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Neubehauptung der Nation

Die für Belarus beispiellose Mobilisierung wurde durch besondere Qualitäten des politischen Programms von Swetlana Tichanowskaja ermöglicht. Der Kern dieses Programms besteht darin, Neuwahlen abzuhalten, d. h. dem belarusischen Volk die Möglichkeit zu geben, sein verfassungsmäßiges Recht wahrzunehmen. Ein solches Programm fördert keine konkrete Ideologie: Es ist weder rechts, noch links, noch christlich-demokratisch, noch liberal-demokratisch. Indem Swetlana Tichanowskaja mit einem solchen Programm auftrat, geriet sie nicht in Konflikt mit anderen politischen Parteien oder Gruppierungen in unserem Land. Was hat sie damit bewirkt? Vertreter aller politischen Vereinigungen und Ansichten konnten sich zusammenschließen und auf die Straße gehen, denn alle vernünftigen Akteure sind sich darin einig, dass wir einen Neustart des politischen Systems bewerkstelligen müssen: Es geht um die Wiederherstellung der Rechtsordnung und um die Wiederherstellung der repräsentativen Demokratie. Als potenzielle Präsidentin von Belarus verkörpert Swetlana Tichanowskaja die Voraussetzung für die Möglichkeit der politischen Erneuerung unseres Landes.

In Belarus geht die Neubehauptung der Nation derzeit auf neuen Grundlagen vonstatten, auf Grundlagen, die von der Mehrheit der Protestierenden geteilt werden. Diese Neubehauptung der Nation ist auf ihre Weise einzigartig. Denn die Besonderheit unserer politischen Situation besteht darin, dass die nationale Agenda nicht mehr in der Form in den Vordergrund getreten ist, wie sie seit vielen Jahren (angefangen bei Zianon Pazniak) von der alten nationaldemokratischen Opposition vorangetrieben worden war. Die Vertreter der alten Opposition haben immer den sogenannten ethnischen Nationalismus, im Gegensatz zum staatsbürgerlichen Nationalismus, befördert. Wie wir wissen, hat diese Strategie in Belarus nicht funktioniert, sie konnte die Menschen nicht zusammenbringen. Denjenigen, die dieses Thema wirklich verstehen wollen, empfehle ich dringend, das Buch Der Abwesenheitscode von Valentin Akudowitsch zu lesen.

Die Einzigartigkeit der derzeit zum Ausdruck gebrachten Neubehauptung der Nation besteht darin, dass sie nicht auf der Grundlage bereits bekannter begrifflicher Modelle beschrieben werden kann, wie etwa mit der Dichotomie zwischen Staatsnationalismus und ethnischen Nationalismen oder zwischen dem Nationalen und dem Postnationalen.

Die aktuelle nationale Agenda gründet sowohl auf unserem kulturellen Ethos als auch auf dem Einigkeit schaffenden Wunsch der Bürger, die Regeln für das Zusammenleben im Land selbst neu zu definieren. In diesem Bestreben folgen wir einem bestimmten Ethos, das heißt einer kollektiven Idee davon, wie wir unser gemeinsames Leben gestalten sollten. Dieses Ethos ist kein aus dem Übel dieser Tage heraus erdachtes Konstrukt, es ist ein historisch geformtes Ethos, durch das sich letztendlich manifestiert, was in der wissenschaftlichen Literatur „nationaler Habitus“ genannt wird. Das Gefühl der nationalen Zugehörigkeit erwächst heute gerade aus der Einheit schaffenden Idee, dass wir unser Leben gemeinsam gestalten können. Aus dieser nationalen Einheit entsteht die Entschlossenheit, bis zum Ende zu gehen.

