Читать книгу: «BELARUS!», страница 4

Шрифт:

Blumige Frauenproteste als Event

Nachdem in Belarus der Internetzugang wieder funktionierte und die ersten Festgenommenen freigelassen worden waren, füllten sich die sozialen Netzwerke mit Fotos der Gefolterten. Die Viktimisierung der Geschädigten bei gleichzeitiger Abwesenheit funktionierender rechtlicher Mechanismen zur Feststellung und Untersuchung des Geschehenen vereinte sich organisch mit vereinfachten, psychologisierten Erklärungen der Brutalität der Sicherheitskräfte („Zombiefizierung“) oder dem Erstaunen angesichts der Grausamkeit, die der belarusischen Mentalität fremd sei. Es gab genügend Beweise für Brutalität, um das Regime und Lukaschenko persönlich zu delegitimieren, allerdings zu wenige, um die Ursprünge und Folgen dieser Willkürakte vollständig zu erfassen.

An dieser Stelle möchte ich ein Interview mit einer Eventmanagerin erwähnen, die kurzzeitig aus Moskau nach Minsk zurückgekehrt war, da ihre „emotionale Verfassung sie zum Handeln gezwungen hatte“ und sie ihrem Heimatland helfen wollte. Inzwischen ist ihr Text „Wie die Frauenproteste in Belarus konzipiert wurden: ‚Ich verstand die Opposition als Kunden, die Menschen als Teilnehmende‘“ aus Sicherheitsgründen aus dem Internet entfernt worden (für die Organisation unerlaubter Aktionen drohen in Belarus Haftstrafen). In diesem Text war zu lesen: „Ich glaube an die weibliche Kraft, besonders wenn die Einheit auf Taten beruht, auf einem großen und hehren Ziel. Es wäre auch eine Sünde gewesen, die patriarchalische Haltung in den Köpfen der belarusischen Sicherheitsbeamten nicht auszunutzen.“

Die Eventmanagerin glaubte daran, dass es ungefährlich sei, Aktionen ausschließlich mit Frauen durchzuführen. Die Berichterstattung in Guardian (inklusive Coverbild), New York Times und BBC über „unsere Frauen in Weiß“ schien ein „richtiger Akzent“ zu sein. Doch die Eroberung der Schlagzeilen ist kein politischer Sieg. Mehr noch, die Frauen wurden zielgerichtet „vereint“, um die Opposition zu motivieren und Hoffnung zu generieren, wobei „die Opposition“ der Kunde war. Die Idee, mit Genderstereotypen und -rollen zu spielen, bildete die Grundlage für die Wiegenlied-Performance auf dem Siegesplatz: Frauen in weißen Kleidern, barfuß, mit Blumen, schön und lächelnd singen ein Wiegenlied, „schläfern das Regime ein“. Ein solches Heldinnen-Opfer-Pathos, besonders auf der Ebene von Massenaktionen, trägt wohl kaum zur Stärkung frauenspezifischer Inhalte bei, zumal sich die Ressource der Solidarisierung anschließend nur schwer in eine eigene Erzählung ummünzen lässt. Das Problem ist eine fehlende längerfristige Selbstorganisation, da die Förderung der Selbstorganisation von Frauen bislang gar nicht das Ziel war. Wichtig war ausschließlich, die „Teilnahme an den Aktionen zu erhöhen“, nachdem es massenhaft Festnahmen gegeben hatte.

Es ist wichtig zu bemerken, dass am 12. August auch spontane Frauenmenschenketten an verschiedenen Orten in Minsk und in den Regionen auftauchten. Auch dort gab es viel Verzweiflung ohne konkretes Marketingkonzept à la „Schönheit wird die Welt retten!“ Dieser Protest war von Beginn an ungesteuert. Eine solche Spontaneität hat ihre starken und schwachen Seiten. Und die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass ein spontaner Protest auch zermürbend sein kann.

