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Lacheny konstatiert eine „Grillparzer-Renaissance“ in der französischen Forschung mit dem Hinweis auf weitere wichtige Projekte und Übersetzungen. Die Zeichen stehen gut für den großen Unbekannten, von dem Jean-Louis Bandet noch 1972 sagen konnte, dass sogar das gebildete französische Publikum nicht einmal seinen Namen kenne. Mit einem großen internationalen Publikum für Grillparzer ist wohl auch im 21. Jahrhundert nicht zu rechnen, aber aufmerksame Romanleser:innen müssten mindestens schon seinen Namen kennen seit Mathias Énards Roman Boussole (frz. 2015; engl. Compass 2017; dt. Kompass 2018), der seinen fiktiven Wiener Musikologen Franz Ritter mit Grillparzers Reisetagebüchern im Gepäck nach Istanbul schickt. In Kürze können interessierte Leser:innen auch mit der französischen Übersetzung von Grillparzers Reisetagebüchern unterwegs sein.

Barbara Bollig rückt zwei hoch aktuelle und sehr unterschiedliche Inszenierungen des Medea-Mythos aus dem Jahr 2019 ins Zentrum der Überlegungen in ihrem Beitrag, nämlich die Aufführung von Aribert Reimanns Medea-Oper am Aalto-Musiktheater Essen und das Medea-Schauspiel von Mateja Koležnik am Staatstheater Stuttgart. Beiden Umsetzungen des Stoffes im zeitgenössischen deutschen Musik- und Sprechtheater gemeinsam ist die Tatsache, dass sie Grillparzers Version des Medea-Mythos in seiner Vließ-Trilogie als dramentextuelle Grundlage für ihre Adaptionen benutzen. In ihrer eingehenden Analyse der theatralischen Zeichenrepertoires von beiden Aufführungen zeigt Bollig, wie diese Inszenierungen nach Grillparzer funktionieren und welche interpretativen Schwerpunkte sie jeweils setzen als moderne Globalisierungs- und Psychodramen mit dem titelgebenden goldenen Widderfell in einer zentralen Rolle (Reimann) und der visuell verkörperten weiblichen Psyche in Form eines halb durchsichtigen Milchglaskastens auf der Bühne (Koležnik). Die mythische Medea ist die exemplarisch schlechte Mutter, anhand derer bis in die Gegenwart hinein divergente Mutterschaftsvorstellungen und Mutterschaftspathologien stets neu wieder verhandelt werden. Bollig lokalisiert die besondere Attraktivität von Grillparzers moderner dramatischer Bearbeitung des klassischen Stoffes für die künstlerische Weiter-Arbeit am Mythos im 21. Jahrhundert bei Reimann und Koležnik in der komplexen weiblichen Figurenpsychologie und -pathologie, die die kausal-genetischen Voraussetzungen und Umstände des Kindermordes in den Blick rückt. Die aktuellen Bearbeitungen bezeugen die gesellschaftspolitische und ästhetische Relevanz des Themas, und Bollig öffnet ihre Diskussion zur Aneignung des Medea-Mythos nach Grillparzer für grundsätzliche Fragen zur Relation von Literatur und Psychopathologie.

Der vorliegende Band ist unter außerordentlichen Bedingungen zustande gekommen. Die Pandemie hat auch für Geisteswissenschaftler:innen zu wesentlich erschwerten Arbeitsbedingungen geführt, und einige Beiträge mussten trotz des großen Interesses für dieses Buch abgesagt werden. Wir sind den Autor:innen dieses Buches dankbar, dass sie trotz der widrigen Umstände zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben. Wir danken dem Institut für Englisch, Germanistik und Romanistik an der Universität Kopenhagen und dem Department of German Studies an der University of Washington, Seattle, für ihre finanzielle Unterstützung dieses Bandes, sowie Nanke Nicolaisen für ihre fachkundige Hilfe beim Redigieren und Formatieren der Manuskripte. Tillmann Bub vom Narr Francke Attempto Verlag danken wir für sein Interesse an dem Projekt und die gute Zusammenarbeit.