In diesem Zusammenhang ist ein weiteres, ebenso wichtiges wie absolut überraschendes Moment erwähnenswert: Die weiß-rot-weiße Fahne, die viele Jahre lang mit der alten Opposition in Verbindung gebracht worden war, aber in der Gesellschaft keine breite Unterstützung gefunden hatte, ist nun auf einmal wieder zu einem Symbol gesamtnationaler Solidarität geworden. Derzeit identifizieren sich fast alle mit dieser Flagge. Wie ist es dazu gekommen? Ich denke, dass hier Swetlana Tichanowskajas politisches Programm eine Schlüsselrolle gespielt hat. Denn wofür steht die protestierende Zivilgesellschaft, die sich hinter ihrem Programm zusammenschloss im übertragenen Sinne? Für ein anderes Belarus. Wir wollen die bestehende politische Ordnung durch eine grundlegend andere ersetzen. Je radikaler und schärfer der politische Antagonismus wurde, desto größer wurde auch das Bedürfnis nach diesem anderen Belarus und dementsprechend auch nach anderen, regierungskritischen Symbolen. Vor diesem Hintergrund hat dieses Bedürfnis auf natürliche Weise zu einer Aufmerksamkeitsverschiebung hin zur weiß-rotweißen Flagge geführt. Ich sage „natürlich“, weil wir keine andere Fahne erfinden mussten, sie war ja bereits als wichtiger Teil unserer nationalen Geschichte vorhanden. Die früheren nationalen Symbole haben somit eine neue Bedeutung erhalten. Und es geht hier nicht nur um die Flagge – die Menschen singen ja auch überall das Lied Pahonia und andere belarusische Lieder, sie nützen Ornamente der belarusischen Folklore mit ihren charakteristischen Farben usw. Die ist ein sehr heikler und wesentlicher Moment: In unserem Kampf für Demokratie geht es um eine Wiederaufnahme der früheren Bemühungen (im Jahr 1918 sowie in den Jahren 1991 – 1996), Belarus als souveränen demokratischen Staat zu etablieren. Die historische Aufgabe ist die gleiche, die Situation ist eine andere. Dieser dritte Versuch dürfte erfolgreich sein, weil wir es diese Mal tatsächlich mit einer einzigartigen nationalen Solidarität zu tun haben.

Die asymmetrische Macht der protestierenden Zivilgesellschaft

Die politische Konfrontation in Belarus zeichnet sich durch eine ganz eigentümliche Asymmetrie aus – die Asymmetrie zwischen brutaler physischer Gewalt durch die belarusischen Behörden und dem betont friedlichen Charakter des Protests; zwischen einer systematischen Verletzung des Gesetzes durch die Vertreter des Staates und der ständig wiederholten Forderung der Protestierenden, die Herrschaft des Rechts in Belarus wiederherzustellen. Der friedliche Charakter des Protests ist in der Tat das Kennzeichen dieses Aufstands.

Im Ausland (und insbesondere von Bürgern der Ukraine) hört man sehr oft kritische Stimmen hinsichtlich des friedfertigen Charakters des belarusischen Protests. Ich nehme zur Kenntnis, dass das eine höchst umstrittene Frage ist. Allerdings unterstütze ich diese Strategie und zwar aus mehreren Gründen. Zunächst einmal, weil das autoritäre Regime in Belarus einen extrem breitgefächerten und fest konsolidierten Sicherheitsapparat hat. Zweitens waren Gewalt und Grausamkeit, die sich diese Leute nach Bekanntgabe der offiziellen Wahlresultate zu Schulden kommen ließen, derart brutal und schockierend, dass die physische Gewalt als Mittel der Politik geradezu zum Symbol des Usurpators Lukaschenko und seines Regimes geworden ist.

Als Kern des belarusischen Aufstands lässt sich ein moralisches Trauma ausmachen (die Leute singen: „Wir werden nicht vergessen. Wir werden nicht vergeben“). Im Angesicht der ungeheuerlichen Verletzungen elementarer Menschenrechte haben die Belarusen eine asymmetrische Antwort gewählt. Ihre Antwort ist: Stoppt die Gewalt. Es ist diese moralische Antwort, die zur Basis politischer Solidarität wird. Als Philosophin möchte ich besonders auf das enorme Veränderungspotential einer solchen asymmetrischen Antwort hinweisen. Sie baut auf einer miteinander geteilten moralischen Sensibilität (gleichermaßen individuell wie gesellschaftlich) auf, die dazu führt, dass die Menschen für eine bessere Gesellschaft kämpfen. Solange diese moralische Sensibilität anhält, können wir auf Veränderungen in unserer Gesellschaft hoffen und uns kollektiv dafür stark machen – weiter auf den Straßen demonstrieren und so fort. Ich denke, darin liegt eine wichtige Lektion für moderne Politiker im Allgemeinen: Unsere Gesellschaften müssen moralische Sensibilität entwickeln, die Fähigkeit, Mitgefühl füreinander zu zeigen.

