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CORONA, SELBSTORGANISATION UND POLITISIERUNG

Olga Dryndova

Seit dem Wahltag am 9. August 2020 erlebt Belarus eine politische Krise in einem Ausmaß, das das Land seit seiner Unabhängigkeit 1991 nicht gesehen hat. Noch zu Beginn des Jahres bestand kaum ein Zweifel daran, dass Präsident Alexander Lukaschenko für eine sechste Amtszeit „wiedergewählt“ werden würde. Eine breite und rasche Politisierung der Belarus*innen vor den Wahlen, gefolgt von den größten politischen Protesten in der Geschichte des Landes, überraschte Expert*innen, Politiker*innen und Belarus*innen selbst. Die öffentliche Unzufriedenheit kam jedoch nicht aus heiterem Himmel. Zur Revolution hat eine Reihe von langfristigen Gründen und kurzfristigen Auslösern geführt.

Eine schrittweise Politisierung der breiten Gesellschaft in den letzten Jahren wurde durch die anhaltende Pandemie und die unangemessene Reaktion des Staates darauf beschleunigt, was zu einer zunehmenden Selbstorganisation geführt hat. So wurden Solidarität, Selbstorganisation und Politisierung zu den drei Schlüsselwörtern des belarusischen Frühlings und Sommers im Jahr 2020.

Solidarität und Selbstorganisation

Belarus wurde Anfang 2020 für seine „Corona-Dissidenz“ plötzlich weltbekannt: Fußball- und Eishockeymeisterschaften der Profis wurden nicht ausgesetzt, die Staatsgrenzen blieben offen, eine Militärparade sowie ein landesweiter Subbotnik, also breit aufgezogene Arbeitseinsätze, fanden statt wie eh und je. Präsident Lukaschenko nannte das Coronavirus eine „Psychose“; seine Empfehlungen, gegen Covid-19 mit Wodka, Sauna, Eishockey oder Feldarbeit vorzugehen, sorgten weltweit für Schlagzeilen.

Die inkohärente und unzureichende Informationspolitik des Präsidenten, des Gesundheitsministeriums sowie der staatlichen Medien in der Pandemie führten sofort zur Kritik von nichtstaatlichen Medien, Unternehmen, Opposition, Expertenkreisen und überhaupt einem beträchtlichen Teil der Gesellschaft. Es wurde deutlich, die Belarus*innen glaubten nicht an die Fähigkeit des Staates, die Epidemie zu bekämpfen, sie initiierten selbst die sogenannte „Volksquarantäne“. Menschen arbeiteten nach Möglichkeit von zu Hause, beschränkten ihre sozialen Kontakte und machten die anderen auf das Virus aufmerksam. Petitionen für die Einführung einer Quarantäne wurden initiiert, während Fans führender Fußballvereine die Spiele boykottierten. Medizinisches Personal veröffentlichte selbsterstellte Informationsvideos im Internet.

Eine der wohl größten Spendenaktionen in der belarusischen Geschichte – Bycovid19 – versorgte Krankenhäuser mit der notwendigen Ausrüstung, die dank Privat- und Firmenspenden gekauft wurde (250.000 US-Dollar wurden in den ersten eineinhalb Monaten gesammelt). Die Kampagne vereinte Privatpersonen, zivilgesellschaftliche Gruppen, Unternehmen, die Gesundheits- und Außenministerien und sogar die belarusische Diaspora. Diese einzigartige Solidaritätswelle wurde später in die Wahlkampagne „übertragen“. Als ein Notarzt, der die Covid-19-Maßnahmen des Staates kritisierte, entlassen wurde, sammelten Belarus*innen innerhalb von 24 Stunden seinen Jahreslohn (etwa 5.400 US-Dollar) über Crowdfunding. Nach den Wahlen engagierten sich Freiwillige für neue Spendeninitiativen – dieses Mal für Opfer von Polizeigewalt und weiterer Repressionen sowie für Menschen, denen gekündigt wurde, weil sie zur Unterstützung von Protesten in den Streik getreten waren oder aus Protest selbst gekündigt hatten. In nur wenigen Tagen wurden für solche Zwecke online über zwei Millionen US-Dollar gesammelt.