Brigitte Prutti und Birthe Hoffmann

Was tun mit dem Klassiker? Franz Grillparzer im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek

Bernhard Fetz

Der österreichische Klassiker Franz Grillparzer steht auf tönernen Füßen; weder gibt es eine fundierte Leseausgabe (oder philologisch abgesicherte Studienausgabe), noch steht der Autor bei Germanist:innen hoch im Kurs. In den Schulen ist Grillparzer, im Gegensatz zur Vereinnahmung als Vertreter einer positiven Österreich-Ideologie in den 1950er Jahren, so gut wie nicht existent. Dieses Schicksal teilt er mit einem Großmeister der (österreichischen) Erzählkunst im 19. Jahrhundert, dessen dickleibige Romane ebenso wie seine Erzählungen ebenfalls kaum mehr eine Rolle im Schulunterricht spielen. Doch ist Adalbert Stifter unter Literatur- und Kulturwissenschaftler:innen, so hat es zumindest den Anschein, beliebter als Grillparzer; der Gegensatz von Regionalität und Urbanität, Stifters Interesse für Umweltphänomene wie extreme Wetterereignisse, seine Verteidigung des Alten, der gefährdeten Bauwerke und handwerklichen Techniken, gegen die Zumutungen der industriellen Moderne, schließlich sein Interesse für Landschaftspflege und Gartenbau – all das macht Stifter zum scheinbar aktuelleren Autor.

Aber was hätte Grillparzer nicht alles aufzubieten! Im Zentrum seines Werks stehen Praktiken der Machtgewinnung, der Machterhaltung, der Subversion von Macht und der Aufgabe von Machtansprüchen. Zwischen Ottokar, dem Berserker, und dem armen Spielmann als Personifikation eines erfolglosen Menschen, dessen Existenz auf fast nichts gebaut ist, entwickelt Grillparzer seine literarische Bearbeitung von Machtverhältnissen. Der gewitzte, sprachgewandte Leon in „Weh dem, der lügt!“ misst den – sprachlichen – Handlungsspielraum desjenigen aus, der das Gute tun möchte und verspricht, zu dessen Erreichung auf jegliche (Not-)Lüge zu verzichten. Zentral ist auch der Kampf der Geschlechter, Medea, Libussa, die weichende Königin Margarete im „Ottokar“, sie sind moderne Figuren. Und trotzdem: Die Zeit des Klassikers Grillparzer scheint vorbei zu sein. „Grillparzer ist heute so out, wie er noch nie war“, konstatierte die Literaturkritikerin Daniela Strigl im Jahr 2016.1

Die Klage über das Verschwinden verbindlicher Lektürelisten in den Schulen (zumindest in Österreich)2 verdeckt die Tatsache, dass Kanons nur mehr als fluide, nicht selten identitätspolitisch missbrauchte Instrumentarien existieren. Sie sind keine Richtschnur mehr für (höhere) Bildung. Das kann man auch als die Gewinnung von Freiraum sehen, als Utopie eines neuen Bildungsideals, das im Austausch zwischen Lehrer:innen, Schüler:innen, Schulbehörden immer neue Listen entstehen lässt. Die Wirklichkeit sieht natürlich anders aus, anstelle frei verhandelter Lektüre-Listen, anstelle von Lust an literarischen Entdeckungen, an die Stelle einer notwendigen Erweiterung der nationalen, europäischen Kanons tritt nicht selten einfach die Einübung in Textsorten und kodifizierte Sprachpraxen als Vorbereitung für das Berufsleben.

Was bedeutet das alles für ein Literaturmuseum, das sich zwar der österreichischen Literatur vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart widmet, sich jedoch als europäisches Projekt versteht und von der Überzeugung getragen ist, dass Literatur immer auch Weltliteratur in einem mehrfachen Sinne ist? Die Kanon-Frage begleitete die Diskussionen der Kurator:innen von Beginn der Planungen an, wie könnte es auch anders sein. Die chronologisch-thematische Grundstruktur der Dauerausstellung folgt manchmal mehr, manchmal weniger kanonisierten Werken und Autor:innen. Sie legt dabei Schwerpunkte, die Platz auch für unbekanntere Positionen und Autor:innen lassen. Der Verfestigung kanonischer Tendenzen arbeitet die Fülle an Material, die Fülle an Bildern, Tönen, Mikrogeschichten und Objekten entgegen. Fast zu jedem Objekt lassen sich Geschichten erzählen, sei es eine zerrissene Arbeitshose Thomas Bernhards3 oder ein ethnologisches Fundstück aus dem 19. Jahrhundert (heimgebracht von der Weltreisenden und Reiseschriftstellerin Ida Pfeiffer). Die Regalstruktur des ehemaligen k.k. Hofkammerarchivs in der Wiener Johannesgasse bewirkt, dass sich eine festgefügte (Kanon-)struktur der Gestaltung geradezu aufdrängt, diese jedoch in der Abfolge und großen Zahl an Regalfächern gleich wieder zum Verschwinden bringt.

