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Politische Ermächtigung

Dem Wahlkampf-Team von Babariko war es gelungen, das populäre Narrativ „Staatsmacht ist schlecht“ zu drehen auf „Menschen sind gut“. Das war eine attraktive Botschaft für die Belarus*innen, insbesondere angesichts der demütigenden Rhetorik von Lukaschenko während der Pandemie. Das Symbol von Babarikos Kampagne war ein Herz – ein starkes Zeichen von Empathie und Unterstützung.

Babariko versuchte, ein besseres Belarus in den Blick zu nehmen, einschließlich des politischen Systems: „Wir leben in einem eher (wenn auch anscheinend undemokratischen) guten (…) Land“ und: „Der Wille des Volkes kann nicht gefälscht werden“. Indem er die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit sowie das Selbstbewusstsein und die Verantwortung der Bürger*innen in einem autokratischen Staat betonte, versuchte er die „Spielregeln“ zu ändern: Nicht „Behörden fälschen die Wahlen“, sondern „die Belarus*innen sind klug genug, das zu verhindern“.

Das „Frauentrio“ hat diese Message konsequent in ihre gemeinsame Kampagne übernommen. Die Frauen waren authentisch, erzählten persönliche Geschichten, sprachen über Liebe und Empathie, baten die Menschen, an sich selbst zu glauben, und waren selbst ein lebendiges Beispiel dafür. Menschen skandierten bei ihren Kundgebungen: „Ich – kann – alles – ändern!” Der traditionelle Slogan der Opposition „Wir glauben, wir können, wir werden gewinnen“ klang nun manchmal so: „Wir lieben, wir können, wir werden gewinnen“. So wurde eine kritische Masse von Belarus*innen zur Wahlbeobachtung und Wahlbeteiligung mobilisiert. Sogar ihre „Bewusstseinsaufrufe“ an die Mitglieder der Wahlkommissionen funktionierte: Bei etwa hundert Wahllokalen wurden die Stimmen tatsächlich richtig gezählt.

Frauenpower

Was von vielen als „weibliche Revolution“ bezeichnet wird, war ursprünglich nicht als solche geplant. Es wäre auch falsch zu sagen, dass das weibliche Element das wichtigste war, das Menschen drei Wochen vor den Wahlen so stark mobilisierte. Die Belarus*innen waren bereits vor den Wahlen politisiert und weitgehend einig gegen Lukaschenko. In diesem Sinne war es eine Protestwählerschaft, die bereit war, für jede starke Persönlichkeit zu stimmen, die sich gegen den amtierenden Präsidenten stellte.

Durch die Verhinderung von drei populären Kandidaten wurde Swetlana Tichanowskaja zur „letzten Hoffnung auf Veränderung“. Veränderung bedeutete dabei vor allem ein Ende der Repressionen und neue faire Wahlen. Und genau das versprach Tichanowskaja: Sollte sie gewinnen, würde sie innerhalb von sechs Monaten neue Wahlen initiieren. Sie sah sich also als Übergangskandidatin.

Swetlana Tichanowskaja hatte nie vor, in die Politik zu gehen, sie kümmerte sich um ihre Kinder, nachdem sie früher als Dolmetscherin aus dem Englischen gearbeitet hatte. In ihren Reden konzentrierte sie sich auf Familienwerte, Kinder und Liebe und betonte immer wieder, dass ihr verhafteter Ehemann Sergej ursprünglich der Hauptgrund für ihr politisches Engagement gewesen sei. Mit der Zeit stand sie jedoch nicht nur für seine Freiheit, sondern auch für die Freiheit aller Belarus*innen. Sie sah sich zwar als schwache und „einfache“ Frau, wurde allerdings nach Wochen voller Kundgebungen vor den Wahlen immer stärker. Wenn alles vorbei sei, würde sie wieder „ihre Bouletten braten“, sagte sie. Ihre Ansichten änderten sich auch nach den Wahlen nicht, als sie Belarus verlassen musste und zu einer international bekannten Oppositionsfigur wurde.