Witz und Ironie wurden zu einem wichtigen Bestandteil der Solidarität und des Widerstands. Als Reaktion auf die Aussagen des Präsidenten über Corona-Opfer („Warum läufst du durch die Straßen, wenn du morgen 80 Jahre alt wirst?“), starteten Belarus*innen einen Flashmob mit dem Titel „Letztes Wort des Präsidenten“ – sie veröffentlichten im Namen des Präsidenten Nachrufe für sich selbst, als wären sie an Covid-19 gestorben.

„Sascha 3%“ wurde zum bekanntesten Slogan gegen Lukaschenko in diesem Frühling und Sommer (Sascha als Kurzform von „Alexander“). So reagierte die Gesellschaft, einschließlich einiger Unternehmen, auf das Verbot von inoffiziellen Online-Umfragen; die hatten ergeben, dass die Unterstützung für den Präsidenten zwischen drei und sechs Prozent lag. Wahrscheinlich spiegelten diese Zahlen die Realität nicht ganz wider – anderen Erhebungen staatlicher Soziologen zufolge lag das Vertrauensniveau gegenüber dem Präsidenten in Minsk im April bei 24 Prozent. Dennoch zerstörte der 3%-Slogan die Idee ungebrochener Legitimität des Präsidenten und zeigte die Respektlosigkeit eines erheblichen Teils der Gesellschaft ihm gegenüber. Ein weiteres Beispiel ist ein Slogan des Bloggers Sergej Tichanowski „Stop Kakerlake!“. Er wurde spontan aus einer emotionalen Rede einer Bürgerin übernommen, die den Präsidenten mit einem Insekt verglich – dieses Video kam schnell auf über eine Million Aufrufe auf Youtube.

Die belarusische Gesellschaft war für ihre paternalistische Einstellung bekannt, also auch für die Erwartung, dass der Staat eine wichtige Rolle in der Wirtschaft und im sozialen Leben übernimmt. Die rasche Zunahme von Formen der Selbstorganisation zeigt ein anderes Bild: Jüngste Umfragen bestätigen, dass bereits über 60 Prozent der Belarus*innen paternalistischen Formen nicht mehr viel abgewinnen können, während eine Mehrheit in Fragen des Welfare, der Bildung, Gesundheitsversorgung und Beschäftigung dazu tendiert, eher auf sich selbst zu vertrauen.

Der Grad der Selbstorganisation war allerdings noch im Jahr 2017 sehr gering: Nur fünf Prozent der Bürger*innen brachten einer Umfrage des Zentrums CET zufolge Erfahrung mit informellen Aktionen und Initiativen mit. Umso mehr überrascht die beispiellose Selbstorganisation der Belarus*innen vor und nach den Wahlen von 2020. Die Solidaritätswelle im Frühjahr schenkte den Menschen offenbar eine Erfahrung von „kleinen Siegen“, die ihr Vertrauen in sich und andere stärkte.

Der Niedergang des Paternalismus im Land geht mit einem geringen Vertrauen in die Behörden einher. Laut einer Umfrage von 2017 – 2018 (durch das Projekt BIPART der School of Young Managers in Public Administration) vertrauten nur etwa 40 Prozent der Menschen der Regierung, nur 34 Prozent den Ministerien und 33 Prozent den lokalen Behörden, während über 64 Prozent Politiker*innen und Beamt*innen generell nicht vertrauten. Aber auch das allgemeine Vertrauensniveau in der Gesellschaft war 2018 noch recht gering – nur leicht über die Hälfte der Befragten zeigten Vertrauen gegenüber den eigenen Mitbürger*innen. Das Jahr 2020 hat das wesentlich verändert.