Es geht nicht nur um Grillparzer und sein Schattendasein als Klassiker, es geht um das Verschwinden von Lektürekompetenzen überhaupt und die oft konstatierte, kommentierte, beklagte Tatsache, dass von einem Lektürefundament weder bei den Abgänger:innen von höheren Schulen noch bei Germanistikstudent:innen ausgegangen werden kann. Wie die Mehrzahl der Museumsbesucher:innen verfügen auch sie über Vorkenntnisse, die sich Zufällen, Bildungsreminiszenzen, persönlichen Interessen, Peer Groups und sehr unterschiedlich intensiv betriebenen Studien verdanken können. Größte Belesenheit und große Ahnungslosigkeit liegen nahe beieinander. Damit geht eine Erfahrung von Lehrer:innen und Museumspädagog:innen einher, die frühere Vermittler:innen in dieser Form nicht machen konnten: dass nämlich die Artefakte alle gleich sind; dass, in unserem Falle, Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ein ebenso ferner Planet ist wie Handkes „Langsame Heimkehr“, oder wie es Grillparzers Dramen und Lustspiele sind. Deshalb kann sich die Lust am Text im besten Fall an jedem beliebigen Objekt im Museum entzünden, kann sich das Interesse an der Materialität von Literatur, an Handschriften und Stimmen, frei von bestimmten Erwartungen an jedem Punkt der Ausstellung festsetzen. Allerdings: Das freie Schweifen, das unvoreingenommene Entdecken folgt den Spuren, die andere, die die Kurator:innen und Gestalter:innen gelegt haben. Was heißt das nun für Grillparzer?

Ohne ihn gäbe es wahrscheinlich kein Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek an dieser Stelle, ist doch das denkmalgeschützte Arbeitszimmer des habsburgischen Beamten Teil der Ausstellung. 1811 versuchte Grillparzer erstmals, eine Stelle in der k.k. Hofbibliothek zu erlangen; der Wunschtraum, Bibliothekar zu werden, scheiterte aber. 1815 trat er bei der Hofkammer, dem späteren Finanzministerium, in den Staatsdienst und erhielt 1832 die Stelle eines Hofkammerarchivdirektors. Im Revolutionsjahr 1848 erfolgte der Umzug in ein neues Archivgebäude, das heutige „Grillparzerhaus“. (Dessen Anmutung, von außen betrachtet, eher ein biedermeierliches Palais vermuten ließe, als einen Zweckbau für die Aufbewahrung von Akten). Mit seiner ebenfalls denkmalgeschützten Regalstruktur zählt es zu den ältesten europäischen Verwaltungsarchiven. Dieser Ort drückt an sich schon das zwiespältige Verhältnis des für eine aufgeklärte monarchische Ordnung eintretenden Dichters zur Realverfassung des Habsburgerstaates aus.

Im Zentrum des Grillparzer gewidmeten Bereichs steht das Arbeitszimmer, dessen auffälligstes Möbelstück ein Stehpult ist, an dem Grillparzer mit ziemlicher Sicherheit auch an seinen literarischen Texten gearbeitet hat. Auch ohne inszenatorische Eingriffe (lediglich die Schriftstücke auf dem Schreibtisch und die Bücher auf dem Bücherbord im Hintergrund sind Zutaten der Kurator:innen) wirkt das Zimmer als habsburgisches „Büro“; karg und ohne jegliches Zeichen von Extravaganz symbolisiert es die Zweckmäßigkeit der Verwaltung. Das Kruzifix, angebracht über dem Stehpult, gemahnt an die Staat und Verwaltung überwölbende göttliche Ordnung. In der Gangflucht außerhalb des Zimmers inszeniert die Ausstellung Grillparzers Doppelleben als Beamter und Schriftsteller. Wie an vielen Stellen wird auch hier das historische Setting durchbrochen – durch das Thema gestalterisch wie inhaltlich umspielende, erläuternde, ironisierende Elemente.