Maria Kolesnikowa war dazu in gewisser Weise der Antipode – sie sah sich als freie Weltbürgerin und erwähnte in ihren Interviews den Wert des Feminismus. Sie hatte eine erfolgreiche Karriere im Kreativbereich und arbeitete als Musikerin und Artdirektorin. Die gebürtige Belarusin lebte und arbeitete lange Zeit in Deutschland und anderen europäischen Staaten und lernte die Werte von Demokratie und Freiheit in der Praxis kennen. Sie wurde bereits im Team von Babariko sichtbar: Ihre Botschaften („Wir sind legitim!“, „Belarusen, ihr seid unglaublich!“) erreichten eine breite Öffentlichkeit. Von den drei Frauen war sie die einzige, die nach den Wahlen in Belarus blieb und sogar ihren Pass zerriss, als Geheimdienste versuchten, sie außer Landes zu schaffen, was zu ihrer Verhaftung führte.

Veronika Zepkalo galt als Kombination aus beiden Elementen: eine selbstbewusste, erfolgreiche Managerin bei Microsoft, eine liebevolle Frau und Mutter. Bei der ersten gemeinsamen Pressekonferenz machte sie deutlich, dass die belarusische Verfassung auch für Frauen geschrieben sei und dass Frauen in Belarus Männern gleichgestellt seien. Diese Aussage war eine deutliche Antwort an Lukaschenko, der das Gegenteil insinuiert hatte. Gleichzeitig unterstützte sie Swetlana Tichanowskaja als Mutter und Ehefrau – so sah für sie „Frauensolidarität“ aus. Schließlich betonte sie in ihren Interviews, es gebe nur einen Politiker in ihrer Familie, und das sei ihr Ehemann Valeri Zepkalo.

Diese Kombination von traditionellen und feministischen Werten in den Botschaften des „Frauentrios“ spielte offensichtlich eine wichtige Rolle für ihre breite Popularität, weil sehr unterschiedliche Zielgruppen damit angesprochen wurden. Die schüchterne und liebevolle Tichanowskaja war ein perfekter Prototyp für einen erheblichen Teil der Belarus*innen, die eher traditionelle Werte teilten – sie wurde eine Art „politisches Aschenputtel“. Menschen unterstützten sie aus Solidarität, Mitgefühl und Bewunderung für ihren Mut.

Gleichzeitig kamen feministische Botschaften von Kolesnikowa und die aufbauenden Reden von Zepkalo bei den Anhänger*innen der Frauenpower gut an. Patriarchalische Hierarchien und Sexismus sind in Belarus sehr präsent – sowohl im öffentlichen Raum als auch am Arbeitsplatz oder zu Hause. Frauen sind ständig geschlechtsspezifischen Stereotypen und Diskriminierungen ausgesetzt. Belarusische Frauen scheinen allerdings laut jüngsten Umfragen weniger patriarchalisch geprägt zu sein als Männer. Das „Frauentrio“ gab ihnen eine Chance, sich selbst und ihre eigenen Stärken besser kennenzulernen, es motivierte tausende Belarusinnen zu friedlichen Frauenprotesten nach den Wahlen.

Schlusswort: Menschenrechte

Wahlfälschungen und Repressionen kannte Belarus auch früher schon; nie zuvor allerdings traf die staatlich sanktioniere brutale Repression so viele Menschen persönlich oder über ihre Bekanntenkreise. Menschen sahen mit eigenen Augen, warum faire Wahlen wichtig sind und warum Menschenrechte geachtet werden müssen.

Dabei hatte eine Pact-Studie von 2017 gezeigt, dass die Befragten die Achtung der Menschenrechte, des menschlichen Lebens und der individuellen Freiheit für sich selbst als doppelt so wichtig eingeschätzt hatten wie für die Gesellschaft insgesamt. Das heißt, die Belarus*innen glaubten damals, dass diese Werte für andere Menschen nicht so wichtig waren wie für sie selber. Solidarität und Politisierung haben diese Trennlinien zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft nun verwischt.

