reflexionen über das Dilemma politischen Handelns geplagt ist. Auf jede Aufforderung zum Handeln reagiert er mit einem Sprung zu einem anderen Reflexionsniveau, das die Handlungsebene entfremdet. Als Camille am Anfang des 2. Aktes an Danton mit „Rasch, Danton, wir haben keine Zeit zu verlieren!“ appelliert, antwortet er, indem er sich ankleidet:

Aber die Zeit verliert uns. Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann morgens wieder herauszukriechen und einen Fuß immer so vor den andern zu setzen; da ist gar kein Absehen, wie es anders werden soll. Das ist sehr traurig, und dass Millionen schon so gemacht haben, und dass Millionen es wieder so machen werden, und dass wir obendrein aus zwei Hälften bestehen, die beide das nämliche tun, so dass alles doppelt geschieht – das ist sehr traurig.3

Wie aus dieser und vielen ähnlichen Aussagen Dantons zu verstehen ist, hat für ihn jedes Handeln seinen Sinn verloren, nicht nur angesichts des endlosen willkürlichen Tötens und der Gewissheit, dass er bald sterben wird, sondern auch aus einer Metaperspektive, der jede Handlung als eine Wiederholung bestimmter Handlungsmuster erscheint. Die Spaltung, die Danton auf dieser Reflexionsebene erfährt, entspricht der im Drama allgegenwärtigen und in der Forschung immer wieder beobachteten Theatermetaphorik4, die die Autonomie des Individuums in Frage stellt, in der Politik wie im privaten Bereich. Ein Aspekt dieser Spaltungsthematik ist das Problem der Undurchschaubarkeit des Menschen – weder kennt er sich selbst bzw. ist er mit sich selbst identisch, noch kann er mit Sicherheit das Gesicht des Mitmenschen von seiner Maske unterscheiden. Schon in der ersten Szene des Dramas wird dies zum Thema: Eine Dame am Spieltisch beobachtend, die „ihrem Mann immer das cœur und anderen Leuten das carreau“5 hinhält, spricht Danton zu seiner Frau Julie über die Einsamkeit, die aus dieser Undurchschaubarkeit des Anderen resultiert: „Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“6

Als eine von vielen Parallelszenen, in denen mehrere Gesprächsfäden und Stillagen gleichzeitig nebeneinander ablaufen oder in knapper Folge einander abwechseln – hier existenzieller Ernst und Frivolität des Spiels, unterbrochen von der politischen Rhetorik der Dantonisten und die verfremdende Antwort Dantons – zeigt schon die erste Szene auch dramaturgisch die Verwandtschaft mit Grillparzer, der ebenfalls durch die Gleichzeitigkeit von kontrastierenden Abläufen im Vordergrund und Hintergrund und das Nebeneinander äußerst heterogener oder einander widersprechender Handlungen eine extrem offene Textstruktur erzeugt, deren Sinnperspektiven in hohem Masse vom Rezipienten selbst formuliert werden müssen. Aufgrund der unidealistischen Anthropologie des unkoordinierten Menschen bei Büchner und Grillparzer kann die angebotene Sinnperspektive, wenn sie möglichst viele Textperspektiven integrieren soll, nur eine widersprüchliche, ambivalente sein und muss die Selbstdarstellung der Figuren transzendieren.

In Dantons Tod bestimmt die dramatische, kausal-finale Handlungsdynamik von Spiel und Gegenspiel in relativ geringem Grad die Struktur des Dramas, vielmehr scheint sie durch eine additive Struktur von Tableaus ersetzt zu sein, in der jede Szene eine Variation und Vertiefung der Reflexion über die gleiche Grundsituation darstellt. Auf dieser Ebene geht es vor allem um innere Konflikte, die über die persönlichen Kontroversen und Schicksale hinausgehen: Sie betreffen die Möglichkeiten und das Dilemma geschichtlichen Handelns, die individuelle Verantwortung in der Dynamik geschichtlicher Prozesse, die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge und den Sinn menschlichen Leidens. Durch die Abfolge von Szenen werden eine Reihe von Ähnlichkeiten zwischen Danton und Robespierre sichtbar, die ihre Gegnerschaft überlagert. Diese Dekonstruktion, die auf der Ebene des impliziten Lesers durch diesen Parallelismus im Gegensatz erfolgt, wird schon in der privaten Begegnung von Danton und Robespierre im 1. Akt explizit von Danton eingeleitet, als er Robespierres Unterscheidung von Tugend und Laster in Frage stellt:

