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Alle Anreise ist (nicht sehr) schwer.
26.08.2019 05:31 Uhr

Fuck. Ich mach das ja wirklich.

Schlaf war letzte Nacht nicht nur Mangelware, sondern komplett ausverkauft. Jegliche Nachlieferung ausgeschlossen. Niemals wieder. Lieferant unbekannt verzogen. Oder verstorben. Oder verschlafen.

Unaufhaltsam rollt dieses merkwürdige Gefährt namens Zug weiter und weiter weg. Erstmal nach Frankfurt. Vertrautes Gebiet. Im Rhein-Main-Gebiet habe ich schließlich lange genug gelebt. Den ersten heroinspritzenden Junkie im Frankfurter Bahnhofsviertel habe ich schon im zarten Alter von 14 Jahren gesehen. Also alles cool. Danach geht es nach Paris. Ebenfalls vertrautes Gebiet. Bereits 2003 war ich dort, damals mit Opas Auto. Es ist auf jeden Fall eine der schönsten Städte, die ich bisher kenne. Ich freue mich drauf. Danach geht es immer weiter gen Süden.

Ungefähr eine Stunde ist es nun her, dass mein Zug in Eisenach abfuhr. Es war emotional, merkwürdig und irgendwie surreal. Oma und Mama waren auf jeden Fall aufgeregter und nervöser als ich. Opa riss seine üblichen Sprüche und hatte extra sein Jakobsweg-Shirt angezogen. Mit den Bildern, die Oma nur am Bahnhof machte, könnte man schon ein Fotoalbum füllen.

Ich mit Rucksack. Opa und ich mit Rucksack. Opa und Mama und ich mit Rucksack. Rucksack und ich gehen die Treppe zum Bahnsteig hoch. Rucksack und ich stehen am Bahnsteig. Rucksack und ich verabschieden sich. Rucksack fällt aufs Bahngleis und wird von einem anrauschenden ICE zertrümmert. Alle freuen sich, weil ich nun doch nicht so lange weg bin. Friede, Freude, Eiersalat.

Tagtraum. Ich sitze im Zug. Alles prima. Der noch immer namenlose Rucksack liegt über mir in der Gepäckablage und lässt sein Gehänge baumeln. Seine Schnallen und Riemen. Die hängen und baumeln. Schön.

Eine kleine Ungewissheit hat sich nun doch noch aufgetan. Aufgrund des unfassbar wichtigen G7-Gipfels, und da dieser in der Nachbarstadt Biarritz stattfindet, kann es sein, dass mein Zug nicht in Bayonne hält. Dort, wo ich meine Zwischenübernachtung gebucht und schon bezahlt habe. Toll. Das erfährt man dann kurz vorher per Mail. Klasse. Das Bahnticket wurde am 30.07. von mir gebucht. Die sieben größten Wirtschaftsmächte der Welt haben mit Sicherheit am 31.07. eine Telefonkonferenz abgehalten, die wie folgt ausfiel: „Wisst ihr, was tierisch cool wäre? Ende August so’n geschmeidiger Gipfel in Biarritz. Das Essen soll dort so gut sein.“

„Ja Mann, geile Idee. Aber bis kurz vorher verraten wir es keinem einzigen Menschen. Muhaha!“ Genau so muss es gewesen sein. Blöde Wirtschaftsmächte. Mal gucken, was passiert.