BELARUS ALS FRAU UND DIE FRAUEN VON BELARUS

Ein Selbstbild der Nation

Marina Scharlaj

Belarus – jana maja. Belarus ist weiblich. Eine Plakatlosung setzt ein Statement. Auf Belarusisch formuliert, betont sie einerseits das grammatische Geschlecht des Toponyms. Andererseits und vielmehr wird damit das weibliche Gesicht des Widerstandes skizziert: Im Vordergrund das junge, weibliche Trio, das den amtierenden, für seine patriarchalen Ansichten bekannten Langzeitpräsidenten in der Wahlkampagne herausforderte. Gefolgt von Frauen, die nach dem Wahlergebnis und vier Nächten der Gewalt gegen Männer auf die Straße gingen. In Weiß gekleidet, mit Blumen und mitten am Tag stellten sie sich – im starken Kontrast – den schwarz vermummten Polizisten der OMON-Einheit.

Zu Symbolfiguren des Widerstandes wurden viele: die Hausfrau Swetlana Tichanowskaja, die Flötistin Maria Kolesnikowa, die Rentnerin Nina Baginskaja, die Malerin Nadzja Sajapina, die Sportlerin Alena Leŭčanka, die Bikerin Jana … Die Gesichter dieser Frauen wurden und werden auf Plakaten und Flugblättern, auf T-Shirts, in sozialen Netzwerken, Graffiti und anderen Formen von Street-Art abgebildet. Eine der ersten Ikonen des Protests ist förmlich ein Frauenbild – Chaim Soutines Gemälde „Eva“. Das bekannte Porträt wurde von der Regierung aus der Kunstsammlung des inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko konfisziert und daraufhin von den kritisch gesinnten Kulturschaffenden mehrfach reproduziert. So war Soutines „Eva“ hinter Gittern, im Sträflingsanzug, mit Victory-Zeichen oder auch mit einem rotlackierten Stinkefinger zu sehen. Wenig später, als der Protest breite Massen erreichte, tauchte im Belarusischen der Neologismus Evaliucyja auf. Und er trifft den Kern. Er steht für einen weiblich initiierten, betont friedlichen, ausgesprochen solidarischen und durchaus kreativen Protest. Für einen Protest, der vielleicht noch nicht als eine Revolution (revaliucyja) bezeichnet werden kann, und dennoch nicht weit davon entfernt ist. Fakt ist: Unabhängig vom Ausgang der aktuellen Ereignisse geht dieser Protest in die Geschichte ein.

Dabei wurde die Geschichte von Belarus bisher vorwiegend von Männern geschrieben. Nur wenige Frauen, wie etwa Fürstin Rahnieda, die Aufklärerin Euphrosyne von Polack oder die Schriftstellerin Franciška Uršula Radzivill finden in Lehrbüchern als berühmte Persönlichkeiten der weit zurückliegenden Vergangenheit Erwähnung. In der neueren Geschichte sind sie eher unsichtbar. Die Unsichtbarkeit von Frauen in gesellschaftspolitischen Diskursen ist kein spezifisch belarusisches Phänomen. Das Besondere im Fall von Belarus ist eine lange Unsichtbarkeit der Titularnation als solcher. Die historische Zugehörigkeit zu mächtigeren Nachbarn führte dazu, dass die Belarus*innen unter anderem als „verspätete“ oder „defizitäre“ Nation, als ein „kleines“ Volk, und das von ihnen bewohnte Territorium als „weißer Fleck“ apostrophiert wurden. In literarischen, publizistischen und medialen Texten und nicht zuletzt auch im politischen Diskurs wurde die belarusische nationale Identität lange Zeit wenn nicht mit einer Null-Metaphorik ganz getilgt, so doch mit Inferioritätsmerkmalen attribuiert.

Über die genannten Fremdzuschreibungen und Konnotationen hinaus sind bereits im Toponym Belarus zahlreiche Entwürfe eines nationalen Selbstbildes enthalten. Intellektuelle finden darin eine schicksalhafte Komponente und entfalten im Diskurs über das Belarusische wiederkehrende Motive und Mythologisierungen: ein „weißes“, unerforschtes Gebiet, Terra incognita, ein namenloses Land, ein Gespenst … Wird das Bild des Landes konkreter umrissen, so erscheint es als eine Gestalt, die von den Gepflogenheiten des Dorfes geprägt ist und in einem Sumpf zu versacken droht. Das Femininum Belarus lädt ferner geradezu dazu ein, es als eine Frau zu personifizieren. In das nationale Leidensnarrativ passt etwa die Allegorie einer Frau und Mutter, die immer wieder fremdgeht oder sexuell misshandelt wird:

Спала з маскалём, / Спала з ляхам, / Ды была пастеллю мне плаха. / Спала з тваiм бацькам – лiцьвiнам, / А цяпер з табой – маiм сынам. (…) Паглядзi, з кiм спала Айчына!