Die Frage jedoch, welche Möglichkeiten Frauen im modernen Belarus haben, ihre eigenen Ziele und Geschichten zu erarbeiten, sie kundzutun und beim politischen Übergang zur ersehnten demokratischen Transformation als selbständige Subjekte in Erscheinung zu treten, bleibt unbeantwortet. Und es ist unklar, wie lange offen sexistische Projekte gesellschaftlich noch anerkannt bleiben werden, wie zum Beispiel Plakate in der Minsker Metro mit Texten wie „Belarusische Mädels – ihr seid unsere Blumen des Sieges“. Die Mädels werden nie als politische Subjekte anerkannt, solange sie für jemanden „Blumen“ darstellen. Komplimente solcher Art an die „weiblichen Gesichter“ der belarusischen Revolution unterscheiden sich in keiner Weise von den Aussagen des amtierenden Präsidenten. Schon seit vielen Jahren wird den Frauen die immer gleiche Botschaft vermittelt: „Ihr seid unsere Kraft und unser Mut, unser Glück und unser Seelenfrieden, unsere Freude und Inspiration.“ Mansplaining ist in Belarus weit verbreitet, und dieser herablassende Kommunikationsstil drückt die bestehende Asymmetrie aus, die den Männern Vorrang und Führungsrolle zuschreibt.

„Das schönste Gesicht von Belarus“

In Belarus wird seit 2004 ein landesweiter Schönheitswettbewerb vom Kultusministerium, dem Bildungsministerium und anderen staatlichen Institutionen durchgeführt. Die „Schönheit der belarusischen Frauen“ stellt eine besonders wertvolle „Errungenschaft“ des Landes dar, die dem staatlichen und männlichen Schutz untersteht. Nur staatlich autorisierte Strukturen dürfen die Schönheiten auswählen, da die Mädchen perspektivisch für den Auftritt „zu Ehren von Belarus“ vorbereitet werden. Der organisatorische Ansatz der Schönheitswettbewerbe korreliert mit der Quotierung der Sitze im Parlament: „Die präzise Organisation eines Schönheitswettbewerbs ist gewissermaßen staatliche Frauenpolitik im Kleinformat. Es geht ganz wesentlich darum, Bedingungen für unsere lieben Damen zu schaffen, damit sie sich vollumfänglich in ihrem eigenen Land verwirklichen können. Und da das so ist, ist auch der Wunsch des Präsidenten kein Zufall, unter den Parlamentsabgeordneten nicht weniger als 30 – 40 Prozent Frauen sehen zu wollen“, hieß es in Belarus segodnja am 25. 09. 2004. Wenn es nach Lukaschenko geht, gehen Frauen ihrer Berufung, die Welt schöner zu machen, sowohl in der Familie als auch im Parlament nach.

Paradox an der belarusischen Situation ist die Tatsache, dass 2019 in der Nationalversammlung der Republik Belarus (Parlament und Rat der Republik) 40 Prozent Frauen vertreten waren, während der globale Durchschnitt bei 24,5 Prozent Frauenanteil in nationalen Parlamenten liegt. Die internationale Gemeinschaft schätzt diese Leistung von Belarus im Bereich der Gleichstellung hoch ein. Ingibjörg Solrun Gisladottir, Leiterin des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der OSZE, unterstrich im Februar 2020 die Bereitschaft von Belarus, die Prinzipien der Menschenrechtshoheit zu sichern. Im Land wurden drei mit EU-Mitteln finanzierte Foren zum Thema „Frauen in der Führung“ organisiert.

Die Teilnehmerinnen berichteten von Hindernissen, die Frauen auf dem Weg zur politischen Teilhabe auf lokaler Ebene zu überwinden hätten: „Frauen sind oft konfrontiert mit beleidigenden Bemerkungen und Versuchen, ihre Führungsfähigkeiten zu untergraben“, ist im Bericht zur Veranstaltung zu lesen. Der belarusische Präsident machte im Vorfeld der aktuellen Wahlen eine solche herabwürdigende Aussage nicht auf lokaler, sondern auf nationaler Ebene: „Selbst für einen Mann ist es schwer, diese Last zu tragen. Würde man sie einer Frau übertragen, würde sie zusammenbrechen, die Arme“. Lukaschenko benannte als zentrale Funktionen der Frauen auf der Ebene der Exekutive „verschönern“ und „die Männer disziplinieren“. So erklärte er im September 2019: „Ein Drittel der Parlamentsabgeordneten sind Frauen – das ist ein stabiles Parlament. Die Männer machen keinen Quatsch, die springen und laufen nicht herum – weil es ihnen vor den Frauen peinlich wäre.“

„Ihre Sache“: Die Besonderheiten des belarusischen Arbeitsmarktes

In gewissem Sinne ist es von Vorteil, in Belarus Frau zu sein. Umfragen zufolge sind Frauen gebildeter und glücklicher als Männer. Auch das Beschäftigungsniveau der Frauen liegt höher als bei den Männern, allerdings hat sich das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen in den letzten 9 Jahren auf fast 30 Prozent erhöht. Zu Beginn des Jahres 2020 lag der Frauenanteil der in der Produktion Beschäftigten bei 37,6 Prozent. Im Dienstleistungssektor (Kultur, Bildung, Gesundheitswesen, Verbraucherdienstleistungen, Personentransport) steht es umgekehrt: 68,2 Prozent Frauen und 31,8 Prozent Männer.