Auch in anderen postsowjetischen Autokratien haben fehlende wirksame staatliche Maßnahmen gegen die Pandemie zur Aktivierung von Bürgergruppen geführt. In Belarus haben diese Entwicklungen allerdings den Wahlprozess erheblich beeinflusst – diese „ausgeübte“ Solidarität und das neue Vertrauen zu Mitbürger*innen trugen ohne Zweifel zur gegenwärtigen Politisierungswelle in der belarusischen Gesellschaft bei.

Politisierung der Gesellschaft

Die während der Pandemie wachsende Politisierung breiter Bevölkerungsschichten wurde mit der Wahlkampagne ab Mai intensiviert. Man konnte plötzlich einen Aktivitätsschub bei den Bürger*innen beobachten, und die Wahlkampagne wurde überraschend sowohl für Belarus*innen als auch für internationale Betrachter zu einer Art „Reality-Show“.

Eine Rekordzahl von 55 Initiativgruppen reichte Anträge ein, um Kandidat*innen für die Präsidentschaftswahl zu nominieren. Der frühere Chef der Belgazprombank, Viktor Babariko, konnte in nur einer Woche fast 9.000 Freiwillige für seine Initiativgruppe online rekrutieren. Zum Vergleich: Präsident Lukaschenko konnte mit seinen enormen Ressourcen rund 11.000 Personen registrieren. In einem Monat (21. Mai – 19. Juni) waren landesweit über 127.000 Menschen an der Sammlung von Unterschriften für potenzielle Kandidat*innen beteiligt; ein großer Teil davon, wenn nicht die Mehrheit, war vorher nie politisch aktiv gewesen.

Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Altersgruppen standen landesweit in endlosen Warteschlangen, um ihre Unterschriften für alternative Kandidat*innen abzugeben. So kam die damals unbekannte Swetlana Tichanowskaja, die an Stelle ihres verhafteten Mannes, des bekannten Youtube-Bloggers Sergej Tichanowski kandidieren wollte, auf über 100.000 Unterschriften. Viele wussten nicht einmal, wie sie hieß oder wo sie arbeitete – Menschen unterzeichneten aus Solidarität und aus Protest gegen Lukaschenko.

Aus diesen Warteschlangen wurden nach der Inhaftierung von Viktor Babariko, dem bis dahin wichtigsten Konkurrenten für Lukaschenko, die spontanen Solidaritätsketten von Menschen im ganzen Land. Als am 15. Juli keiner der populären Alternativkandidaten für die Wahlen registriert wurde, rief das Wahlteam von Babariko Belarus*innen dazu auf, Beschwerden bei der Zentralen Wahlkommission einzureichen – am nächsten Tag bildete sich vor dem Gebäude der Wahlkommission in Minsk eine mehrere Kilometer lange Schlange. Es wurden über 5.000 Beschwerden eingereicht – ein für Belarus einzigartiger Grad politischer Aktivität.

Das spontan und aus Not gebildete, aber sofort populär gewordene „Frauentrio“ Tichanowskaja, Kolesnikowa und Zepkalo besuchte innerhalb von drei Wochen 13 Städte und zog bei ihren Kundgebungen in den Regionen bis zu fünf Prozent der Bevölkerung an – eine unerhörte Zahl für die traditionell passiven belarusischen Wähler*innen. In Minsk fand am 30. Juli die größte Wahlkundgebung in der belarusischen Geschichte statt, die von 60.000 bis 70.000 Menschen besucht wurde. Die drei Frauen wurden wie Rockstars behandelt: Menschen fragten sie nach Autogrammen und Bildern, zeichneten Gemälde mit ihnen, trugen Kleidung mit den Triosymbolen und sangen mit ihnen die Oppositionshymne Mury (Mauern).

Auch zur Wahlbeobachtung wurden Belarus*innen mobilisiert wie nie zuvor: In den ersten fünf Tagen nach der Ankündigung der Wahlbeobachtungsinitiative des Teams Babariko bewarben sich rund 5.000 Menschen, und bis zu den Wahlen stieg diese Zahl auf fast 10.000. Dazu kamen Kampagnen der Menschenrechtsorganisationen. So kam es letztendlich zu den schon zur „Tradition“ gewordenen Warteschlangen auch am Wahltag – sowohl in Belarus als auch im Ausland vor den Botschaften. Eine derart hohe Wahlbeteiligung hatte Belarus noch nie erlebt.

