Читать книгу: «The Racing Flower Pilgrim», страница 4

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Den restlichen Abend verbringen alle Mitpilger des Orisson auf der Terrasse. Der Regen hat aufgehört. Im Gespräch mit Alex und Inga, mit David und Sara und mit anderen neuen Bekanntschaften merkt man kaum, wie die Zeit vergeht. Gegen 22:00 Uhr liegen ich und auch alle Mitpilger dann doch mal im Bett. Unter mir schnarcht Gerald, der Australier. Sonderbare Geräusche entströmen seinem Mund. Ich hoffe, er übersteht die Nacht.

Heute lief ich insgesamt neun Kilometer und habe gemerkt: Man ist auf dem Camino nur genau so lange alleine, wie man es sein muss.

28.08.2019 06:00 Uhr

Ich wüsste spontan nicht, wann ich das letzte Mal freiwillig so früh aufgestanden bin. Der Anreisetag zählt nicht. Ätsch.

Als erster Schläfer meines Zimmers erhebe ich mich und verkrümel mich ins Bad. Ich bin der einzige Anwesende, der das tut. Ich bin es aus der Heimat gewohnt zu duschen, wenn mein Tag beginnt. Am Camino ist das allerdings totaler Käse. Wird mir eben jetzt erst bewusst. Egal, auf in die Dusche. Mein erster Kontakt dieses Tages ist eine putzige, dicke Kröte, die sich in die Herrendusche verirrt hat. Ich bemerke sie zu spät und dusche sie deswegen schön mit, bevor ich ihr helfe, die Freiheit wieder zu erlangen. In der kurzen, durch eine Duschmarke begrenzten Zeit, wasche ich unter der Brause gleich meine Klamotten der gestrigen Anreise mit. Falls sie jemand möchte. Nach dem Anziehen hänge ich alles auf die Wäscheständer draußen vor die Herberge. Vielleicht passt es jemandem. Und müffelt nicht mehr so sehr.

Langsam kommt Schwung in die Bude. Aus allen Winkeln strömen die Übernachtungspilger in die Bäder, Toiletten und zu ihren Schuhen. Geduscht wird nicht, die Kröte und ich waren wirklich die einzigen Sauberkeitsfanatiker. Ich hoffe, es gibt am Nachmittag dann wieder warmes Wasser, liebe Mitpilger. Die Kröte brauchte sehr viel davon.

Das Panorama gegenüber der Aussichtsterrasse ist noch vernebelt, aber man kann schon einen ganz kleinen Funken der Sonne erahnen, die sich hinter den Pyrenäen hinaufquält. Es verspricht ein toller Tag zu werden. Vor dem Restaurantbereich treffe ich schon die ersten Wartenden. Ab 07:00 Uhr gibt es Frühstück. Wenn man es so nennen mag. Baguette, Marmelade und Butter. Kaffee aus riesigen Suppentassen. Total verwirrend. Ich bin kein sehr anspruchsvoller Mensch, aber diese durchsichtige Plörre würde ich nicht mal meinem schlimmsten Feind anbieten. Na ja. Ist wenigstens inklusive.

Weder Sara und Marion, noch meine drei Lieblingsamis des gestrigen Abends lassen sich während meines Frühstücks blicken. Erst als ich fertig bin, treffe ich sie draußen. Sara und Marion machen alles sehr langsam und gemütlich. David, Kelly und Heidi sind nur am Quatschen und sich untereinander nicht einig, wann, wie und ob sie überhaupt loslaufen wollen. Von meinen bisherigen Gesprächspartnern sind einzig Alex und Inga schon draußen, rauchen und sind abmarschbereit. Ein Großteil der Gäste von gestern Abend ist bereits losgezogen und auf dem Weg in die immer weiter ansteigenden Pyrenäen. Mich beschleicht das Gefühl, dass ich spät dran bin. Ich bin gespannt, welcher Rhythmus sich einspielt und für mich am meisten Sinn ergibt. Ich verabschiede mich vorerst von Sara und Marion, die noch später dran sind und gerade erst anfangen zu frühstücken. Man sieht sich ja wieder.

Zusammen mit dem großen Alex und der kleinen Inga breche ich gegen 07:45 Uhr auf, während die Sonne ihren Kampf gegen die Berghänge und den Nebel gewonnen hat. Ich warne Alex und Inga schon mal vor, dass ich bergauf meist ziemlich schnell bin. Das leerte mich schon der Rennsteig vor der heimatlichen Haustür. Spielt keine große Rolle, jeder muss sowieso sein eigenes Tempo finden und laufen. Man ist letztendlich für sich unterwegs. Für sich, aber dennoch unter Menschen. Klingt komisch, ist aber so.