Einerseits stellt der hohe Beschäftigungsgrad der Frauen am belarusischen Arbeitsmarkt – 84 Prozent der Frauen im arbeitsfähigen Alter arbeiten – eine Verdienstmöglichkeit dar. Andererseits ist der Lohnunterschied mit einer horizontalen und vertikalen Geschlechtertrennung verbunden, die auch die Daten von Belstat bestätigen. Im horizontalen Schnitt wird „männliche“ Beschäftigung (Industrie) normalerweise höher bezahlt als „weibliche“. Schaut man sich die Vertikale an, ist die Übermacht der Männer in den höheren Etagen der Führung und Verwaltung auch in den „weiblichen“ Sektoren, zum Beispiel dem Gesundheitswesen, offensichtlich.

Diese Situation in Belarus führt dazu, dass auch die größtmögliche Beschäftigung den Frauen kein wirtschaftliches Wohlergehen garantiert und auch keine Arbeitnehmerinnensicherheit gewährleistet ist. In Krisenzeiten, wenn die „Effizienz des Staatshaushaltes erhöht“ werden muss, fallen Frauen Kürzungen als Erste zum Opfer.

In Belarus sind Frauen 182 Berufe aus 42 Arbeitsbereichen gesetzlich verboten, da die schädlichen Einflüsse der Produktionsumgebung ein Risiko für die Reproduktionsgesundheit der Frau haben können. Der stellvertretende Minister für Arbeit und Soziales Aliaksandr Rumak sagt, „die Beibehaltung dieser Liste trägt der staatlichen Priorität für den Gesundheitsschutz der Beschäftigten Rechnung, vor allem der weiblichen, vor dem Hintergrund der demografischen Situation.“

Doch der Staat sollte die Interessen aller Bürger ohne Ausnahme schützen, nicht nur die der Frauen, als hätten diese ein „anfälligeres“ Reproduktionssystem. Warum sorgt sich der Staat nicht um die Reproduktionsgesundheit der Männer? Die Lebenserwartung der Männer liegt in Belarus 10 Jahre unter derjenigen der Frauen.

Im Moment wird das EU-Projekt „Employment and vocational training in Belarus“ durchgeführt, in dem Angebote der Berufsbildung und die Anforderungen des Arbeitsmarktes besser aufeinander abgestimmt werden sollen. Im Rahmen dieses Projektes wurde die Fotoausstellung „Ihre Sache“ initiiert, die zwölf Porträts von Frauen zeigt und die dazugehörigen Geschichten erzählt, wie sie Försterinnen, Fräserinnen, Elektrikerinnen, Schweißerinnen usw. wurden. Interessant ist, dass ein Teil der Berufe in der Ausstellung auf der oben erwähnten Liste der verbotenen Berufe stehen. Das Paradox besteht darin, dass die Belarusin eine Ausbildung in diesen Berufen machen kann, jedoch später nur eine Anstellung bekommen kann, falls Fachkräftemangel herrscht und der Arbeitgeber eine spezielle Zertifizierung durchläuft. Alternativ kann eine Frau sich auch als Unternehmen oder Selbständige registrieren und damit die Liste umgehen.

Am 9. Oktober wurde auf der Sitzung des Nationalrats für Genderpolitik beim Ministerrat der Republik Belarus das Handlungskonzept zur Geschlechtergleichstellung für 2021 – 2025 besprochen. Im Anschluss teilte die Ministerin für Arbeit und Soziales, Iryna Kascievič, mit, dass die Liste der für Frauen nicht zugelassenen Berufe möglicherweise abgeschafft wird.