Es gibt nur Epicuräer, und zwar grobe und feine, Christus war der feinste; das ist der einzige Unterschied, den ich zwischen den Menschen herausbringen kann. Jeder handelt seiner Natur gemäß, d.h. er tut, was ihm wohltut.7

Während Danton im Laufe dieses Gesprächs von der Unerschütterlichkeit Robespierres und der Irreversibilität des tödlichen Konflikts überzeugt wird, zeigt das Drama die Verwandtschaft mit Danton, sobald Robespierre allein ist: Beide sind sie einsam, von ihrem Gewissen geplagt8, d.h. von Handlungen, die ihnen das Muss der Revolution aufgezwungen hat, und beide verbinden sie die Revolution mit der unerfüllbaren Sehnsucht des Menschen nach Erlösung. Allein bekennt Robespierre sich in I, 6. zum Bild eines verkehrten Messias, mit dem ihn Camille Desmoulins denunziert hat:

Jawohl, Blutmessias, der opfert und nicht geopfert wird. […] Er hatte die Wollust des Schmerzes, und ich habe die Qual des Henkers. […] Wahrlich, der Menschensohn wird in uns allen gekreuzigt, wir ringen alle im Gethsemanegarten im blutigen Schweiß, aber es erlöst keiner den andern mit seinen Wunden.“9

Eine ähnliche Einsicht drückt Danton in der folgenden Szene aus, als er beklagt: „[…] es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür – aber wir werden es einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen? Geht, wir sind elende Alchymisten.10

Die Sekundierung solcher Formulierungen durch den Freund Camille – „ein starkes Echo“11 – trägt ebenfalls zum transpersonalen Charakter der Sprache in diesem Stück bei. Die Figuren – zumindest die nuancierten unter ihnen – sind somit keine Repräsentanten bestimmter ideologischer Positionen, sondern können durch die Sprache, der sie sich oft als Zitat oder Maske bedienen, in diese Positionen hinein- und herausgehen, um im nächsten Augenblick wie mit einer Stimme an einer gemeinsamen Reflexion teilzunehmen.

Der Prozess der Geschichte als Welttheater wird aber vor allem von Danton reflektiert, der in der Vorstellung von den Akteuren der Revolution als „Puppen […], von unbekannten Gewalten am Draht gezogen“12 vor seinem geplagten Gewissen zu fliehen versucht. Unter den Rollen, die es auf der Bühne der Geschichte gibt, ist aus seiner Sicht die des Opfers vorzuziehen: „Der Mann am Kreuze hat sich’s bequem gemacht: es muss ja Ärgernis kommen, doch wehe dem, durch welchen Ärgernis kommt.“13

Die Reflexionen Dantons und Robespierres über die Frage individueller Verantwortung, die sie trotz der Spaltung in Rolle und Spieler nicht loswerden, befinden sich in der Mitte zwischen zwei Extremen im Drama: Auf der einen Seite steht die Rhetorik St. Justs in seiner großen Rede vor dem Nationalkonvent in II, 7, die die Bewegungen des „Weltgeistes“ aus der abstrakten Höhe der Ideen als eine Naturkraft stilisiert, in dessen Strom Millionen von Menschen untergehen müssen auf dem langsamen Weg zum Fortschritt der Menschheit. In der kalten Logik der – im Gegensatz zu Danton und Robespierre – ganz flachen Figur St. Justs, die wie eine unheimliche Verkörperung hegelscher Dialektik wirkt, wird das Individuum austauschbar und verdinglicht als eines von unzähligen Leibern, die als Mittel zum Zweck geopfert werden müssen. Am anderen Ende des Spektrums möglicher Antworten auf dieses Problem stehen die Frauen Dantons und Camilles, Julie und Lucile, die sich angesichts der Hinrichtung ihrer Männer freiwillig aufopfern. Lucile, halb wahnsinnig, formuliert dabei den absoluten Gegensatz zur Rechtfertigung der Opfer der Geschichte durch St. Just:

Sterben – Sterben –! Es darf ja alles leben, alles, die kleine Mücke da, der Vogel. Warum denn er nicht? Der Strom des Lebens müsste stocken, wenn nur der eine Tropfen verschüttet würde. Die Erde müsste eine Wunde bekommen von dem Streich.14

Wie Schneider gezeigt hat, ist die Selbstaufopferung Luciles durch den Ausruf „Es lebe der König“ am Ende des Stücks ein intertextueller Kommentar zu Goethes Egmont und somit ein Gegenstück zur Selbsttötung Klärchens, denn:

[…] wie Egmont verkörpert auch Klärchen selbst das Volk – wenn nicht das reale und gegenwärtige, so das ideale und zukünftige. Daher können die Liebenden im Tod triumphieren, einem Tod, den Klärchen als Opfer für den Geliebten und Egmont zuletzt als Opfer für die Freiheit begreift.15

Die Selbstaufopferungen der Frauen in Dantons Tod stellen als die einzigen autonomen Handlungen im Drama den Gegensatz zur Darstellung des Menschen als Marionette dar, unterstützen aber mit ihrem im idealistischen Sinne sinnlosen Tod den „Einspruch gegen die Idealisierung des Todes in der klassischen Geschichtstragödie und deren der einzelnen – stets körperlichen – Existenz übergestülpten Bedeutungskonstruktion“.16

Auch in Büchners Umfunktionalisierung der barocken Metapher des Welttheaters wird die Abkehr von der Geschichtstragödie der Goethezeit deutlich. Wenn das Leben und die Geschichte als Theater dargestellt wird und Geschichtsdramatik sich dadurch zum Metatheater entwickelt, gelingt jene Verschmelzung von fiktivem Charakter und Idee nicht mehr, auf die die idealistische Tragödie abzielt, da der ‚Charakter‘ schon mehrfach in sich gespalten ist in Rolle und undurchschaubares, nicht-identisches Selbst.17 Der emphatische Opfertod der Tragödie ist durch das nicht enden wollende Sterben ersetzt, dem kein Sinn mehr verliehen werden kann. Robespierre und Danton werden ihr Schicksal teilen – vor der Guillotine sind alle gleich –, denn während Danton auf seine Hinrichtung wartet, sind schon neue Kräfte am Werk, die Robespierre aus dem Weg räumen wollen, und hinter ihnen lauert im Horizont der (für den Zuschauer historischen) Zukunft das Massenschlachten Napoleons18. Wie noch zu zeigen ist, wird im Bruderzwist in Habsburg parallel dazu ebenfalls Spiel und Gegenspiel von zwei Gegnern durch eine Vielzahl von Kontrahenten ersetzt – in beiden Fällen übernimmt eine neue Gruppierung die Macht der Zukunft und das Chaos wird durch Menschenopfer nicht gebannt, sondern beschleunigt.

In Dantons Tod wird St. Justs zynische Darstellung vom Sinn der Menschenopfer in der großen Skala des modernen Massentötens ab dem 3. Akt von den Stimmen der Sterbenden übertönt, die in der Conciergerie mit metaphysischen Fragen und der nackten Todesangst ringen. Als sie kurz vor ihrer Hinrichtung (IV, 5) ihr Klagelied und ihre unbeantworteten Fragen nach dem Sinn des Leidens wie der Chor in der antiken Tragödie erheben, erhebt sich nicht eine mit ihrem Tode siegende Idee, sondern allenfalls das Problem des Nihilismus. Dantons Tod lässt die christliche und idealistische Verbrämung der Tragödie hinter sich zurück, um im Rückgriff auf die Anfänge in der Antike eine Tragödie der Moderne zu schaffen. In einer Welt, die „das Chaos“19 ist, mischt sich das Tragische mit dem Lachen zu einer grotesken Fratze. Wie sich die Dantonisten angesichts des Todes das Lachen der antiken Götter über das Leiden der Menschen vorstellen, hat das Lachen in diesem Stück von Anfang an das Thema des sinnlosen Leidens begleitet. Für Danton – ein Halbgott der Revolution am „ausglühenden Olymp“20, dessen „Wohnung bald im Nichts“ und dessen „Name im Pantheon der Geschichte“21 ist – hat alles einen tragikomischen Zug bekommen22:

Ich begreife nicht, warum die Leute nicht auf der Gasse stehenbleiben und einander ins Gesicht lachen. Ich meine, sie müssten zu den Fenstern und zu den Gräbern heraus lachen, und der Himmel müsse bersten, und die Erde müsse sich wälzen vor Lachen.23

Komische Elemente liefert auch der Theatersouffleur Simon, der durch Zitate das Pathos des idealistischen Dramas24 und der jakobinischen ‚Römer‘ parodiert.25 Das Lachen kann bekanntlich als Ventil des Unbehagens funktionieren, wenn Grenzen des Angemessenen oder Fassbaren überschritten werden. Durch die Vermischung mit Elementen der Komödie wird das Tragische somit nicht gemildert, sondern verfremdend zum Absurden oder Grotesken gesteigert – ein Effekt, der in Grillparzers Ein Bruderzwist in Habsburg noch deutlicher wird.

5 975,35 ₽
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432 стр. 4 иллюстрации
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9783772001765
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