Nirgendwo zeigt sich dieses asymmetrische Verhältnis offensichtlicher als in der Gegenüberstellung unschuldiger Frauen in Weiß, mit offenem Gesicht und Blumen in der Hand auf der einen Seite und den brutalen männlichen Polizisten in Schwarz und dann auch noch mit Gesichtsmasken auf der anderen Seite. Der Protest der weißen Frauen am 12. und 13. August war auf eine Art ein sakraler Moment im Verlauf dieses Aufstands, es war der eigentliche Auftakt des belarusischen Protests, in friedlicher Entschlossenheit unsere Welt zu retten und unser Leben und unsere Würde zu verteidigen. Solcherart friedfertige Standhaftigkeit hat nichts mit Demut zu tun. Unsere Frauen sind stark, und sie zeigen einen wahrhaft bemerkenswerten Mut (es gibt so viele Beweise dafür!). Was sie symbolisieren, das ist die Entschiedenheit: Wir wollen unser Leben in diesem Land ändern und zwar auf der Grundlage eines moralischen Verbots illegaler physischer Gewalt, das heißt auf der Grundlage absoluten Respekts vor Leben und Würde der Menschen.

Darüber hinaus ist solcherart friedliche Entschiedenheit eng verknüpft mit einer Identitätsfrage. Insbesondere schließt unser Protest eine kritische Überprüfung des sowjetischen Erbes ein. Eine der Protestaktionen trug den Titel Die Kette der Buße. Sie verband Akrescina, also den inoffiziellen Namen des Untersuchungsgefängnisses, wo die Häftlinge vom 9. bis 11. August gefoltert wurden mit Kurapaty, dem Ort stalinistischer Massenexekutionen unweit von Minsk im Jahr 1941. So wird das Sowjetsystem als historische Basis für das autoritäre Regime Lukaschenkos wahrgenommen. Die grausame Gewalt der heutigen Einsatzpolizei OMON gegen protestierende Bürger wird so nicht nur vergleichend neben die Verbrechen der deutschen Faschisten gestellt, sondern auch historisch verknüpft mit dem repressiven Agieren der NKWD-Offiziere. Diese Reflexionen sind zweifellos nicht nur für Belarus wichtig, sondern für den postsowjetischen Raum ganz allgemein.

Solidarität zwischen den Generationen

Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass die einzigartige gesellschaftliche Solidarität, die im gesamten Land spürbar ist, sich auch als eine Solidarität zwischen den Generationen erweist. Unter den belarusischen Demonstranten gibt es Menschen ganz unterschiedlicher Generationen – ganz junge Leute, aber auch ziemlich alte Leute, und das ist in den Metropolen so und in den kleineren Städten und den Dörfern. Das ist ein wesentlicher Punkt: Es zeigt, dass die moralischen Empfindungen und Werte, die dem Aufstand zugrunde liegen, von verschiedenen Generationen geteilt werden. Das heißt, ihre Reaktionen als Menschen und Bürger auf die traumatischen Erfahrungen der Tage vom 9. bis zum 12. August waren dieselben. Das ermutigt uns, über die Bedeutung des Begriffs des kollektiven Traumas nachzudenken. Ist ein kollektives Trauma dasselbe wie ein geteiltes Trauma? Aus der belarusischen Erfahrung des gemeinschaftlichen, die Generationen umfassenden Protests heraus würde ich sagen, dass das geteilte Trauma – im engen Sinne – eine gesellschaftlich affektive Erfahrung ist, in der die Tatsache des Miteinander-Teilens selbst aufgewertet wird durch eine gemeinschaftliche Beziehung zu dem, was das Trauma auslöst hat. Gleichzeitig ist durch solches Teilen und Zusammenwirken zwischen den Generationen natürlich nicht ausgeschlossen, dass unterschiedliche Generationen unterschiedliche Wahrnehmungen dessen haben, was in Belarus geschieht, die geprägt sind von ihren jeweiligen soziokulturellen (biografischen) Erfahrungen. Hier gibt es ebenfalls eine spezielle Asymmetrie. Während die ältere Generation sich wegen des lang andauernden autoritären Regimes schuldig fühlt, merkt die jüngere Generation nun, dass sie in einer völlig anderen Welt lebt und leben will als derjenigen, die so brutal durch den belarusischen Staat durchgesetzt wird. Die derzeitige Solidarität zwischen den Generationen ist folglich eine ausgezeichnete Grundlage für Dialog und Zusammenwirken, wie sie künftig in einem neuen demokratischen Belarus zu entwickeln sein werden.