Zwiespältige Gedanken zum Muttertag

In Belarus wird der Mutterschaft eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteil. Seit 1996 wird auf Erlass des Präsidenten am 14. Oktober der Muttertag begangen. Die Geburt eines Kindes stellt die Frau nicht selten vor eine Vielzahl von Problemen. Ihr sozialer Status und die Besitzverhältnisse verschlechtern sich, sie ist physisch und moralisch Belastungen ausgesetzt, über die öffentlich ungern gesprochen wird. Aufgrund ihrer „Biologie“ werden Frauen zu Empfängerinnen von Sozialleistungen und staatlichen Hilfen.

Mit der Priorisierung der Mutterrolle wird auch eine universelle Strafmaßnahme für Frauen begründet, deren Verhalten die Machthaber stört. Bekanntheit erlangte der Fall der Ehefrau des prominenten Oppositionspolitikers Andrej Sannikaŭ, Iryna Chalip, der nach ihrer Teilnahme an den Kundgebungen nach den Wahlen 2010 das Sorgerecht aberkannt werden sollte. Und das ist nicht das einzige Beispiel für die Instrumentalisierung des Muttermotivs für politische Überwachung und Unterdrückung. 2020 begannen diese Fälle massenhaft aufzutreten.

Ein Beispiel des Kindesentzugs bei einer Mutter, die die pünktliche Zahlung ihres Lohns einforderte, deutet auf die konsequente Einteilung von Frauen in „richtige“ und „falsche“ Mütter hin. In der Rechtfertigung zum Kindesentzug wurden in diesem Fall die Erziehung der Frau in einem Kinderheim, das niedrige Bildungsniveau und das Fehlen eines ständigen Lebenspartners angeführt, Schlüsselargument war jedoch ihr Ungehorsam gegenüber den staatlichen Behörden. Bemerkenswert ist, dass hier, wie auch in anderen Fällen, allein die Medien für die Frau eintraten.

Erst kürzlich gründete sich die ehrenamtliche Initiative „Mama am Rande“, die Mütter in Situationen unterstützt, in denen die staatlichen Sozialdienste „den Eindruck haben“, dass die Kinder sich in einer sozial gefährdeten Situation befinden.

Bezeichnenderweise wurde zum Muttertag 2020 in der Öffentlichkeit nicht diskutiert, inwieweit Frauen und Mütter im medizinischen Bereich über Ressourcen, Schutzausrüstung und würdige Arbeitsbedingungen verfügen. Stattdessen ging es darum, dass die Belarusinnen erst im Alter von knapp 27 Jahren heiraten und das erste Kind so spät bekommen, weshalb „Fachleute anstreben, die demografische Situation umzukehren.“

Solidarisch gegen Diskriminierung und Gewalt

Die staatliche Politik gegenüber Frauen zeichnet sich in Belarus durch eine äußerst geringe Sensibilität für ihre Bedürfnisse aus. Die Inkonsequenz der verfolgten Gleichstellungspolitik deutet darauf hin, dass die Behörden nicht in der Lage sind, eine Politik zu entwickeln, die die Gleichstellung von Männern und Frauen mit der Aufgabe der Steigerung der Geburtenrate, des aktiven Alterns und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbindet. Dementsprechend ist die Kluft zwischen normativem (Geschlechterverhältnis), offiziellem (Familienpolitik) und alltäglichem „Vertrag“ (Praxis der Verteilung sozialer Rollen) im Bereich der Interaktion zwischen Familie, Gesellschaft und Staat sehr groß.

Einerseits zielt die staatliche Politik darauf ab, die maximale Beschäftigung von Frauen zu fördern, andererseits dominieren traditionelle Vorstellungen über den Platz von Frauen in der Gesellschaft, was mit einer geringen Anerkennung der Berufstätigkeit von Frauen einhergeht.

Der Staat preist die Frau als Mutter, als Arbeitnehmerin, als Objekt sexueller Attraktivität als strategische Ressource des Landes, was zusammen mit einem Frauenanteil von 40 Prozent im Parlament als Bestätigung für das Engagement des Landes für Geschlechtergerechtigkeit, Unabhängigkeit und Demokratie präsentiert wird. Im Grunde geht es jedoch eher um Manipulation und moralische Kontrolle von Frauen durch die Behörden als um die Bereitschaft, auf neue Herausforderungen zu reagieren und gesetzliche Regelungen zu entwickeln, die die sozialen Folgen biologischer Prädispositionen ausgleichen könnten. Die indirekte Diskriminierung von Frauen in Belarus ist ein systemisches Phänomen.