Auf geht’s. Weiter hinauf in die Pyrenäen. Das steilste Stück liegt aber bereits hinter mir. Dank der kurzen Etappe gestern. Nach wenigen hundert Metern bin ich schon in meinem Bergtempo angekommen und ziehe los. Das Laufen macht unheimlich Spaß. Sanft, aber stetig steigt der Camino an und schraubt sich an den Berghängen nach oben. Das Wetter könnte nicht besser sein und die Aussicht ist bombastisch. Ich laufe über den Wolken. In manchen Tälern unter mir hängen sie fest, aber hier oben ist es sonnenklar. Man fühlt sich, als ob man von oben in ein Aquarium schaut. Schafe, Rinder und Pferde grasen selbst auf den höchsten Gipfeln oder stehen einfach mitten auf dem Weg. Obacht vor austretenden Hufen.

Auf dem ersten Teilstück vor der Passhöhe des höchsten Camino-Punktes in den Pyrenäen überhole ich nach und nach alle Orisson-Gäste, die vor mir losliefen. Ich komme mir gar nicht so schnell vor wie sonst, scheine es aber definitiv zu sein. Keine Ahnung. Ist halt einfach mein Schritt.

Mitten im Gebirge am Wegesrand steht auf einmal ein kleiner Imbisswagen mit einem kleinen, alten, putzigen Franzosen darin. Hier stoppe ich und treffe eine weitere Dame, die auch die Nacht im Orisson verbrachte. Hanne aus Bodenmais. Wir kaufen Bananen und Getränke und laufen dann eine Weile im selben Tempo. Folglich kommen wir schnell ins Gespräch. Hanne, eigentlich Hannelore, erzählt aus ihrem Leben. Sie trägt auf jeden Fall kein einfaches Schicksal mit sich herum, aber strahlt über jeden Meter, da sie sich endlich diesen lange gehegten Traum erfüllen kann und auf dem Camino unterwegs ist. Kommt mir bekannt vor.

Ohne es richtig zu registrieren, passieren wir die Grenze zu Spanien und zur autonomen Region Navarra. Einen Stein mit einer Grenz-Aufschrift haben wir nirgends gesehen. Das war es also schon mit Frankreich. An der legendären Rolandsquelle, die das einzige erkennbare Indiz für den Grenzübertritt nach Spanien ist, füllen wir unsere Wasserflaschen auf und sind einfach nur froh, hier zu sein. Roland war das damals bestimmt nicht so sehr.

Auf dem letzten, richtig steilen Stück vor der Passhöhe juckt es mich wieder in den Füßen und ich ziehe das Stück Weg konsequent durch. Ja, da vorne, da muss er bald sein. Der Lepoeder-Pass. Höher geht es ja auch nicht mehr. Mittlerweile, obwohl oder gerade weil ich so hoch bin, brutzelt mir die Sonne ordentlich auf den Bürzel. Das ruft nach dem ersten Einsatz meines großen Schweißtuches. Mütze ab, Tuch auf den Schädel… Ah, tut das gut.

Kurz darauf stehe ich auf dem Lepoeder-Pass und habe klare Sicht in alle Richtungen. Über 1300 Meter bin ich hoch. Die Pyrenäen sind geknackt. Rucksack ab und durchatmen. Unter mir liegt das Tal von Roncesvalles, dem ersten spanischen Ort auf dem Weg. Ganz klein sieht man auch schon die mächtige Klosteranlage des Dorfs. Dahinter in der Ferne erblicke ich ebenfalls schon den Ort Espinal, mein grob angedachtes Etappenziel für heute. Auch wenn ich eigentlich nicht wirklich plane, aber eine ganz geringe Orientierung für das Tagesziel, anhand Opas Etappen von damals, ist schon hilfreich. Schließlich bringt einem der beste Ort nichts, wenn er keine Betten hat.

Kurz nach mir kommt Hanne zusammen mit Maria aus München auf der Passhöhe an. Auch sie war gestern Abend Gast im Orisson. Zusammen genießen wir Bananen, Wasser und Aussicht. Mit den Worten: „Sag mal, hast du einen Berg-Fetisch? Du bist ja hochwärts fast gerannt“, begrüßen mich Alex und Inga schwitzend und schnaufend. Keine Ahnung. Vielleicht hab ich den. So ein geiler Berg hat aber auch was an sich. Dieses Trüppchen versteht sich sehr gut und so beschließen wir, vorerst zusammen zu bleiben. Gemeinsam sinnieren wir ein wenig über das heutige Ziel. Bis zum Kloster Roncesvalles ist es nicht mehr sehr weit und es geht nur bergab. Gegen Mittag müssten wir dort sein. Nee, zu früh. Hunderte von Pilgern im Kloster zur Übernachtung. Nee, zu viel. Mein Vorschlag, bis Espinal zu gehen, erscheint auch den Mitpilgern am verlockendsten.