07:24 Uhr

Zug fahren. Ich hasse es. Ich bin nicht sicher warum, aber ich hasse es. Menschen, die das gerne machen, müssen irgendeine falsche Verkabelung im Kopf haben. Oder sie sind die Nachkommen von Schaffnern und Lokführern. Oder gibt es einen Zug-Fetisch? Furchtbar. Wenigstens habe ich einen Sitzplatz. Um eine meiner Lieblingsserien zu zitieren: „Es ist ein grotesker Karneval menschlichen Elends.“

Mittlerweile bin ich im Zug von Frankfurt nach Paris-Ost und hier ist alles vertreten, was man sich nur vorstellen kann. Geschäftsreisende, Handy-Suchtis, Touristen, Paradiesvögel, Laptop-Suchtis, Normalos, Gaffer und ein sehr großer Teil der Menschen, die meist die angenehmsten sind: Die Schlafenden. Wäre mal interessant zu wissen, was die alle über mich denken. Ich sehe total zerfleddert aus und habe einen großen Rucksack mit allerlei buntem Krimskrams sowie einer Ukulele daran. Sagt ihr es mir. Ich geselle mich derweil erstmal zu den Schlafenden und freue mich, dass ich auf der Heimreise größtenteils fliege. Denn das ist viel schneller vorbei.

Meine Sitznachbarin scheint noch einer der Menschen zu sein, die man in diesem Gefährt überhaupt noch als einen solchen bezeichnen kann. Junge Frau, vielleicht minimal älter als ich. Keine Schönheit, aber Sinn für Humor. Bei jedem Halt amüsieren wir uns über das blanke Chaos der ein- und aussteigenden Fahrgäste. Was für ein Gewimmel. Sie hat Ahnung, fährt seit sechs Wochen jeden Montag mit dem Zug von Aschaffenburg nach Paris und weiter nach Poitiers. Es gibt dort ein Partnerwerk ihrer Firma. Freitags geht es wieder zurück. Noch vier Wochen soll sie das durchziehen. Danach reicht es ihr, länger will sie das nicht mitmachen. Na ja, ich drücke ihr die Daumen.

Noch drei Stunden bis Paris und zu meinem geplanten Stopp an der verkohlten Notre-Dame. Ich muss dort umsteigen, denn Fernzüge durchqueren Paris nicht. Im Ostbahnhof muss ich raus und mit der U-Bahn zum Südbahnhof fahren, um dort meine Reise fortzusetzen. Die Zeit dazwischen müsste reichen, um den erwähnten Zwischenstopp durchzuziehen und die Metro zum Umsteige-Bahnhof zu erwischen. Ich nehme kurz vor dem Halt von der unbekannten Sitznachbarin noch ein paar Tipps über das Verhalten in französischen TGVs und der Pariser Metro mit. Dann verabschieden wir uns kurz und knackig und gehen ab Paris unserer Wege. Eine gute erste kleine Bekanntschaft auf dieser Reise. So kann es weitergehen.

13:44 Uhr

Es geht weiter gen Süden. Paris war kurz, schwül, heiß und… heiß.

Meine Fresse. Erster Eindruck von einem der Hauptbahnhöfe von Paris nach dem Aussteigen: Wie in einem Ameisenhügel. Auf LSD. Ich kenne Paris als Stadt, aber das war schon echt eine ganz andere Hausnummer. Als ich mir ein Ticket für die Metrolinie 4 holen wollte, die zwischen meinen beiden Umsteige-Bahnhöfen verkehrt, gab es dafür zwei Automaten. Zwei. An einem Hauptbahnhof. In einer Hauptstadt. Reicht ja. Dementsprechend natürlich extrem lange Warteschlangen. Als ich mich schon gedanklich von meiner Pause an Notre-Dame verabschiedet hatte, sah ich ein paar putzige, kleine, dunkelhäutige Männlein, die einfach mitten in der Menge aus der Hand Metrotickets verkauften. Da fackelt man nicht lange. Wenn man dann noch auf die Frage: „Für welchen Bereich oder welche Strecke gilt das?“ die Antwort: „All Paris“ bekommt und der eine verbliebene Zahn im Mund des Verkäufers dabei so verführerisch funkelt, ja Leute…

Zwei Tickets bitte, macht drei Euro, hier haste vier, Schüss. Es hat funktioniert. Die Drehkreuze gingen auf. Ein-Zahn-Jean hat mir meinen Stopp in Paris gerettet.