Damit sind Solidaritätsketten und Warteschlangen in gewisser Weise zum Symbol der Präsidentschaftswahlen 2020 geworden. Und diese Tradition fand auch nach den Wahlen eine Art Fortsetzung: Frauen, Studierende, Ärzte, einfache Bürger*innen sammelten sich in Solidaritätsketten gegen staatliche Gewalt, während sich Schlangen von Käufer*innen vor Geschäften bildeten, die in der einen oder anderen Form Solidarität mit der Protestbewegung zeigten – so wollten die Belarus*innen sie zumindest finanziell unterstützen.

Auflösung des „Gesellschaftsvertrags“

Die Legitimität von Lukaschenko beruhte über viele Jahre auf einem sogenannten „Gesellschaftsvertrag“: Der Staat sorgte für relativ stabilen Wohlstand und für Sicherheit (geringe Kriminalität und keine kriegerischen Konflikte), während die meisten Belarus*innen politisch inaktiv bleiben und den Status quo unterstützen sollten. Um diesen ungeschriebenen Vertrag stand es allerdings bereits seit mehreren Jahren schlecht und schlechter.

Bereits 2017 kam es zu landesweiten Protesten gegen eine jährliche „Sozialparasitensteuer“. Die neue Steuer war so hoch wie ein durchschnittlicher Monatslohn und sollte für Bürger*innen gelten, die in den letzten sechs Monaten nicht gearbeitet hatten und daher keine Einkommenssteuer entrichteten. Ein weiteres Beispiel: In Brest, einem der regionalen Zentren des Landes, versammelten sich seit über zweieinhalb Jahren jeden Sonntag Menschen in der Innenstadt, um gegen eine neue, offenkundig gesundheitsschädliche Batteriefabrik in der Nähe der Stadt zu protestieren. Die Dauer dieser Proteste ist für Belarus beispiellos. Umfragen haben gezeigt, dass der Anteil der Anhänger*innen von Lukaschenko unter Rentner*innen, Landbevölkerung und „normalen“ Bürger*innen von 68 Prozent im Jahr 2006 auf 32 Prozent im Jahr 2016 gesunken war, eine Halbierung innerhalb von zehn Jahren. Die Pandemie beschleunigte schließlich die Auflösung des „Gesellschaftsvertrags“.

Wirtschaftliches Wohlergehen

Die Covid-19-Pandemie hat die Volkswirtschaften weltweit getroffen, Belarus ist hier keine Ausnahme. Im April 2020 prognostizierte der Internationale Währungsfonds für Belarus einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um 6 Prozent für das laufende Jahr; im Jahr 2019 lag das Wachstum noch bei 1,2 Prozent. Online-Umfragen bestätigten, dass sich die Wohlstandswahrnehmung der Belarus*innen im Frühjahr erheblich verschlechterte. Nach einer Untersuchung der Institute SATIO / BEROC verzeichneten 45 Prozent der Befragten im März und 52 Prozent im April einen Einkommensrückgang, während fast die Hälfte der Befragten in naher Zukunft einen starken wirtschaftlichen Einbruch erwartete. Innerhalb eines Monats verdoppelte sich der Anteil der Menschen, die Angst vor Arbeitslosigkeit äußerten, von 20 Prozent im März auf 40 Prozent im April. Jeder fünfte Befragte kannte jemanden, der den Job bereits verloren hatte. Insgesamt wuchs der Anteil der Belarus*innen, die ihre Wirtschaftssituation als schlecht einschätzten, von 38 Prozent Ende 2019 auf 61 Prozent im März 2020 – der größte Anstieg in 20 Jahren.

Corona und die Arroganz des Präsidenten

Trotzdem hätten wirtschaftliche Faktoren allein kaum ausgereicht, um diese neue Welle der Politisierung auszulösen. Die Belarus*innen sind es gewohnt, unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen zu leben. Die miserable Kommunikation des Staates während der Pandemie trug wesentlich zur Politisierung der Bevölkerung bei.