Zu fünft setzen wir den Weg fort, hinab ins Tal. Inga, Alex, Hanne, Maria und ich. Nicht alle nebeneinander, aber doch nie weit voneinander entfernt. Die Klosteranlage unter uns kommt immer näher, während wir im Sonnenschein bergab durch das bunte Heidekraut marschieren. Die Vegetation der hohen Pyrenäen ist für sich schon das ein oder andere Bild wert. Fast am Fuß der Berge angekommen, führt uns der Camino in ein kühles Wäldchen und eine kleine Bachaue. So idyllisch, dass ich tanzende Feen und Faune erwarte. Eine hervorragende Abwechslung nach der prallen Sonne.

Kurz vor Roncesvalles müssen wir Platz machen. Eine große Herde Pferde samt Treiber nimmt den an dieser Stelle ohnehin schon schmalen Camino komplett in Anspruch. Ein paar leckere Äpfel schmettern sie uns auch noch direkt vor die Füße. Muchas gracias. Der Vorschlag, in Roncesvalles statt Übernachtung wenigstens eine schöne lange Pause zu machen, wird von der Gruppe dankbar angenommen. Allerdings weist Alex den vorgeschlagenen Kaffee wie folgt ab: „Guck mal auf die Uhr. Da können wir auch gleich Bier trinken.“ Klasse Typ. Ich mag ihn schon jetzt.

Die Mittagszeit ist kaum vorüber, als wir endgültig vor den wuchtigen Klostermauern des Augustinerklosters Roncesvalles stehen. Ein wahrhaft mächtiger Bau. Hätte auch eine gute Burg abgegeben. Der Camino führt direkt durch den Innenhof, sodass wir uns im Vorbeigehen einen Stempel des ehrwürdigen Hauses abholen können. Der zweite Stempel in meinem geheiligten Pilgerpass. Noch schwingt bei jedem neuen Stempel ein wenig Stolz mit. Durch den Torbogen gelangen wir wieder nach draußen und steuern direkt auf die örtliche Bar zu, deren Antlitz sich uns vor dem Kloster in ganzer Pracht offenbart. Der Durst treibt uns. Es ist ziemlich heiß geworden. Ein großer Tisch unter Sonnenschirmen ist noch frei, also Rucksack ab, Bier holen und einfach nur sitzen. Einfach schön.

Lucy, die Engländerin aus dem Orisson, gesellt sich auch zu uns. Hübsche Erscheinung. Sie läuft den Camino unter anderem, weil sie Wein liebt. Kein Witz. So lautete ihre Aussage gestern Abend. Da, wo ich zwei Wasserflaschen deponiert habe, befinden sich an Lucys Rucksack seitlich immer zwei Flaschen ihres Lieblingsgetränkes Rotwein. Auch eine Idee. Mir wäre es zu schwer.

Als Lucy weiterzieht, setzt sich Karin aus Hamburg zu uns. Sie kommt gerade mit dem Bus aus Pamplona und startet genau hier ihren Camino. Auch eine Möglichkeit. Karin ist auf jeden Fall die planloseste Person, die ich bisher kennenlernte. Sie weiß nicht mal, wie der Ort heißt, in dem sie sich gerade befindet. Irgendwie cool. Da ihr unsere Truppe auf Anhieb sympathisch erscheint, fragt sie höflich, ob sie sich uns anschließen kann. Alle verneinen das und jagen sie mit Knüppeln davon. Wir hassen andere Menschen. Was für ein Quatsch, natürlich darf sie das.

Kurz bevor wir starten, sehe ich hinter der Bar zwei bekannte Gestalten aus einem Seitenweg kommen und zügig weitermarschieren. Unverkennbar Marion. Sieht man am Laufstil. Unverkennbar Sara. Weil eben einfach Sara. Wir alle versuchen zu rufen, aber sie sind bereits um die nächste Ecke verschwunden. Sara erzählte mir gestern, dass sie die wenigen Etappen bis Pamplona aufgrund von Marions Hüftproblemen schon komplett geplant und gebucht hat. Die Ortsnamen ihrer Reservierungen sagten mir alle absolut gar nichts. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich werde sie nicht wiedersehen.