Grillparzers Selbstzweifel als Schriftsteller, seine Befürchtung gar, sowohl „zur dramatischen Poesie“ als auch zum „Lustspiel“ „wenig Anlage“ zu besitzen, wurde vom Comiczeichner und Illustrator Nicolas Mahler zum Ausgangspunkt für ein Grillparzer-Comic genommen; es ist auf einem Touchscreen, der sich unmittelbar vor dem Zimmer befindet, zu lesen und zu betrachten. Grillparzer sitzt auf einem Hocker vor seinem Schreibpult, wie es der tatsächliche Grillparzer ein paar Meter weiter tatsächlich tat, und schreibt mit vertrocknender „Dinte“ Sätze, die alle wie erfunden klingen, aber allesamt den Tagebüchern des Autors entnommen sind. „Wieder was zu schreiben! Ja! Aber was?“, so lautet die Eingangsfrage des ersten Bildes. Das letzte zeigt das Schreibpult ohne den Schriftsteller, am Boden liegen Blätter herum. Wollte doch Grillparzer „eine Tragödie in GEDANKEN schreiben können“. „Es würde ein Meisterwerk werden!“ und ohne den Körper des Dichters auskommen, der in den strichlierten Umrissen der Zeichnung verschwindet.

Daneben befindet sich eine Hörstation, die kommentierende Nacherzählungen von Grillparzer-Texten durch Autor:innen und Literaturwissenschaftler:innen bietet.4 Der Autor Clemens Setz erzählt die Geschichte des armen Spielmanns auf so anrührende Weise, dass einem das Schicksal der Figur zu Herzen gehen muss. Die Autorin Anna Kim widmet sich dem Schicksalsdrama „Die Ahnfrau“, ein Genre, das wohl nur mehr über den Umweg aktueller Populärkultur, Kim vergleicht es mit den Hollywood-Blockbustern unserer Tage, vermittelbar ist. Die Hörstationen wollen auch Anregungen sein, wie mit alten Texten umgegangen werden könnte, indem sie zum Beispiel ganz einfach nacherzählend kommentiert werden. Wobei sich zeigt, dass das Nacherzählen eine gar nicht einfache und höchst subjektive Kunst ist und dabei Erkenntnisse lebendiger vermitteln kann, als dies ein akademischer Aufsatz in der Regel tut. Konstanze Fliedl weist in ihrem Beitrag zu „Weh dem, der lügt!“ darauf hin, dass Wahrheit und Lüge immer kontextabhängig sind, die Wahrheit manchmal nicht ernst genommen wird, weil sie als Scherz aufgefasst wird, was die Hauptfigur, der den anderen sprachlich überlegene Leon ausnützt. Wahre Sachverhalte lassen sich in der verbalen Kommunikation so zurechtbiegen, dass sie zwischen Wahrheit und Lüge changieren, was Leon meisterhaft beherrscht. Er lügt, auch wenn er tatsächlich die Wahrheit sagt, stellt Konstanze Fliedl fest. Der moralfeste Wahrheitsfanatiker Bischof Gregor muss schließlich konzedieren, dass der Anspruch die besten Absichten zerstören kann. Aus diesem Diskurs ließe sich jedenfalls ein Gespräch über Wahrheit und Lüge entwickeln, das im Zeitalter von Social Media notwendiger ist denn je.