Informationen des Gesundheitsministeriums wurden der Öffentlichkeit nicht regelmäßig zugänglich gemacht, stimmten nicht immer mit den Zahlen des Präsidenten überein und wurden oft in eher arrogantem Ton verbreitet. Auf Anfragen nach Informationen über die Anzahl der Pandemieopfer beim medizinischen Personal etwa reagierten zuständige Beamt*innen mit der Frage: „Und wozu brauchen Sie diese Statistiken?“

Die größte Kluft zwischen Staat und Bevölkerung wurde jedoch womöglich vom Präsidenten selbst verursacht, der während der Pandemie einen markanten Mangel an menschlichem Einfühlungsvermögen und eine überraschende Arroganz an den Tag legte. Seine aggressive Sprache ließ nur wenige soziale Gruppen aus. Sie traf Corona-Opfer („Wie kann man mit einem Gewicht von 135 Kg leben?“), medizinisches Personal (das es nicht geschafft hätte, eine Selbstinfektion zu vermeiden), Arbeitslose („Haben Sie einen Job verloren? Finde Sie einen neuen!“), Unternehmer („Niemand wird für Euch Geld aus Hubschraubern abwerfen!“).

Umfragen bestätigten die hohe Unzufriedenheit der Belarus*innen. Laut einer internationalen Erhebung vom März / April bewerteten 86 Prozent der Befragten die Reaktion ihrer Regierung auf Covid-19 als äußerst unzureichend. Das war das zweitschlechteste Ergebnis von 58 beteiligten Staaten nach der Türkei. Auch das Vertrauen der Bevölkerung in offizielle Informationen zu Covid-19 im März / April war im Vergleich zu anderen Staaten sehr gering. Die Lage wurde öffentlich sogar mit der verantwortungslosen Informationspolitik der sowjetischen Behörden nach der Explosion von Tschernobyl 1986 verglichen. Die Zeit hat gezeigt, dass die Sorgen der Belarus*innen nicht unbegründet waren. Obwohl die offiziell von den Behörden genannten Corona-Sterblichkeitsraten in Belarus weltweit zu den niedrigsten gehören, starben nach Daten der Vereinten Nationen allein im Zeitraum April bis Juni im Land etwa 5.600 Menschen mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres (offiziell sind in Belarus insgesamt nur 937 Menschen wegen Corona verstorben; Stand: 21. Oktober 2020).

Die „neue Opposition“ und ihre Botschaften

Die neuen Gesichter in der belarusischen Politik scheinen zur richtigen Zeit und am richtigen Ort aufgetaucht zu sein. Keine der neuen Figuren stammt aus der traditionellen Parteiopposition, die in Belarus weder bekannt noch beliebt ist. Noch dazu konzentrierten sie sich auf ganz unterschiedliche soziale Gruppen und konnten dadurch eine hohe Zahl unzufriedener Menschen erreichen.

Die beiden nicht zugelassenen Kandidaten, der Ex-Chef der Belgazprombank, Viktor Babariko, und der Ex-Leiter des Belarus Hi-Tech Parks, Valeri Zepkalo, zielten auf eine eher gemäßigte Wählerschaft. Ihre Zielgruppe war vermutlich oft besser ausgebildet, verfügte über internationale Erfahrung und war mit aktuellen Entwicklungen im Land nicht zufrieden, strebte nach liberalen Reformen und hatte Lukaschenko und sein ineffizientes Staatssystem einfach satt.

Youtube-Blogger Sergej Tichanowski adressierte eine radikalere Anhängerschaft. Diese Menschen lebten hauptsächlich in den Regionen außerhalb der Hauptstadt, waren ärmer, konnten keinen guten Job finden, waren es müde, es ständig mit der Unverschämtheit der lokalen Behörden zu tun zu haben, und sie waren wütend auf Lukaschenko persönlich, nicht zuletzt wegen dessen Rhetorik während der Pandemie. Diese unterschiedlichen sozialen Gruppen hatten im Alltag nicht unbedingt viel miteinander zu tun, aber ihr Streben nach Veränderung und ihre Opposition gegen den Präsidenten fand unter dem Motto zusammen: „Jede*r außer einem“.