Genug Pause gemacht, zu sechst geht es weiter. Kurzer Fotostopp an einem Schild mit der Aufschrift Santiago 790 km. Geht ja noch. Ebenerdig verläuft der Weg neben der Straße durch einen schattigen Wald, der mich an den Rennsteig erinnert. Doch lange bleibt es nicht so. Kurz vor Burguete stoßen wir wieder auf die Hauptstraße und laufen weiter in der prallen, baskischen Nachmittagssonne. Es ist mittlerweile richtig, richtig heiß. Ich sende einen stillen Dank an meine Freundin, Kollegin und Testwanderpartnerin, die mir das große Tuch schenkte, welches ich heute Vormittag zum ersten Mal trug und das ich nun wieder aufsetze. Der perfekte Sonnenschutz und Schweißfänger.

Alex und ich suchen im Dörfchen Burguete nach Zigaretten, aber der einzige Laden des Ortes hat natürlich gerade Siesta. No problemo, Spanien fetzt. Ich wollte ja eh weniger rauchen. Dann geht es eben erstmal weiter. Burguete ist ein wunderschönes, kleines, typisch baskisches Dörfchen. Weiße Häuschen, überall Blumenschmuck und allgemein sehr viel Grün. Und aufgrund der Siesta vollkommen ausgestorben. Aber das macht es irgendwie noch schöner.

Vor lauter Dahinschwelgen übersehe ich fast den gelben Pfeil, der nach rechts zeigt und mich innerhalb weniger Minuten wieder in die blanke Landschaft und in die glühende Sonne katapultiert. Im Gleichschritt mit Alex geht es über kleine Bäche, vorbei an Kühen mitten auf dem Weg, einen bewaldeten Hügel steil und knackig nach oben, an dem ich den keuchenden Alex verliere und wieder hinab, während mich die ersten Häuser von Espinal bereits aus der Ferne zu sich winken. Ist gut so. Für heute reicht es.

Am Ortseingang lasse ich mich an einem schattigen Brunnen nieder und warte auf die kurz danach eintreffenden Alex, Inga, Maria und Hanne. Karin ist verschollen. Kommt schon noch. Wir freuen uns, den Ort erreicht zu haben und nicht mehr weiter durch die Sonne laufen zu müssen. Also geht es nur noch ein kleines Stückchen weiter ins Dorf hinein, auf der Jagd nach Betten für die heutige Nacht.

An einer sehr modernen und für die Gegend absolut untypischen Kirche biegt der Camino nach rechts ab. Der Wegweiser für die beiden Herbergen Espinals weist uns aber nach links. Na dann, auf gut Glück. Wir gehen einige hundert Meter die auch hier wie leergefegte Straße entlang, vorbei an der kleinsten Tankstelle, die ich je sah, und stehen verschwitzt, aber glücklich vor der Herberge Haizea. Das ist Baskisch. Keine Ahnung, was das heißt. Eine lustige Sprache. An einem Müllcontainer gegenüber der Unterkunft steht die Aufschrift: „Bidausiko Birziklapen Etxola“. Wir finden dank einer App heraus, dass das nichts anderes heißt als Recycling-Hütte. Wirklich eine famos lustige Sprache, dieses Baskisch. Selbst die besten Linguisten der Welt zermartern sich die Köpfe über diesen Ausnahmefall.

Wir pfeffern unsere Rucksäcke unter das Vordach der Herberge und fragen im Inneren vorsichtig nach sechs freien Betten. Erleichtert erhalten wir ein Nicken des Wirtes, zahlen zehn Euro pro Bett und bekommen einen Stempel in unsere Pilgerausweise. Inga rennt kurz darauf zurück zur Kreuzung an der Kirche und sammelt Nachzüglerin Karin ein. Alles funktioniert fast zu perfekt. Ich hoffe, es ist nicht nur Anfängerglück. Der Wirt erklärt uns die Lage unseres Schlafsaals. Erreichbar mit Fahrstuhl. Jetzt wird es gruselig. Das ist schon fast zu viel Luxus. Wie sagte dereinst der alte Ritter zu Indiana Jones? „Eure Wahl war weise“.

Wir sind sehr glücklich über diese tolle Herberge. 13 Betten sind in unserem Zimmer, teils Doppelstock, teils einzeln. Manche sind schon durch Handtücher von Phantompilgern markiert, aber noch herrschen genug Auswahlmöglichkeiten. Ich kann sogar eins der unteren Betten für mich beanspruchen. Zwei große Badezimmer gibt es noch dazu, einen riesigen Aufenthaltsbereich mit großer Terrasse als Sahnehäubchen obendrein. Astrein.