(Анатоль Сыс, „Песня пра жану“, 1993).

Mit einem Moskal’ geschlafen, / mit einem Lachen (=Polen) geschlafen, / und war auch mit mir im Bett. / Mit deinem Vater, dem Litauer, geschlafen, / und jetzt schläft sie mit dir, meinem Sohn. (…). Schau nur, mit wem die Heimat geschlafen hat!

(AnatoÍ Sys, „Lied über die Ehefrau“, 1993).

Wie kein anderes Beispiel verdeutlicht das Gedicht von AnatoÍ Sys die Verknüpfung von Gendermustern und nationalen Identitätskonstruktionen: Die traditionelle Genderordnung wird auf andere Formen der Identitätsbildung projiziert. In der Geschichte, die als patrilineare Geschichte der Männer verstanden wird, gilt der Mann als prototypischer Vertreter einer Nation; die Position der Frau ist von der des Mannes abhängig. Die Konzeptualisierung der belarusischen Nation als Frau weist auf ihre Schwäche hin, wird mit dem „Weiblichen“ doch das Unentwickelte, Emotionale, Passiv-Inferiore und Passiv-Naturhafte konnotiert. Demgegenüber stehen die „männliche“ Stärke und Überlegenheit, das Aktiv-Geistige, Schöpferische und Rationale – die Eigenschaften, die im belarusischen Identitätsdiskurs zumeist den Nachbarstaaten zugeschrieben werden.

Viel häufiger als das Bild der Dame minderen Gewichts ist in den diskursiven Identitätskonstruktionen allerdings das Madonnenbildnis anzutreffen. Im nationalen Selbstbeschreibungsmodell von Belarus kommt der Mutter eine außerordentlich positive Stellung zu. Das Licht der Mutter sei, wie es der Dichter Ryhor Baradulin („I ščyraść ichnjaja i laska“, 1987) beschreibt, mit dem Licht Gottes vergleichbar; es sei „geheimnisvoll“, „unendlich“ und „unfassbar tief“ – genauso wie die eigene Sprache und Heimat. Auch diese beiden Begriffe (mova und radzima, ebenfalls weiblichen Geschlechts) werden mit femininen Eigenschaften versehen. Die eigentliche Muttersprache, das Belarusische, besitzt zwar im nationalen Diskurs eine starke Identifikationskraft, wird aber lange Zeit als Dorfsprache abgestempelt. Als Sprache der Titularnation hat sie einen rein symbolischen Wert und steht im kommunikativen Alltag dem Russischen, dem Maskulinum jazyk, wesentlich nach. Dementsprechend wird die belarusische Sprache in der Personifizierung als Mutter mit den bekannten Klischees des Weiblichen, des Mütterlich-Seelenvollen, aber auch des Leidensfähigen und Rezeptiven konzeptualisiert. Im patriarchalen Weltbild hat sie oft keine Stimme. Die Belarus*innen, die statt die eigene Muttersprache zu gebrauchen, in ihr verstummen, die Sprache des „großen Bruders“ sprechen, gelten als „schweigende“ Nation schlechthin. Sie werden immer wieder zum Schweigen gebracht – in der jüngsten Geschichte vom Staatsapparat der eigenen Republik, an dessen Spitze ein „richtiger“ Mann, ein mužik stehe.

Die Stilisierung von Alexander Lukaschenko als Vater der Nation (baćka) und „Herr im Haus“ ist im politischen und populär-kulturellen Kontext bekannt. Die offiziellen massenmedialen Inszenierungen rekurrieren nicht selten auf Genderkonstruktionen und Familienbezeichnungen und deuten auf ein Wertesystem hin, das von dezidiert männlichen und patriarchalen Eigenschaften geprägt ist. Der belarusische Staatschef, der sich gerne als alleinerziehender Vater in der Öffentlichkeit in Szene setzt und dabei die Gesellschaft junger Frauen ostentativ genießt, äußerte sich immer wieder zu den Vorzügen der traditionellen Genderordnung im eigenen Land.