Bis Frauen selbst anfangen, sich gegen konkrete Probleme und das missbräuchliche Verhalten bestimmter Obrigkeiten zu wehren, Strategien zum Schutz ihrer eigenen Interessen zu entwickeln und ihr Recht auf ein würdiges Leben zu verteidigen, werden verschiedene „Experten“ weiterhin versuchen, ihre persönliche Entscheidung „umzukehren“ und das als Akt der Fürsorge darzustellen. Ja, es besteht die Notwendigkeit, die Solidarität der Frauen um die Lösung spezifischer Probleme herum aufzubauen, denn heute gibt es in vielen Bereichen eine offensichtliche Ungleichheit.

Die Verschlechterung der Situation von Frauen steht heute nicht mehr im Fokus der Medien. In den Medien, sowohl Proals auch Anti-Lukaschenko, im In- wie im Ausland, wird vorwiegend der Frauenprotest entweder als unglaubliches Beispiel für weiblichen Aktivismus gezeigt oder als unangemessene Verhaltensmanifestation, die sowohl die belarusischen Männer, die „sich hinter den Frauen verstecken“, wie auch die Frauen selbst diskreditiert. Die Kultivierung von Symbolen der Reinheit (Weißheit) und Schönheit (Blumen) als integraler Bestandteile der neuen nationalen Symbolik korrespondiert mit der Analogie zwischen politischer Willkür und häuslicher Gewalt.

Das eingangs erwähnte Beispiel, wie die Eventmanagerin und ihre Unterstützerinnen den Frauenprotest als „Marsch der schönen Frauen“ und „Schönheit rettet die Welt“ in Marketingform verpackten, zeigt, wie die Banalität der Heteropatriarchie zu einer Quelle der Unterhaltung wird und wer die endlose Produktion von Sexismus betreibt. Die Frage, wie diese Produktion in den Ruin getrieben werden kann, bleibt offen. Bisher hört niemand wirklich zu, was die Aktivistinnen konkret zu sagen haben und wie sie ihr Wissen generieren – über sich selbst und für sich selbst, während der Aktionen, ohne ihre eigenen Rechte zu verteidigen.

Die Produktion von Wissen über unsere Rechte als Frauen ist ohne Solidarität unmöglich, weil auch das Nichtwissen bedeutsam ist, die bewusste Verweigerung, Zugang zu Wissen zu erlangen, das uns ein Verständnis darüber geben könnte, warum wir nicht die Kontrolle über unser Leben haben. Dieses Wissen – generiert aus der schmerzlichen Erkenntnis der Konsequenzen von Unwissenheit – entsteht im kollektiven Handeln: Wenn Frauen ihre Probleme anpacken und eine Gender-Agenda entwickeln, die nicht der Rechtfertigung ihrer Beteiligung an der Politik dient, sondern die Grundlage für gegenseitige Unterstützung in der Auseinandersetzung mit Gewalt jeglicher Herkunft bildet.

Aus dem Russischen von Tina Wünschmann

DER TRAUMATISCHE WEG ZUM NEUBEGINN

Tatiana Shchyttsova

Moralische Erschütterung und das Ende der Ära des „Gesellschaftsvertrages“

In der belarusischen Gesellschaft wurde der Prozess eines grundlegenden moralischen Wandels eingeleitet. Darin sind auch diejenigen involviert, die sich den Protesten noch immer nicht angeschlossen haben. Sie leben ja trotzdem in Belarus, sie gehen mit denjenigen zu Arbeit, die protestieren, sie sehen, was auf den Straßen vor sich geht. Das autoritäre belarusische Regime hielt sehr lange am sogenannten „Gesellschaftsvertrag“ fest: Der Staat sorgte für das notwendige Mindestmaß an sozialer und wirtschaftlicher Stabilität, und die Bürger schalteten sich im Gegenzug nicht ins politische Leben ein. Nach einer sehr kurzen Zeit der postsowjetischen Demokratisierung, die 1996 mit der Verabschiedung einer Verfassungsänderung endete, passten sich die belarusischen Bürger irgendwie an die für beide Seiten vorteilhaften Bedingungen der autoritären Herrschaft an. Für die Staatsmacht war eine der vorteilhaften Bedingungen, dass die Bürger „stillschweigend“ die Lösung aller Probleme bei der Führung des Landes an sie zurück delegierte. Damit vertat die Zivilgesellschaft für viele Jahre die Chance, eine Rolle als politisches Subjekt zu spielen. Zum charakteristischen Merkmal dieser Zeit wurde die soziale Apathie. Der moralische Wandel, den ich oben erwähnte, ist nun mit einem heftigen und sehr traumatischen Ausstieg aus diesem Zustand der Apathie verbunden. Wir alle waren schockiert über das, was zwischen dem 9. und 12. August 2020 passierte. Nach diesen Ereignissen ist eine Rückkehr zum „Gesellschaftsvertrag“ nicht mehr möglich.