Dieses Motto erwies sich als ausgesprochen gelungen, als Swetlana Tichanowskaja mit dem spontanen „Frauentrio“ nur drei Wochen vor den Wahlen plötzlich zur nationalen Heldin wurde. Die drei Frauen standen nun für drei populäre männliche Figuren, nachdem diese nicht zur Wahl zugelassen wurden: Swetlana Tichanowskaja anstelle von Sergej Tichanowski, Veronika Zepkalo anstelle von Valeri Zepkalo und Maria Kolesnikowa anstelle von Viktor Babariko. Durch die Vereinigung der drei Teams holten die Frauen ein Maximum aus ihrer Wahlkampagne heraus, indem sie die Zielgruppen aller drei Kandidaten erreichten.

Die Macht der Online-Medien

Online-Medien wie Youtube und andere soziale Medien (insbesondere der Instant Messenger Telegram) spielten eine wichtige Rolle bei der jüngsten Politisierung der belarusischen Gesellschaft. Der Anteil der Menschen, die Informationen aus alternativen Online-Quellen erhielten, stieg von 24 Prozent im Jahr 2010 auf 60 Prozent im Jahr 2018. Gleichzeitig sank das Vertrauen in die staatlichen Medien (vor allem das Fernsehen) bereits seit Jahren. Soziale Netzwerke waren 2019 für fast 28 Prozent der Befragten eine regelmäßige Quelle für Nachrichten. Diese Zahl wuchs wahrscheinlich direkt vor den Präsidentschaftswahlen noch, da schnell entstehende nationale, lokale und Nachbarschafts-Telegramkanäle zu wichtigen Plattformen für Informationsaustausch und politische Selbstorganisation wurden. Überhaupt steigt die Zahl der Online-Medien-Nutzer*innen weiter an und belief sich 2019 auf mehr als 79 Prozent der Bevölkerung – damit lag Belarus weit über dem weltweiten Durchschnitt von 53 Prozent.

Auf diese Tendenzen ging der Blogger Tichanowski ein. Er nutzte Youtube, um die Interessen der „einfachen“ Menschen aus der belarusischen Provinz bekannt zu machen. Er reiste durch das Land, traf die Menschen persönlich, filmte ihre Beschwerden und veröffentlichte das auf seinem Youtube-Kanal. Seit der Gründung im März 2019 gewann sein staatskritischer Kanal „Ein Land zum Leben“ innerhalb von einem Jahr über 200.000 Abonnent*innen, und das populärste Video (das mit der Kakerlake) wurde von über einer Million Menschen gesehen.

Eine Pact-Umfrage aus dem Jahr 2018 zeigt, dass 80 Prozent der Belarus*innen nicht glaubten, Einfluss auf die Entscheidungen der nationalen und lokalen Behörden zu haben. Mit einem Blogger bekamen die Leute plötzlich das Gefühl, eine Stimme zu haben. Eine weitere Umfrage vom 2019 ergab, dass ein Mangel an Informationen einer der Hauptgründe für die politische Passivität der Belarus*innen war. Auch diesen Mangel hat der Blogger erfolgreich adressiert.

Letztendlich scheinen die stundenlangen Live-Streams während der Unterschriftensammlungen und Solidaritätsketten vor den Wahlen, die von nichtstaatlichen Medien übertragen wurden, sowie Interviews mit Menschen, die in Warteschlangen warteten, um „gegen Lukaschenko“ zu unterschreiben, eine wichtige Rolle bei der Stärkung des Mehrheitsgefühls gespielt zu haben. Dank der Online-Medien hatten viele Belarus*innen womöglich zum ersten Mal das Gefühl, einer breiteren Bewegung bzw. einer Mehrheit anzugehören. Die Angst vor politischen Aktivitäten ist damit maßgeblich zurückgegangen.

956,63 ₽
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9783949262005
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