Ganz kurz sortieren, sammeln und duschen. Alex und ich können sogar Zigaretten auftreiben, nachdem wir im Ort suchten, nichts fanden und danach mehrfach an unserem hauseigenen Zigarettenautomaten vorbeiliefen. Zu viel Luxus macht blind. Später entscheiden wir, uns für vier Euro einen gemeinsamen Waschmaschinen- und Trocknerdurchgang für unsere Wäsche zu gönnen. Guter Deal. Aber jetzt reicht‘s, das wird langsam zu viel des Guten. Ich werde sonst innerhalb der ersten Tage zu sehr verwöhnt.

Umgezogen, geduscht und frisch gezapft machen wir es uns mit alkoholischen Kaltgetränken im Schatten vor der Herberge gemütlich und verschwatzen einfach den restlichen Nachmittag. Zwischen Alex, Inga und mir herrscht eine schöne, sofortige Verbundenheit.

Die beiden sind verheiratet, ungefähr in meinem Alter und unsere Erfahrungen überschneiden sich in vielen Bereichen. Wir reden über Privates, über Wohnorte an der Ostsee und im Thüringer Wald, über das Leben ganz allgemein und nicht selten lachen wir uns gegenseitig die Taschen voll. Inga lief schon vor sieben Jahren den ganzen Camino Francés mit ihrer Mutter, war mit Alex schon auf dem portugiesischen Camino und dem Camino del Norte unterwegs. Ein beeindruckender Erfahrungsschatz.

Eine Anekdote jagt die nächste, bevor wir uns recht widerwillig gegen Abend mit vielen anderen Gästen zum Pilgermenü treffen. Widerwillig, weil ich eigentlich nicht schon wieder drei Gänge, geschweige denn Rotwein, brauche. Alex und Inga auch nicht. Aber na ja. Ausnahmsweise. Einfach aus Mangel an Alternativen.

An unserer Pilgertafel sitzt natürlich auch mal wieder Lucy. Ich bin gespannt, ob der inkludierte Wein für sie ausreichen wird. Ich spekuliere über die Gänge des bevorstehenden Menüs, aber Inga winkt gleich ab. „Pass auf, zu 90 Prozent wird es wie folgt ausfallen: Der erste Gang besteht aus Nudeln oder Salat. Der Hauptgang besteht aus Pommes mit irgendwelchen dünnen Schnitzeln, egal welche Sorte Fleisch, und danach gibt es einen Becher Joghurt oder ein Eis am Stiel. So ist das fast immer.“ Recht hat sie. Nudeln, Schnitzel, Pommes, Eis.

Da er sowieso auf dem Tisch steht, vergreifen wir uns auch an dem Wein, welcher in Kombination mit dem nachmittäglichen Bier eine Welle der Heiterkeit aus uns herauskitzelt. Das besagte Eis am Stiel überlasse ich Hanne, schnappe mir mit Alex noch ein Bier für die Terrasse und lasse den Abend gemütlich ausklingen. Ein Versuch, auf meiner verzogenen Ukulele zu spielen, scheitert an Alex‘ musikalisch verwöhntem Ohr. Oh Mann, wird echt Zeit für ein neues Instrument.

Später im Zimmer registrieren wir erstmals all unsere Schlafgefährten, die Phantompilger des Nachmittags. Zwei französische Paare, ein Kanadier, ein Italiener und natürlich ist auch Wein-Lucy in unserem Schlafsaal.

Sie zieht sehr viel Aufmerksamkeit des männlichen Anteils im Zimmer auf sich. Man merkt aber auch, dass sie genau das will. Jetzt im Moment wird der Kanadier von ihr bezirzt. Scheint schon ganz hingerissen zu sein.

Ich gönne euch jede Liebelei, macht nur. Ich hab ja meine Oropax.

Ich legte heute 25 Kilometer zurück und stellte fest: Auch in einem Grüppchen ist man genau so oft alleine, wie man es sein muss.

29.08.2019 06:15 Uhr

Titel dieser Nacht: „Karin hält die Welt in Atem“.

Beziehungsweise die Herberge Haizea. Vielleicht auch nur mich. Ich habe Oropax im Ohr, aber ihre Lautstärke beim Schnarchen in dem Bett direkt neben mir ist schon eine Nummer für sich. Gestern Abend tönte sie, dass sie immer ganz, ganz früh loslaufen will. Noch im Licht der Sterne. Nun ist sie die einzige Person im Raum, die überhaupt noch liegt. Alex, Inga und ich trödeln während des morgendlichen Frischmachens etwas vor uns hin. So sehr, dass in der Zwischenzeit Hanne, Maria und selbst Karin bereits aufbrechen. Plötzlich war sie ganz schnell auf den Beinen. Wir sind ganz entspannt. Im Stockdunkeln loslaufen brauche ich nicht unbedingt.