Das Hindernis solcher Versuche, den Klassiker als gegenwärtige Figur zu zeigen, liegt gleichwohl in der Sprache. Für viele ist die versgebundene Theatersprache des 18. und 19. Jahrhunderts schlicht nicht mehr zugänglich, zumal, wenn sie als (Schul-)Lektüre verordnet ist. Welche Kluft zwischen einer historischen und einer gegenwärtigen Inszenierung liegen kann, zeigen zwei Ausschnitte von Grillparzer-Aufführungen, die auf zwei nebeneinander platzierten Monitoren im Literaturmuseum zu sehen sind: Einmal eine Aufführung von „Ein Bruderzwist in Habsburg“ am Wiener Burgtheater aus dem Jahr 1963 mit der österreichischen Schauspieler-Ikone Attila Hörbiger als zögernder Kaiser Rudolf II, der den Bürgerkrieg nicht verhindern kann. Augenscheinlich ist, wie fremd, antiquiert, kostümiert die ältere Aufführung auf viele heutige Zuseher:innen wirken muss. Dass Attila Hörbiger als NSDAP-Mitglied gemeinsam mit seiner zweiten Frau Paula Wessely in üblen NS-Propagandafilmen mitwirkte, fügt der Aufführungsgeschichte der Grillparzerschen Stücke noch einen Aspekt hinzu; 1955 war das Burgtheater mit „König Ottokars Glück und Ende“ feierlich wiedereröffnet worden, Attila Hörbiger verkörperte den guten Österreicher Rudolf von Habsburg. Welcher Abstand zwischen solchen Weihestunden kultureller Selbstbehauptung nach dem Krieg und jüngeren Inszenierungen liegt, zeigt eine Inszenierung des heutigen Burgtheaterdirektors Martin Kušej von „König Ottokars Glück und Ende“ von 2005, gespielt ebenfalls am Burgtheater. Michael Maertens in der Rolle Rudolf von Habsburgs paniert und brät zwei Wiener Schnitzel, bevor er eine Brandrede an sein Volk hält, in der er Freiheit, Zusammenhalt und eine neue Zeit beschwört. Der Grillparzersche Text ist angereichert um eine zeitgenössische Freiheits-Rhetorik, die mit ihren verbrauchten Schlagworten zwiespältig klingt.

Eine Überlegung bei der Konzeption der Ausstellung war es, regelmäßig Kontrapunkte dieser Art zu setzen, um die historischen und ästhetischen Verbindungslinien gleichermaßen sichtbar zu machen wie die Differenzen. Das Kapitel zu Franz Grillparzer bietet über den unmittelbaren Schauwert Material an, das von Lehrer:innen und Vermittler:innen genutzt werden kann: Material zur Praxis der Zensur etwa, deren Opfer Grillparzer selbst war, die er aber, das zeigt ein exemplarischer Fall in der Ausstellung, selbst befürwortete, wenn es darum ging, einem Leser Einsicht in für das Haus Habsburg auch unangenehme Akten zu gewähren.5 Grillparzers Haltung zur Zensur war durchaus vielschichtig, wie etwa seinem Aufsatz „Ueber die Aufhebung der Zensur“ von 1844 zu entnehmen ist. Die Idealvorstellung einer die Wahrheit befördernden und die Lüge verhindernden Zensur ist in der Realität nicht durchführbar, weshalb es trotz auch einiger positiver Argumente besser wäre, sie abzuschaffen. Das zitierte Beispiel eines umständlichen Aktenlaufes, mit dem Ziel den freien Archivzugang zumindest zu erschweren, eignet sich als Ausgangspunkt für weiterführende Diskussionen, um den wenig animierenden Begriff der „Didaktisierung“ zu vermeiden.

Zum Schluss seien zwei Szenen, zwei Textstellen angeführt, die ausgehend von der Ausstellung dazu beitragen könnten, den toten Klassiker äußerst lebendig erscheinen zu lassen:

In seiner posthum veröffentlichten „Selbstbiographie“ beschreibt Grillparzer eine zur Perfektion getriebene Habsburgische Machtpolitik, die sich im genau abgestuften Gefüge zwischen Beamten, Zensoren und Kaiserhaus, Intellektuellen und Theaterleuten entrollt. Demütigungen, Literaturfeindlichkeit, Zensur, innere Emigration sind die Stichwörter. Verbote erscheinen, als ob sie gar keine wären. Arno Dusini hat in seinem Nachwort zur Neuausgabe der „Selbstbiographie“ auf einen wichtigen Punkt hingewiesen, auf das Modell Goethe, das die Autobiographie des Schriftstellers als Projekt fasst, in dem es um ein Aushandeln von widerstreitenden Interessen und Konflikten geht. Demgegenüber gehe es bei Grillparzer um die Darstellung der Ohnmacht, um „Vernichtung“ und Verhinderung; also um eine grundlegende Störung des öffentlichen Raumes.6 Grillparzer schildert die Geschichte der Verhinderung seines Stücks „König Ottokars Glück und Ende“, das nach der Einreichung bei der Zensurbehörde für zwei Jahre einfach verschwand, als kakanisches Schauspiel. „Die Darstellung der Komplizenschaft von Tyrannei und Intimität, die Grillparzer mit dieser Erinnerung an Friedrich von Gentz vorlegt, ist einzigartig“, schreibt Arno Dusini über diese Szene.7 Grillparzer macht sich auf zu Hofrat Gentz, bei dem das Manuskript des Stückes vermutet wird, der Abschnitt aus der „Selbstbiographie“ sei kurz zitiert:

Noch erinnere ich mich des widerlichen Eindrucks, den die Wohnung des Mannes auf mich machte. Der Fußboden des Wart=Salons war mit gefütterten Teppichen belegt, so daß man bei jedem Schritte wie in einen Sumpf einsank und eine Art Seekrankheit bekam. Auf allen Tischen und Kommoden standen Glasglocken mit eingemachten Früchten zum augenblicklichen Naschen für den sybaritischen Hausherrn, im Schlafzimmer endlich lag er selbst auf einem schneeweißen Bette im grauseidenen Schlafrocke. Rings herum Invenzionen und Bequemlichkeiten. Da waren bewegliche Arme, die Dinte und Feder beim Bedarf näher brachten, ein Schreibpult das sich von selbst hin und her schob, ich glaube daß selbst der Nachttopf allenfalls durch den Druck einer Feder sich zum Gebrauch darreichte. Gentz empfieng mich kalt aber höflich. Er hatte mein Stück allerdings empfangen und gelesen aber bereits wieder abgegeben. Ich gieng. Neuer Kreislauf, neue Ungewißheit, zuletzt Verschwinden aller weitern Spur.8

Die Pointe dieser Szene ist, dass ein Grillparzer freundlich gesinnter anderer Hofrat den Autor bei einer späteren, zufälligen Begegnung aufklärt. Er selbst sei es gewesen, so der freundliche Herr, der das Stück die ganze Zeit zurückgehalten habe. Gefährliches habe er zwar nicht gefunden, „aber ich dachte mir: man kann doch nicht wissen–!“9

Die zweite Textstelle stammt aus den Tagbüchern und ist in der Ausstellung auf einer der Original-Archivleitern inszeniert. Zwar ereignete sich der von Grillparzer geschilderte Fall von der Leiter noch im Vorgängerbau, aber er hätte ebenso gut beim Hantieren mit den Akten im Neubau von 1848 stattfinden können. An diesem Zitat kann gezeigt werden, und dies ist bei Führungen erprobt, in welchem Verhältnis die Wirklichkeit, der tatsächliche Fall, zu seiner literarisierten Beschreibung steht, in welchem Verhältnis auch die Realzeit des freien Falls zur Lesezeit steht:

Gestern Mittags, wo ich allein im Archiv war, und ein Dokument aus einem Faszikel in der obersten Reihe der Akten fast am Plafond herausnehmen wollte, fiel ich, von der Schwere des beinahe fünfzig Pfund schweren, über meinem Kopf stehenden Faszikels aus dem Gleichgewichte gebracht, von der obersten Sprosse der Leiter und stürzte die ganze Höhe des Archivsaales, also doch mindestens fünf Klafter hoch herunter, ohne mich, was einem Wunder gleicht, außer einigen Hautabschiebungen und Quetschungen, sonst irgend bedeutend zu beschädigen. Beim Falle und während desselben stellte ich die ruhigsten Betrachtungen an. Ich ließ den Aktenbündel los und dachte oder sagte vielmehr schon im Falle zu mir selbst: Nun, das kann gut werden! Darauf erinnerte ich mich der Höhe, die ich hinangestiegen, und die ich daher auch wieder herabfallen mußte. Währenddes fiel ich immer. Endlich nahm ich mir vor, mich ja doch so zu halten, daß ich auf die Füße zu stehen käme. Ich machte daher während des Herabsturzes, ohne daß ich begreife, wie es möglich ist, die Bewegung eines der springt und kam in dieser Stellung auch wirklich mit einer heftigen Erschütterung zusammengekauert auf die Fußballen zu stehen. Ich konnte verloren sein, und faßte auch nicht, wodurch mir’s erspart wurde!

Tagebucheintrag vom 7. April 1832

Zitate wie dieses sind optisch deutlich hervorgehoben; sie werden im Museum zu „Objekten“, die im Grillparzer-Kapitel mit dem sie umgebenden Raum in Beziehung stehen. (Das Bekenntnis zum Raum und davon ausgehend zur Integration szenografischer und multimedialer Elemente war eine der wichtigsten Prämissen bei der Umsetzung des Museums.) Wenn der Beamte und Dichter sich über die ihm unterstellten Archivare beklagt, wenn er fürchtet, vor lauter Amt seine Begabung zur Poesie und Dramatik zu verlieren, dann wird den Besucher:innen mit Blick auf die Arbeitsumgebung des Archivdirektors anderes oder mehr deutlich als bei der Buch-Lektüre.