Sechs Metro-Stationen und einen hitzegeschwängerten Schlag in die Fresse später stand ich vor Notre-Dame. Fast. Denn seit dem Brand im April ist sie natürlich abgesperrt. An die weltberühmte Fassade kommt man nicht ran. Aber für ein Foto reichte es. Gut, dass ich die Dame schon von 2003 kenne. Dann bemerkte ich zwei Dinge. Erstens: Scheiße, es ist echt verflucht heiß hier. Zweitens: Die Zeit reicht, ich schaffe eine Runde um die Kathedrale, um mir das Ausmaß voll klar zu machen. Und los. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die alte Dame von Paris ist vorne herum top in Schuss. Aber hintenrum…Hui, da liegt einiges im Argen. Das wird noch ein Weilchen dauern.

Ich musste dann aber doch recht schnell wieder zur Metro. Im Gehen rief ich Notre-Dame ein wenig ironisch noch laut zu: „Ich find dich noch immer heiß, du Stück“, grüßte die altehrwürdigen Wasserspeier und ließ mich auf Quasimodos Buckel zur Metro tragen. Merci. Warum er allerdings immer: „Du bist nicht Esmeralda“ rief, wird mir wohl auf ewig ein Rätsel bleiben.

Nun rauscht der TGV unaufhörlich weiter. Anscheinend wird es mir wohl doch vergönnt sein, in Bayonne auszusteigen. Mit Verspätung, aber immerhin. So jedenfalls interpretiere ich die Ansagen in der Bahn. Nichtsdestotrotz durchforste ich das Internet nach möglichen Alternativen abseits von Bayonne. Man will ja gewappnet sein. Manchmal. Neben mir döst mein Sitznachbar Thomas aus Rostock, den mir die Online-Sitzplatzreservierungsgötter beigesetzt haben. Auch er ist auf dem Weg nach Saint-Jean-Pied-de-Port, um den Jakobsweg zu beginnen. Allerdings fährt er noch heute bis dahin durch und startet direkt morgen in aller Früh. In 30 Tagen will er am Meer sein. Ich wünsche ihm nur das Beste. Ich bleibe bei meinem geschmeidigen Anfang. Ich hoffe nun auf eine nicht allzu späte, überhaupt mögliche Ankunft in Bayonne, eine Dusche, ein Bier, eine Knackwurst aus der Heimat und ein Bett. Ein schönes.

20:54 Uhr

Mit circa 40 Minuten Verspätung kam ich gegen 18:00 Uhr in Bayonne an. Gepriesen sei der G7-Gipfel. Irgendwelche Vandalen hatten wohl auf der Bahnstrecke randaliert. Wenigstens nur ein bisschen. Thomas musste umsteigen, also kurze Verabschiedung. Buen camino und vielleicht bis später. Wenn er seinen Plan durchziehen will, muss er im Prinzip rennen. Vielleicht find ich ihn zusammengebrochen irgendwo unterwegs und schleife ihn dann hinter mir her. Das kleine bisschen Gepäck krieg ich auch noch gewuppt.

Ich kaufte mir direkt das Ticket nach Saint-Jean für den morgigen Tag und machte mich auf den Weg in die Innenstadt. Immer dem Turm der Kathedrale nach. Nach 20 Minuten in unglaublicher Schwüle kam ich in meinem Hotel an und schwitzte während der Wartezeit schön das Foyer voll. Endlich war ich im Zimmer. Schuhe aus, Socken aus, Hose aus. Ist das herrlich. Ein riesiger Ventilator im Zimmer. Eine monströse Dusche nur für mich. Ein Traum. Wahrscheinlich der letzte Luxus für… keine Ahnung bis wann. Duschen, Knackwurst, Feierabendhemd zum ersten Mal angezogen und raus ins Getümmel.