Nach der Morgenzigarette vor der Herberge machen wir drei Genossen uns gegen 07:05 Uhr dann auch mal ganz langsam auf den Weg in die baskische Morgenfrische Espinals. Um einiges früher als gestern. Mal sehen, was das für einen Unterschied macht. Alles im Ort ist noch still und verschlafen. Selbst die Blumen an den weißen Häuserfronten lassen ihre Köpfe hängen. Hinter Espinal folgt ein sanfter Anstieg im Frühnebel. Schafe und Kühe blöken und muhen uns zu. Auf Baskisch. Verstehen wir leider nicht.

Nach einem finsteren Wald begegne ich auf einer erhöhten Ebene einem finnischen Pärchen. Vom Sehen kenne ich sie schon seit gestern, sie waren auch in unserer Unterkunft im Nachbarzimmer. Sie ist typisch finnisch blass und blond. Er sieht aus wie Ed Sheeran. Ohne Scheiß. Zum Verwechseln ähnlich. Sie stehen beide unter einem riesigen Baum auf der Ebene. Ed kramt eine gewaltige Kamera hervor und versucht, die Nebelschwaden am gegenüberliegenden Hügel zu fotografieren. Leider versäume ich es, ihn zu fragen, wie viel dieses Monstergerät wiegt. Dem Aussehen nach mindestens halb so viel wie mein komplett gepackter Rucksack. Wer’s braucht.

Während die Sonne langsam, aber sicher durch den Nebel bricht, folgen wir dem Camino weiter. Inga, Alex und ich bleiben ganz nah beieinander. Nett ist der Weg zu uns nicht. Es geht hügelig hoch und runter. Das ist nicht schlimm. Aber über unglaublich hartes Pflaster. Anscheinend brandneu gelegt. Das ist schlimm. Es staucht Knie und Oberschenkel extrem zusammen. Wer kam nur auf diese beknackte Idee? Laut Inga war hier früher nur ein schöner, weicher Wald- und Wiesenweg. Warum konnte man das nicht einfach so lassen? War wohl kommunales Geld übrig und musste verpulvert werden.

Aufatmen nach diesem stauchenden Stück Weg können wir erst am Ortseingang von Viscarret. Auf dem Dorfplatz werden wir freudig von Hanne, Maria und Karin begrüßt, die hier in der Bar Juan an ihrem Frühstück arbeiten. Guter Plan, da machen wir mit. Bei der Wirtin, einer niedlichen, alten Baskin, hole ich mir einen Stempel und einen Café con leche ab. Schon ziemlich geil, jede noch so kleine Bar macht einen sensationellen Kaffee mit immer frisch erwärmter und aufgeschäumter Milch. Später hole ich mir davon noch einen zweiten, als Karin mit Maria bereits weiterzieht. Eine tolle Kaffeepause in der noch jungen Morgensonne.

Bei einem kurzen Olivenkaufstopp im örtlichen Mini-Supermarkt treffen wir Ed Sheeran wieder und halten ein kurzes Pläuschchen. Ein kurzes Ständchen im Austausch für ein paar frisch erstandene Oliven lehnt er allerdings ab. Schade. Dann geht es weiter. Wald und Straße wechseln sich ab. Die Sonne nicht. Sie steigert sich nur. Immer weiter. Heute will sie es richtig wissen.

In Lintzoain, einem winzigen Dorf, geht es schlagartig bergauf. Und wie. Aus dem Nichts. Mein Berg-Fetisch packt mich und ich bin im Tunnel. Hinter mir höre ich Hanne noch sagen: „Ah, jetzt kommt wieder das Philipp-Tempo“ und weg bin ich. Der Anstieg hat es echt in sich. Ein steiler Hohlweg voller Geröll. Ich staune selbst, wie schnell ich ihn bewältige. Sacknass geschwitzt, aber sonst topfit. Oben angekommen schnaufe ich ein wenig durch und hole kurz danach Karin wieder ein, die unglaublich gemütlich vor sich hinschlendert. Wenigstens schnarcht sie nicht mehr. Es wirkt fast als meditiere sie die ganze Zeit auf dem Camino. Das ist kein Tempo für mich. Ich ziehe wieder ein bisschen an. Unterwegs bleibe ich sehr oft stehen, denn ich könnte ständig Fotos machen. Meist versuche ich das direkt während des Laufens, aber manchmal funktioniert das nicht. Der Weg führt mich durch einen wunderschönen Wald, die Sonne bricht durch die Bäume. Meiner pflanzlich-biologischen Unkenntnis sei verziehen, aber ich vermute, es sind Pinien und Lärchen. Es riecht jedenfalls herrlich nach Nadelholz. Als säße man in einer Badewanne, prall gefüllt mit hölzernem Schaumbad. Meinen Fotostopps sei Dank, haben mich meine anderen Mitpilger recht zügig wieder eingeholt und fröhlich gelaunt laufen wir weiter. Der Schatten lässt nach, der Wald lichtet sich. Ich brauche mein Kopftuch.