Bei dem Neuanfang, den wir erleben, geht es um die Lebendigkeit von Demokratie als einer gemeinsamen Lebensform. Einzigartig ist hier, dass die demokratische Lebensweise, die in Belarus derzeit entwickelt wird, sowohl ursprünglich liberalhumanistische als auch soziale und nationale Elemente verbindet. Es geht dabei gleichzeitig um die persönliche Freiheit und Würde, den eigenen Wert und gesellschaftliche Solidarität auf horizontaler Ebene sowie Einheit und Souveränität der Nation. Es gibt da einen wunderschönen Slogan: „Bis zu diesem Sommer kannten wir uns nicht.“ Das ist in der Tat ein unglaubliches Gefühl. Wir kommen aus dem Staunen gar nicht heraus – über die Tatsache, dass wir dermaßen solidarisch sein können, dass wir zusammen zu so dermaßen viel in der Lage sind, dass sich herausstellt, dass es da ein „WIR“ gibt. Dieses Staunen ist verbunden mit einer ganz speziellen Freude über unsere Solidarität miteinander. Für mich ist dieses Staunen – diese freudige Entdeckung unserer selbst, die gleichzeitig individuell und gemeinsam mit anderen geteilt ist – ein nicht mehr versiegender Kraftquell.

Aus dem Russischen und Englischen von Nina Weller und Andreas Rostek

MIT CYBER-PARTISANEN GEGEN LUKASCHENKO

SIMONE BRUNNER

Wenn Sviatlana Marcinovič in einem normalen Land leben würde, dann könnte diese Geschichte von ihrem Mut, ihrem Unternehmergeist und ihrem Erfolg handeln. Von den glitzernden Branchenevents, bei denen erfolgreiche Gründerinnen wie sie weitergereicht werden oder den Presseterminen, bei denen sich Politiker bei einem Foto mit ihnen ein frisches Image verpassen wollen.

Vor eineinhalb Jahren hat die Ingenieurin mit Ende 20 ein Startup für Handy-Applikationen in Minsk gegründet. Seither räumt sie zwar bei internationalen Wettbewerben ab und wird in Fachmedien zu ihrem Erfolg interviewt. Doch Marcinovič lebt derzeit nicht in einem normalen Land. Statt ihre nächsten Schritte als Unternehmerin zu planen, Businesspläne zu erstellen oder nach Investoren zu suchen, sitzt sie mittlerweile auf gepackten Koffern. Es ist vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihr Land verlassen muss.

Seit August gehen die Menschen zu Zehntausenden gegen ihren Langzeitpräsidenten Alexander Lukaschenko auf die Straße. Eine beispiellose Protestwelle, auf die Lukaschenko mit einer beispiellosen Repressionswelle geantwortet hat. Mittendrin dabei: der IT-Sektor. Es waren 300 führende IT-Unternehmer, die Lukaschenko wenige Tage nach den Wahlen in einem offenen Brief gedroht hatten, ihre Unternehmen aus dem Land abzuziehen, sollte es nicht zu Neuwahlen und einem Ende der Polizeigewalt kommen. Die „aitischniki“, wie sie auch genannt werden, waren die erste Berufsgruppe, die sich offen auf die Seite der Proteste geschlagen hat. Seither schulen sie Überläufer aus dem Staatsapparat um, organisieren Spendenaktionen oder entwickeln Programme für die Oppositionsbewegung. Was wiederum dazu geführt hat, dass der repressive Staatsapparat nicht nur Aktivisten, Demonstranten und Politiker ins Visier genommen hat – sondern auch IT-Unternehmen.