Ironischerweise war es wohl gerade dieser unentwegt vorgebrachte Sexismus, der die Frauen in der Politik nicht ernst nahm, sie unterschätzte, aber sie letztlich bestärkte und zu einem mächtigen Gegner werden ließ. Die Frauen, die im Sommer 2020 unverhofft die politische Bühne und später die Straßen und Plätze von Belarus betraten, sind in mehrfacher Hinsicht symbolhaft. Ihr Aufstand ist eine Auflehnung gegen Lukaschenkos Patriarchat, in dem Frauen dazu bestimmt sind, Kinder zu gebären und in der Küche am Herd zu sein. Ihr Aufstand steht aber auch für das Erwachen der Nation – einer vermeintlich „schwachen Frau“, die ihre eigene Courage neu entdeckt. Heute demonstriert der Staatsapparat seine Stärke, indem er friedliche Frauen wortwörtlich schlägt, in Gefangenentransporter zerrt und in Gefängniszellen einsperrt. Eine Metapher vermag es noch besser zu erfassen: In seinem Willen, an der Macht zu bleiben, spricht Lukaschenko von „seinem“ Land als der „Liebsten, die man nicht hergibt“. Ein staatlich organisiertes Frauenforum in der Minsk-Arena, bei dem der Machthaber vor Tausenden von Frauen Kampfbereitschaft verkündete und dabei ein Fest in sowjetischer Tradition abhalten ließ, krönte ein neues Lied mit gleichnamigen Titel („Ljubimuju ne otdajut“ / „Die Liebste gibt man nicht her“). Bezeichnend ist, dass es nicht nur auf Russisch, sondern auch von russischen Popstars mitgesungen wurde. Wie sehr eine solche „Liebe“ auf Gegenliebe des belarusischen Volkes trifft, ist mehr als fraglich. Die Regierung hält es jedenfalls nicht davon ab, dieses Lied ins Repertoire der Heimatsongs aufzunehmen, die aus den Lautsprechern erklingen, um Demonstrationszüge zu übertönen.

Die Entschlossenheit und Kreativität der Demonstrantinnen konterkariert diese archaische patriarchale Haltung. In weiten Teilen der belarusischen Gesellschaft herrscht die Meinung, dass die Frauen die Fäden im Hintergrund ziehen und das Leben im Land am Laufen halten. Die protestierenden Frauen zeigen, dass sie sich nicht unterordnen lassen und als „Kriegerinnen des Lichtes“ für die Zukunft ihrer Heimat, ihres Volkes und ihrer Kinder „spazieren gehen“. Sie zeigen ferner, dass die Instrumente des Patriarchats ins Leere laufen können, und geben damit der Nation das Vertrauen in ihren Gerechtigkeitssinn zurück. In der Mehrheit sind es keine erklärten Feministinnen, sondern Frauen, die sich mit „femininen“ Eigenschaften identifizieren und sie bei ihren Spaziergängen zur Schau stellen, sei es als inszenierte und romantisierte Bräute, als Mütter, die auf der stilisierten Polizeiuniform MAMA anstelle von OMON schreiben, oder als Sexualobjekte, die den Polizisten drohen, sie nicht zu bedienen …

Schließlich machten genau diese stereotypen Eigenschaften des „schwachen Geschlechts“, die normative Weiblichkeit, die drei zum role model für die Proteste in Belarus gewordenen Frauen, erst glaubwürdig. Swetlana Tichanowskaja, eine Mutter und ehemalige Lehrerin, betonte immer wieder, dass sie sich gezwungenermaßen als Platzhalterin für ihren inhaftierten Mann zur Wahl stellt. Allenfalls stellte sich heraus, dass Belarus für eine sich selbst aufopfernde Frau als Präsidentin bereit wäre. Nicht nur, weil das konträr zum chauvinistischen Gebaren des langjährigen Machthabers steht, sondern auch, weil das ins etablierte Frauenbild passt. So gesehen revolutionieren die Aktivistinnen und Demonstrantinnen nicht primär das Frauenbild von Belarus. Vielmehr sind sie als treibende Kraft zu verstehen, die das nationale Selbstbewusstsein neu ausrichtet und die Individuation der Gesellschaft vorantreibt.