Das, was nach den Wahlen geschah, bewerte ich als rechtliche und menschliche Katastrophe.

Natürlich wird manch einer sagen, dass auch früher schon Menschen festgenommen und zusammengeschlagen wurden. Aber der Punkt ist, dass die meisten unserer Bürger ihre Einstellung zu dem, was in unserem Land vor sich geht, seither radikal verändert haben. Man kann lange über etwas Bescheid wissen: Ja, es gibt die Opposition, ja, man kann lesen, dass jemand verhaftet wurde und man kann das, weiter auf Distanz bleibend, überhaupt nicht auf sich selbst beziehen und sich nicht persönlich betroffen fühlen. Man mischt sich nicht in die gesellschaftspolitische Agenda ein, solange das, was die Staatsmacht tut, keine kollektive Erschütterung nach sich zieht. Und hier war natürlich von großer Bedeutung, dass die ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen des Regimes sehr zügig aufgedeckt wurden.

Zuerst hören wir, dass etwa 80 Prozent der Wähler für Lukaschenko sind, und vor diesem Hintergrund erfahren wir bereits am Morgen des 10. August, dass jemand zusammengeschlagen oder verhaftet wurde, und dann stürzen Informationen über die ungeheuerlichen Gewaltattacken, über Schikanen und Opfer auf uns ein: Das ist wie bei schweren Prellungen des ganzen Körpers – die Gesellschaft ist traumatisiert und betäubt. Sie können sich an ein lautes Geräusch gewöhnen, doch wenn die Lautstärke dauerhaft derart hoch ist, platzt irgendwann das Trommelfell. So ist es auch mit der Psyche und mit unserem moralischen Selbstbewusstsein. Man funktioniert nach dem Prinzip des Gesellschaftsvertrags, geht zur Arbeit, bekommt seinen gerade so existenzsichernden Lohn und verdient irgendwo und irgendwie etwas zum Überleben dazu. Das Land existierte in einem Zustand des stabilen Überlebens, aber dann kommt es zu einer Katastrophe, und das Land explodiert, die Grenzen der Geduld sind erreicht. Dieser beispiellose Ausbruch an Empörung in der Bevölkerung ist darauf zurückzuführen, dass es zu einer rechtlichen und gleichzeitig zu einer menschlichen Katastrophe kam, dass also diese beiden Momente einander überlagerten. Einerseits haben wir es mit dem vollständigen Zusammenbruch der Rechtsstaatlichkeit im Land und mit der Aufdeckung der absoluten Illegitimität der Macht zu tun. Andererseits sind wir mit der katastrophalen, empörenden Verletzung der Menschenrechte konfrontiert, mit der Missachtung des menschlichen Lebens, der menschlichen Würde und der menschlichen Freiheit. Die gemeinsame Empörung angesichts der dreisten Gesetzesverstöße und der unmenschlichen Brutalität hat die Menschen zusammengebracht. Unser Protest beruht also auf einem Gerechtigkeitsempfinden und auf menschlichem Mitgefühl. Deshalb hat unser Kampf gegen das Regime nicht nur einen politischen, sondern zudem einen klar artikulierten moralischen und ethischen Charakter. Wir sagen, dass wir empört sind, und das bedeutet, dass wir von den Menschenrechten (von Gerechtigkeit, vom Wert des menschlichen Lebens, von der Achtung der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit) ausgehen und diese als Grundprinzipien für das Leben in unserer Gesellschaft etablieren wollen. Dies ist die moralische Grundlage des Protests, die wir alle miteinander teilen, dies ist die Grundlage der politischen Einheit.

956,63 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
312 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783949262005
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
176