Strong and scared

„Not scared to be strong“, „Keine Angst, stark zu sein“, ist Marcinovičs Motto auf Facebook. Aber inzwischen hat auch sie Angst. So sehr, dass sie nicht ihren richtigen Namen in diesem Buch lesen will. Immerhin hat sie im Wahlkampf den ehemaligen Leiter des Belarus Hi-Tech Park, Valeri Zepkalo, unterstützt, er wurde nicht zu den Wahlen zugelassen und musste außer Landes fliehen. Zwei Mal waren sie und ihr Mann schon kurz davor, das Land zu verlassen. „Sveta, wir fahren nach Kiew“, hatte ihr Mann ihr schon einmal geschrieben. „Sveta, jetzt fahren wir nach Polen“, ein anderes Mal. Beide Male entschieden sie sich, doch zu bleiben. Aber sie hat Angst, wie sie sagt, „große Angst“. Viele ihrer Unternehmenskollegen werden inzwischen abgehört, vielleicht auch sie selbst? Was, wenn es in der Nacht an ihrer Tür klingelt? „Unser Leben hat sich so sehr verändert“, sagt sie. „Wir leben jetzt nur noch von Tag zu Tag.“

Doch ihr offenes Engagement für die Opposition ist nicht der einzige Grund, weshalb sie Belarus verlassen möchte. Es sind auch die großflächigen Internetblockaden, die ihr Startup an den Rand des Ruins gebracht haben. Als es nach dem Wahlabend zu großen Protesten kam, wurde für drei Tage das Internet im ganzen Land abgedreht, noch immer kommt es regelmäßig zu Ausfällen. Zwei Investoren sind seit dem Shutdown abgesprungen, der Release eines neuen Produkts musste verschoben werden. Für ihre Kunden, die vor allem in den USA und in der EU sitzen, war der Service nicht zugänglich. Wie sehr der Ruf ihres jungen Unternehmens gelitten hat, will sie sich erst gar nicht ausmalen. Derzeit überlegt sie, in welches Land sie ihr Startup evakuieren könnte, um solche Probleme in Zukunft zu vermeiden.

Das „IT-Wunder von Belarus“ ist reich an internationalen Erfolgsgeschichten, vom Kriegsspiel World of Tanks, das im westbelarusischen Brest entwickelt wurde, bis hin zum Messengerdienst Viber. Belarus galt lange als die „verlängerte Werkbank“ für digitale Produkte westlicher Unternehmen wie Adidas oder Coca-Cola. Programmierer in Belarus sind gut, aber billig. Zu Sowjetzeiten wurden hier kluge Köpfe in den technischen und naturwissenschaftlichen Fächern ausgebildet. Wo früher Waffen und Raketen geschmiedet wurden, tüfteln heute Ingenieure an künstlicher Intelligenz und neuen Spielen. Es waren ausgerechnet die Kommunisten, die die Grundlage für den IT-Boom legten: Minsk galt zu Sowjetzeiten als Kaderschmiede für Mathematiker und Ingenieure im Rüstungswettlauf mit dem Westen. Eine Tradition, aus der der boomende IT-Markt noch heute schöpfen kann. Der Unternehmergeist konnte im autoritären Land nicht zuletzt deswegen so gut gedeihen, weil sich über die Jahre ein ungeschriebener Deal zwischen der boomenden Tech-Szene und dem autoritären Staat entwickelt hatte: Ihr mischt euch nicht in die Politik ein, und wir mischen uns nicht in eure Geschäfte ein. Mit den Protesten 2020 wurde dieser Deal aufgekündigt.