Die erwartbaren Objekte, Handschriften und auch Zeichnungen Grillparzers, illustrieren nochmals die Spannung zwischen dem Beamten und dem Dichter. Zu sehen ist etwa das Urlaubsgesuch, das Grillparzer stellt, als er 1826 beabsichtigt, eine Deutschland-Reise zu unternehmen und bei dieser Gelegenheit neben deutschen Geistesgrößen wie Tieck oder Hegel auch Goethe in Weimar zu besuchen. Am 3. Juni 1826 bittet der damalige Hofkonzipist untertänigst um Urlaub:

Der Unterzeichnete wagt es zu bitten, den im verfloßenen Herbste zu einer Reise nach Paris erhaltenen 8wochentlichen Urlaub, an dessen Benützung ihn damals die vorgerückte Jahreszeit hinderte, gegenwärtig zu einer Reise nach Dresden, Weimar und Berlin benützen zu dürfen.10

Der Urlaub wird gewährt und es kommt schließlich zur erhofften und mit Nervosität erwarteten Zusammenkunft mit Goethe:

Als es aber zu Tische gieng und der Mann, der mir die Verkörperung der deutschen Poesie, der mir in der Entfernung und dem unermeßlichen Abstande beinahe zu einer mythischen Person geworden war, meine Hand ergriff um mich in’s Speisezimmer zu führen, da kam einmal wieder der Knabe in mir zum Vorschein, und ich brach in Thränen aus.11

Der Dramatiker Grillparzer ist in der Handschrift der „Libussa“ präsent. Das zwischen 1825 und 1848 entstandene Stück reicht in die „älteste Geschichte Böhmens“ zurück und endet mit der Gründung der Stadt Prag. Mit ihr vollzieht sich der Wandel von einem naturhaften Urzustand friedlichen Zusammenlebens zu einer städtischen Kultur. Libussas große Schlussrede ist eine Vision, die den Gang der Menschheitsgeschichte voraussagt. Am Ende steht die Zweckrationalität eines männlich dominierten Zeitalters. Auch die Wahl dieses Stückes und dieses großen Monologes aus dem umfangreichen Nachlass Grillparzers möchte dazu anregen, den Klassiker weiter zu denken.

Dem emphatischen Anspruch auf lebendige Wahrheit über den Tod hinaus, wie sie der scharfsinnige Publizist und Schriftsteller Ferdinand Kürnberger in einem Nachruf auf Franz Grillparzer vertritt, steht die Auratisierung von Archiv-Objekten gegenüber; was als Vitrinenschatz konserviert wird, dem scheint der Stachel literarischer Widerständigkeit gezogen. Die literarische Überlieferung verkommt zum Schatzkästchen, was Kürnberger voraussah: „Ein schönes Wort: literarische Schätze, für: Blitz, Donner, Hagel, Teufel und Teufelsschwanz! […] Und das ist die Lebensmaske Grillparzers: ausgesandt als ein flammendes Gewitter, um die Luft Österreichs zu reinigen, zieht er über Österreich hin als ein naßgraues Wölkchen, am Rande mit etwas Abendpurpur umsäumt. Und das Wölkchen geht unter!“12

Die „Schätze“ in den Bibliotheken, Archiven und Museen sind zwiespältige Geschenke an die Nachwelt: Sie können Blitz und Donner aussenden, und sie können im milden Sonnenschein zu Museumsstücken einer Repräsentations-Kultur werden. Im Klassiker Grillparzer steckt der Zweifler, der selbstironische Biograph seiner selbst, der mit Sprachwitz ausgestattete Analytiker von Machtverhältnissen. Seine Gegenwärtigkeit steckt in den Texten; es ist nicht leicht, dies zu vermitteln. Gäbe es ein Motto, das der Ausstellung im Literaturmuseums vorangestellt werden könnte, dann würde es ungefähr wie folgt lauten: Die Lust an der Literatur soll sich ihre eigenen Wege suchen. Diese Wege führen alle vom Schauen und Hören zum Lesen und Nachdenken – und wieder zurück.13

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