Schlussendlich darf man nicht vergessen: Auf der Kehrseite gibt es noch die „Frauen fürs Grobe“, die hinter Lukaschenko stehen und dem Staat dienen. Mindestens drei davon sind für das Geschehen und die Gewalt im heutigen Belarus mitverantwortlich: Natallja Kačanava, Leiterin der Präsidialverwaltung und Vorsitzende des Rates des Republik; VoÍha Čamadanava, Pressesprecherin des Innenministeriums, und nicht zuletzt Lidzija Jarmošyna, Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, die dafür bekannt wurde, dass sie Wahlstandards missachtete. Ohne sie wäre das Frauenbild von Belarus nicht vollständig.

DIE REVOLUTION HAT KEIN FEMINISTISCHES GESICHT

Irina Solomatina

„Wir haben uns zusammengeschlossen, damit sich drei kleine Flüsse zu einem breiten Strom des Volkszorns vereinen.“

Swetlana Tichanowskaja, Juli 2020

„Der Sommer 2020 wird in die neue belarusische Geschichte eingehen, da diese Revolution ein weibliches Gesicht hatte. Denn in dieser Präsidentschaftswahlkampagne sind die Frauen anstelle ihrer Männer angetreten.“

Veronika Zepkalo, Oktober 2020

Die Präsidentschaftswahlen in Belarus wurden seit den Vorgängen nach den Wahlen 2010 mit Repressionen gegen all jene assoziiert, die ihre Unzufriedenheit mit dem Regime zum Ausdruck brachten. Bei den Wahlen 2015 und 2020 gab es jedoch ein neues Topthema: Frauen.

2015 war Tacciana Karatkievič als Kandidatin der vereinten Opposition zur Präsidentschaftswahl angetreten, 2020 kandidierten bereits zwei Frauen: Swetlana Tichanowskaja, Ehefrau des inhaftierten Bloggers Sergej Tichanowski, und Hanna Kanapackaja, ehemalige Parlamentsabgeordnete. Am 16. Juli 2020 gingen ein Foto und die dazugehörige Pressemitteilung des Wahlkampfstabes von Viktor Babariko durch alle Medien, auf die die sozialen Netzwerke mit einer Unzahl an Memes reagierten, von „das Regime kotzt alle so an, dass sogar eine Hausfrau Präsidentin werden kann“ bis „wenn solche Schönheiten gegen die fettgesichtigen Bürokraten antreten, bin ich auch für Feminismus“. Was war geschehen?

Die Wahlkampfstäbe der registrierten Kandidatin Swetlana Tichanowskaja und der nicht registrierten Kandidaten Valeri Zepkalo und Viktor Babariko hatten sich zusammengeschlossen. Die Massenmedien titelten: „Drei Frauen gegen Lukaschenko“, „Zeit der Frauen. Drei Wahlkampfteams gemeinsam gegen Lukaschenko“, „Weiberaufstand – Bringt der vereinte Stab Belarus Geschlechtergerechtigkeit?“.

Maria Kolesnikowa aus dem Wahlkampfteam von Viktor Babariko, die den Zusammenschluss initiiert hatte, berichtete auf tut.by, dass ihr Stab schon vorher eine Strategie besprochen hatte für den Fall, dass Babariko nicht zugelassen werden sollte, nämlich „anderen Kandidaten anzubieten, die Kräfte für das gemeinsame Ziel zu vereinen. Das gemeinsame Ziel ist ein Sieg am 9. August, ein Regimewechsel. Am Donnerstagmorgen (den 16. Juli) trafen sich unsere Teams zum ersten Mal zu gemeinsamen Gesprächen (…) Und nach einer Viertelstunde hatten wir diese fünf Ziele beschlossen, die jede von uns unterschreiben kann …“ Die gemeinsamen Grundsätze der Kampagne der vereinigten Wahlkampfstäbe sind auch nach der Wahl noch aktuell:

1.Am 9. August wählen gehen.

2.Wir befreien die aus politischen und wirtschaftlichen Gründen Inhaftierten, ermöglichen das Recht auf Revision der Urteile und einen fairen Prozess.

3.Wir wiederholen die Wahl nach dem 9. August 2020 unter fairen Bedingungen.