An einem Imbisswagen füllen wir die dringend benötigten Wasservorräte auf. An diesem Stand steht auch die berühmte Kiste, in die man traditionell ein Stück Unterwäsche legt. All das nur in der Hoffnung, dass man auf dem Camino seine große Liebe findet. Bräuche gibt’s. Ich bin momentan nicht auf der Suche nach etwas in dieser Richtung. Mir reicht das Wasser.

Ein kleines Stückchen weiter freue ich mich über den erneuten Wald, aber dann folgt der Hammer des Tages. Ein Lehrpfad. Ein Lehrpfad für Geologie und gestauchte Knochen. Die Lektionen hier heißen: Erleben Sie Plattentektonik in ihrer reinsten Form. Und: Knieschmerzen für Anfänger. Meine Fresse, jetzt geht es richtig los. Ein neuer Hohlweg. Mehr Geröll. Extrem steil und schmal bergab. Man kann es nicht wirklich als Weg bezeichnen. Es ist eher eine Mutprobe. Ich kannte diesen Abstieg hinunter in den Ort Zubiri schon aus Opas Erzählungen, aber jegliche Beschreibung trifft es nicht mal ansatzweise in vollem Ausmaß. Kann doch gar nicht so schlimm sein, wie es erzählt wird. Pustekuchen. Tiefe Felsspalten ziehen sich von allen Seiten unter den Füßen entlang. Mal quer, mal längs. Ein falscher Schritt im falschen Winkel auf den falschen Felsen und der Camino ist beendet. Der Abstieg des Grauens. Echt filmreif. Horror-filmreif.

Inga hat heute wahrscheinlich eine Bergziege gefrühstückt. So wie ich die Berge hochflitze, sprintet sie diesen extremen Weg nach unten. Keine Ahnung, wie sie das macht. Kaum hat der Abstieg richtig begonnen, ist Inga um die nächste Biegung verschwunden. Auch Hanne ist recht zügig unterwegs. Die Mädels reiben uns heute ein kräftiges Ätsch unter die Nase. Alex und ich gehen diese Herausforderung eher artistisch an. Jeder Schritt wird sorgfältig platziert, während wir dabei mit den Armen jonglieren und balancieren. Nur unterbrochen von einem gelegentlichen: „Scheiße, meine Knie.“

Völlig zerschlissen erreichen wir endlich den Ortseingang von Zubiri, der Abstieg ist geschafft. So sehr habe ich meine Knie im Leben noch nie gespürt. Grüßt euch ihr Zwei. Scheiben noch drin? An der Bogenbrücke, die in den Ort führt, sitzt Inga seelenruhig und beinebaumelnd da und grinst, als wäre nichts gewesen. Morgen esse ich auch eine Bergziege.

Wir finden eine schöne Bar mit schattigem Außenbereich und rasten, was das Zeug hält. Sogar Karin stößt wieder zu uns. Diese lange Pause haben wir uns mehr als verdient. Wir beschließen, auch heute wieder zusammen im selben Etappenort, Larrasoaña, zu übernachten. Maria aus München ist schon davongezogen, sie läuft sowieso nur bis nach Pamplona. Aber unser gutes Verständnis untereinander wollen wir, so lange es geht, gemeinsam auskosten. Also nun noch zu fünft. Inga und Alex besorgen Zigaretten und holen Geld, Karin und ich füllen am Brunnen für alle die Wasserflaschen auf und weiter geht’s.

Nach Zubiri folgt ein Hexenkessel. In der unheimlich brutzelnden Mittagssonne geht es in eine Senke hinein, in der sich die Hitze unseres Zentralgestirns mit der Hitze des Industriekomplexes nebenan verbindet. Was dort produziert wird, sieht aus wie Kalk. Ich vermute aber, die produzieren da eben einfach nur Hitze. Blanke Hitze. Ich fühle mich wie ein gekochtes Huhn. Ein nicht sehr leckeres gekochtes Huhn. Ein widerlich salzig verschwitztes, gekochtes Huhn.

Völlig durchnässt erreichen wir eine kleine Kapelle zwischen Illaratz und Eskirotz. Nein, das sind keine Beleidigungen, sondern Dörfer. Baskische Namen sind halt einfach immer zur Belustigung geeignet.