Marcinovičs Startup ist klein, aber in Belarus, dem „Silicon Valley Osteuropas“, gibt es hunderte, wenn nicht tausende Sviatlanas. Seit 2005 besteht mit dem staatlichen Belarus Hi-Tech Park in Minsk eine Sonderwirtschaftszone mit Steuervergünstigungen; 2018 wurden aus dem Park Produkte und Dienstleistungen im Wert von 1,4 Milliarden US-Dollar exportiert, ein Plus von 38 Prozent zum Vorjahr. Zuletzt machten spektakuläre Deals Schlagzeilen, wie die Gesichtserkennungs-App MSQRD, die 2016 von Facebook gekauft wurde oder das Start-Up für Künstliche Intelligenz, AIMatters, das 2017 von Google übernommen wurde. Branchenriesen wie Epam oder Itransition gelten als Kaderschmiede für die künftige Minsker Tech-Elite. Der IT-Sektor sticht auch deswegen hervor, weil er in einer ansonsten recht straff staatlich kontrollierten Wirtschaft der einzig nennenswerte Sektor ist, der wächst – und das rasant: Im Vorjahr sorgte er immerhin für die Hälfte des BIP-Wachstums, der Export hat sich zwischen 2017 und 2019 auf zwei Milliarden US-Dollar verdoppelt. Die IT-Branche machte zuletzt rund sechs Prozent des BIP aus, erst unlängst versprach die Regierung, dieser Anteil werde bis 2023 auf zehn Prozent steigen.

Sonderfall IT

Die IT-Szene ist somit ein Sonderfall in der belarusischen Wirtschaft. Zwischen 60 und 70 Prozent der Wirtschaft werden auch 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion noch immer vom Staat kontrolliert, fast die Hälfte der Bevölkerung ist entweder bei Behörden oder in Staatsbetrieben angestellt. Das hängt freilich mit der Geburtsstunde des „Systems Lukaschenko“ zusammen: Es war eine Zeit des Umbruchs, als Alexander Lukaschenko 1994 in das Amt des Präsidenten gewählt wurde. Während in Osteuropa die „wilden Neunziger“ ausgebrochen waren – Rubelkrise, Korruption, Arbeitslosigkeit – waren es vor allem die Belarusen, die sich nach den alten Zeiten sehnten. Eine Sehnsucht, die Lukaschenko mit seinen Versprechen, die Korruption zu bekämpfen und das sowjetische Erbe zu erhalten, bedienen konnte. Während andere Regierungen, wie etwa in Polen oder Russland, daran gingen, radikal ihre Wirtschaft zu reformieren („Schocktherapie“), drehte Lukaschenko nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich die Uhren zurück.

Im Zentrum seiner Wirtschaftspolitik stand das Versprechen, die Privatisierung zu stoppen. Die wenigen Unternehmen, die bereits privatisiert worden waren, wurden wieder verstaatlicht und der weitere Verkauf von Volkseigentum gebremst. Potenzielle Investoren mussten eine lange Liste von Bedingungen erfüllen, um überhaupt als Käufer von Staatsbetrieben in Frage zu kommen: von der Beibehaltung des bisherigen Unternehmensprofils bis hin zu „sozialen Garantien“ für die Arbeiter. Was die Unternehmen wiederum unattraktiv machte, die Privatisierung kam praktisch zum Erliegen. Derweil hievte Lukaschenko loyale Apparatschiks an die Spitze der Staatsbetriebe, denen er mit Strafverfolgung drohte, sollten sie Arbeiter entlassen.

Tatsächlich sorgte das System lange Zeit dafür, die Beschäftigung hoch und die Pleitewellen gering zu halten. Das hatte – im Gegensatz etwa zur Ukraine – den für einen machtbewussten Autokraten angenehmen Nebeneffekt, dass sich im Land keine finanziell potenten Machtzentren abseits des Staates bilden konnten, die so genannten Oligarchen, die auch politisch mitmischen wollten. Es ist gerade diese Wirtschaftspolitik, die zum Herzstück des „Systems Lukaschenko“ mit seinem ungeschriebenen Sozialvertrag wurde: eine staatlich gesteuerte Wirtschaft mit sozialen Garantien, aber ohne demokratische Teilhabe. Während er seine Bürger vor dem „wilden Markt“ und dem „Raubtierkapitalismus“ à la Russe bewahrte, pries er – kräftig von der Staatspropaganda unterstützt – seine etwas eigenwillig interpretierte „soziale Marktwirtschaft“ oder das „belarusische Wirtschaftswunder.“ Die offizielle Arbeitslosigkeit ist mit 4,2 Prozent nur etwa halb so hoch wie in der Ukraine, aber Experten sprechen von einer „versteckten Arbeitslosigkeit“, da sich aufgrund minimaler Sozialleistungen nicht alle Arbeitslosen offiziell registrieren lassen.

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9783949262005
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