4.Wir informieren die Wähler über die Notwendigkeit, ihre Stimme auf verschiedene Weise zu schützen.

5.Wir rufen zur Beteiligung an Initiativen für faire Wahlen und zum Einsatz als Wahlbeobachter auf.

Die Registrierung Swetlana Tichanowskajas, einer Hausfrau, die stets ihre Erfahrung als Mutter und die Liebe zu ihrem Ehemann unterstrich, sollte zum erschöpfenden Argument werden und ein detaillierteres Programm ersetzen. Die „Natürlichkeit“ der Familienstruktur wurde direkt auf das Modell des Staates als einer großen Familie projiziert.

Die Genderwissenschaftlerin Anne McClintock nennt in Dangerous Liaisons: Gender, Nation, and Postcolonial Perspectives die Angleichung der Struktur des Nationalstaats an die der Familie (mit einem Mann als Oberhaupt, einer Frau und Kindern) das zuverlässigste Mittel, um heteropatriarchale Werte zu verbreiten, die der Frau vorschreiben, für den Mann zu leben. Die Präsidentschaftskandidatinnen erwähnten soziale Probleme ausschließlich in Bezug auf die Fürsorge (für den Ehemann, die Kinder und die Belarusen), und ihre Rhetorik ließ weder eine feministische noch eine genderspezifische Agenda erkennen. Auch der vereinte Wahlkampfstab kam vollkommen ohne frauenbezogene Themen aus wie häusliche Gewalt, Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, oder die Tatsache, dass 85,6 Prozent der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen Frauen sind. Sie wären ganz besonders auf Schutzausstattung während der Pandemie angewiesen, die zunächst das Regime und dann auch die Opposition ignorierte.

Nicht nur die Gender-Agenda, auch die Anerkennung der Gleichstellung der Frau wird von denen ignoriert, die hinter den „drei Grazien“ (so bezeichnete sie die Vorsitzende des zentralen Wahlausschusses, Lidzija Jarmošyna) und ihren Männern stehen. Am 22. Juli teilte Veronika Zepkalos Ehemann Valeri mit: „Mit den vereinten Kräften der drei Teams wollen wir zeigen, dass selbst eine Hausfrau in der Lage ist, ihn zu besiegen. Wir schaffen ein Komitee der Nationalen Einheit, als Gegensatz zur Einheitsregierung in unserem Land. Wir teilen die Ansicht, dass wir keinen geltungssüchtigen Machthaber mehr wollen.“

Der öffentliche Diskurs verweiblichte den Protest umgehend und die Wahlkampagne der „drei Grazien“ strotzte von weißer, unschuldiger Symbolik. Die belarusische Presse bezeichnete die vereinten „Grazien“ als „Mädchen“. Gleichzeitig wurde die Teilnahme der Frauen an den Wahlen für „ihre“ Männer mit der Teilnahme von Frauen am Zweiten Weltkrieg verglichen. So sagte der Analyst Siarhiej Čaly am 18. August im Interview mit tut.by: „Die Hälfte der männlichen Bevölkerung ist im Großen Vaterländischen Krieg umgekommen, und die Frauen mussten ihre Plätze einnehmen. Das ist ein Archetyp, gegen den keine Argumentation ankommt. Diese Ereignisse in Belarus werden als erste feministische Revolution in die Geschichte eingehen. Wohlgemerkt, Feminismus im normalen Sinne dieses Wortes.“

Weder patriarchale Mythen noch geschlechtsspezifische Vorurteile, die in Belarus nach wie vor zum gesellschaftlichen Konsens gehören, kamen ins Wanken. Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa kämpften im Gegenteil, wie auch Tacciana Karatkievič fünf Jahre zuvor, zugunsten von Männern, die aus verschiedenen Gründen nicht am politischen Wettkampf teilnehmen konnten. Die weißgekleideten Frauen mit Blumen, die barfuß und friedlich Wiegenlieder sangen, Sicherheitskräfte umarmten oder vor ihnen niederknieten – sie waren die zentrale visuelle Begleitung der Anti-Lukaschenko-Kampagne 2020. Das „weibliche Gesicht“ des Protests ist vor allem ein medialer Effekt. Kaum einen Medienvertreter interessiert die Analyse des Wahlkampfes und der Proteste jenseits der konkreten Ereignisse, also die Diskussion über die Probleme der Beteiligung von Frauen an der Politik und die Genderdebatte im Land. Vermutlich, weil diese Aspekte auch den Wahlkampfstab nicht sonderlich interessieren. Denn es gibt nur ein Ziel: den Machtwechsel und eine Wiederholung der Wahlen unter fairen Bedingungen mit alternativen Kandidaten – den Ehemännern und Beratern.