Ich freue mich wie ein gerade aus dem Kochtopf entkommendes Huhn. Ich kenne diese Kapelle aus einer Dokumentation über den Jakobsweg. Ein Südafrikaner namens Neil, der auf seinem Camino vor fast zehn Jahren diesen Ort fand und für immer hierher zurückkehrte, hält das Gebäude in Schuss und richtet es langsam wieder her. Wir finden ein schattiges Plätzchen im Eingangsbereich. Leider ist die Tür geschlossen und niemand ist zu sehen. Ein Stempel der Kapelle liegt zur Selbstbedienung bereit. Schade. Ich hätte Neil gerne getroffen. Wenigstens eine kleine Schattenpause zur Rehydrierung des Körpers. Plötzlich öffnet sich am Garten neben der Kapelle ein Tor. Ein Mann und ein kleines Mädchen kommen heraus. Ja, das ist er. Ich erkenne ihn sofort wieder. Ich rufe ihm zu: „NEEIIIIL.“ Völlig überrascht kommt er zu uns. Ich erzähle ihm, dass ich ihn aus dem deutschen Fernsehen kenne und dass ich weiß, er ist Neil aus Südafrika. Richtig erfreut und grinsend kommt er zu uns und begrüßt uns einzeln mit Handschlag und möchte unsere Namen wissen. Seine kleine Tochter hat einen Einkaufszettel in der Hand, da sie gerade zum Baumarkt nach Pamplona aufbrechen wollten, um ein kleines Stück Kapelle in eine bessere Zukunft zu bringen. Dennoch nimmt sich Neil die Zeit, um uns viele Informationen über seine Arbeit und dieses besondere Gebäude zu erzählen. Wunderschön, informativ und leidenschaftlich. Man spürt, dass Neils ganzes Herz an diesem Ort hängt. Wir sind beeindruckt von seinem Tatendrang, seiner Schaffenskraft, seinem Glauben und Willen, diesen Ort nur durch geringe Spendengelder wieder zum Leben zu erwecken. Lange reden wir mit ihm, bevor seine Tochter ihn daran erinnert, dass sie ja eigentlich noch zu besagtem Baumarkt wollten. Wir bedanken uns, spenden großzügig und Neil verabschiedet uns mit den besten Wünschen auf unseren weiteren Weg. Ein tolles Erlebnis nach diesem anstrengenden Tag.

Nach zwei Kilometern entlang des Rio Arga erreichen wir hitzegeplagt den Eingang des Dorfes Larrasoaña. Unser Ziel für heute. Der Camino weist nach links, der Ort liegt rechts. Als wir abbiegen, kommt uns plötzlich der finnische Ed Sheeran aus dem Dorf heraus entgegen. Allerdings ohne seine hübsche, blonde Freundin, sondern stattdessen mit einem rundlichen, bärtigen Mann an seiner Seite. Auf die Frage, warum er in der Hitze noch weiterläuft und nicht hier im Ort bleibt, sagt er nur: „Alle Bars haben zu.“ Und weg ist er. Mit dem Bärtigen. Dass in Spanien um diese Tageszeit oftmals Siesta herrscht und warum er seine hübsche Freundin gegen einen behaarten, dicken Mann eingetauscht hat, scheint er selbst nicht zu wissen. Der Camino erschafft Mysterien.

Nach einem kleinen Stück durch den Ort kommen wir an der Herberge St. Nicolas an. Diese haben wir uns grob vorgemerkt, dank einer App auf Alex‘ Handy. Muss ich mir auch mal zu Gemüte führen, scheint nützlich zu sein. Fünf Betten sind frei. Wuppi Fluppi. Ein Sechs-Bett-Zimmer haben wir sogar nur für uns. Mal schauen, ob das für uns überflüssige Bett noch belegt wird. Aus Freude über den geglückten Tag bemerkt Alex nicht, dass das Dosenbier am Verkaufsautomaten alkoholfrei ist. Mit großem Genuss trinken wir es trotzdem und schauen einem spielenden Hund im Hof der Herberge zu. Die Tochter der Wirtin findet das nicht so toll, denn der Hund gehört gar nicht der Familie. Er kam vor wenigen Tagen mit einer Pilgerin hier an und seitdem werden sie ihn nicht mehr los. Das ist ein großes Problem am Camino. Viele herrenlose Hunde sind hier unterwegs. Manche davon schließen sich vorbeiziehenden Pilgern an und bleiben bei ihnen. Oder bleiben eben einfach da, wo es ihnen gefällt. Ich habe mittlerweile viele Schilder gesehen. Immer mit der Aufschrift: Lieber Pilger, bitte achte darauf, dass dir keine streunenden Hunde folgen. Ganz vermeiden lässt es sich allerdings leider nicht.

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