Wie auch die alte Opposition bleibt die neue eine Geisel der Macht, und das Genderthema bleibt eine Geisel der Opposition und der Frauen, die „ihren“ Männern helfen, deren politischen Ambitionen zu verwirklichen. Frauen, die sich selbst für heteropatriarchale Werte opfern und diese für gut befinden, betrügen nicht nur sich selbst, sondern alle Frauen. Lukaschenko transportiert natürlich genau dieselben Wertvorstellungen, wenn er sich als den einzigen „harten Kerl“ geriert, der die Last des Verfassungsgaranten zu schultern in der Lage sei.

Dazu sollte man wissen, dass bereits 2001 eine Frau als starke Gegenkandidatin zu Alexander Lukaschenko gehandelt wurde: Natallia Mašerava, damals Abgeordnete in der Nationalversammlung, Tochter des ehemaligen Vorsitzenden des ZK der Kommunistischen Partei der BSSR Piotr Mašeraŭ. Ihr wurden Chancen auf den zweiten Wahlgang prognostiziert, sie zog ihre Kandidatur jedoch noch während der Unterschriftensammlung für die Zulassung zurück. Ihren Rückzug begründete sie mit der Haltung der Gesellschaft: „Ich bin für einen dritten Weg der Entwicklung unseres Landes bei den Wahlen angetreten und wollte als unabhängige Kandidatin Voraussetzungen für Wahlen schaffen, die nicht auf dem Widerstandsprinzip, sondern im Zeichen der Konsolidierung unserer Gesellschaft stehen. Es zeigte sich aber, dass unsere Gesellschaft dafür noch nicht bereit ist.“ Der Druck, den politische Spekulationen ausübten, war zu groß: „Ich sage offen, dass ohne meine Beteiligung eine Reihe von Szenarien entwickelt wurden, die mit mir überhaupt nichts zu tun haben. Ich möchte nicht in einem Zoo leben und bin weder ein ‚Lockvogel‘, noch ein ‚trojanisches Pferd‘ und auch kein ‚Igelchen im Nebel‘.“

Seit Mašeravas Versuch sind 20 Jahre ins Land gegangen. Diese Geschichte, wie auch viele andere, ist in Vergessenheit geraten. Bis heute fehlen den Aktivistinnen, abgesehen vom Streben nach symbolischen Führungspositionen und der Teilnahme an Wahlen, klare Vorstellungen über ihre eigenen Ziele.

Dennoch erschien am 21. August 2020 auf dem Cover der Wochenausgabe des britischen Guardian die stilisierte Abbildung einer Belarusin, die eine weiße Rose in der Hand hält und den Blick fest nach oben richtet – als Symbol für den friedlichen Protest in Belarus. Die offensichtliche Heroisierung in der visuellen Darstellung wird durch den Titel noch verstärkt: „Flower Power: The women driving Belarus’s movement for change“. Die belarusische Künstlerin Darja Sazanovič, die selbst an den Aktionen in Minsk teilgenommen hatte, stellte in ihrer eigenen Darstellung der Proteste die weiße Rose anders dar: Die Rose hat ihre Farbe fast verloren, von der Hand, die den dornigen Stiel hält, tropft Blut. Die Künstlerin interpretiert ihr Werk folgendermaßen: „An einem Tag der Kundgebungen war ich mit einer solchen weißen Rose unterwegs. Nach mehreren Aktionen in der Stadt war sie immer kürzer und schäbiger geworden. Ganz gleich wie ‚schön‘ diese friedlichen Aktionen mit den Blumen tagsüber waren, nachts fiel es mir schwer zu atmen, als all diese beispiellose Gewalt ins Bewusstsein rückte.“

956,63 ₽
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312 стр. 4 иллюстрации
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9783949262005
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