Bayonne ist ein wirklich sehr schönes, kleines Städtchen mit viel Charakter. Die Kathedrale, die kleinen Gässchen, die teilweise zerfallenen alten Häuserfronten, der Müll auf der Straße, die ganzen kleinen Bars, in denen sich die Basken neben dem Müll lauthals Geschichten erzählen und lachen. Herrlich. Ich mag das. Südländische Gelassenheit. Da können wir stoischen, ordnungsfanatischen Deutschen uns eine ganz große Scheibe von abschneiden. Eine noch größere Scheibe Schinken noch dazu: Fertig ist ein besseres Lebensgefühl. Die ganzen Gassen duften hier danach.

Alle Läden haben, warum auch immer, leider schon zu, also wird aus meinem Plan, mir noch ein Unterwegs-Bier zu holen, nichts. Und wenn ich mich jetzt in eine Bar setze, schlafe ich ein. Egal, gemütlich gehe ich zurück ins Hotel, esse meine Knackwurst auf, gehe früh ins Bett und stimme mich auf den eigentlichen Weg ein. Die nächsten Wochen könnten ja eventuell anstrengend werden. Vielleicht. Unter Umständen.

Gute Nacht.

Wenn ich schon mal hier bin… Ich lauf dann mal los.

27.08.2019 06:30 Uhr

Noch zweifle ich daran, wie sich mein Biorhythmus der regelmäßigen Spätschichten auf diese frühen Aufstehzeiten einstellen soll. Wenn der Wecker klingelt, spring ich im Normalfall sofort auf, egal zu welcher Uhrzeit das ist. Kommt eben nur drauf an, wie verquollen ich danach aussehe. Na ja, muss ja. Ein gutes Aussehen am Morgen ist am Camino sowieso vollkommen irrelevant. Genau wie zu allen anderen Tageszeiten. Aufstehen, kurz frisch machen und auf zum Bahnhof. Adieu Luxus und Bett für mich allein. Ich weiß noch nicht, ob ich euch vermissen werde.

Bayonne schläft noch, es herrscht kaum Verkehr und auch kaum Fußgänger sind in der Stadt unterwegs. Wenigstens ist die Temperatur im Moment noch erträglich. Am Bahnhof herrscht schon rege Betriebsamkeit. Viele Familien, Touristengruppen und natürlich, am Rucksack erkennbar: Pilger. Während ich noch vor dem Bahnhof sitze und alles beobachte, kommt mir in den Sinn: Reicht der Zug überhaupt für alle, die hier sind? Umso mehr wundere ich mich dann, wie klein der Zug ist und dass nur vier Menschen im gesamten Waggon sitzen. Es gibt nur den einen. Alle vier Mitfahrer mit Rucksack, bepackt mit ihrem gesamten Hausrat für die nächsten Wochen. Einer davon bin ich. Niemand sonst außer uns und dem Lokführer. Na mal sehen. Die Aussicht aus dem Zug lässt nicht viele Schlüsse zu, es sieht eben aus nach Bergen und Wald. Die Pyrenäen, da war ja was.

Mein Zug, mein Rucksack und sogar ich selbst kommen nach einer guten Dreiviertelstunde gegen 08:45 Uhr in Saint-Jean-Pied-de-Port an. Welch legendäres Städtchen. Das Ortsschild am Bahnhof zu lesen, verschafft mir den ersten Moment einer wohligen Gänsehaut. Nur weil der Hauptweg hier startet und dann einige Kilometer durch Frankreich verläuft, nennt man ihn den Camino Francés, den französischen Weg. Auch wenn man auf 99 Prozent der Strecke durch Spanien läuft.

Vier Menschen steigen aus dem Zug, gefühlte 100 steigen ein. Was geht hier ab? Keiner davon sieht aus, als wäre er auf dem Heimweg und den Weg schon gelaufen. Bin ich hier falsch? Die meisten Einsteigenden sehen eher aus wie: Och nö, das ist mir zu anstrengend, ich fahr zurück und flieg lieber eine Woche nach Malle! Komm, hol das Lasso raus! Klasse. Dieses Gefühl macht Mut.

Ringsherum breitet sich die beeindruckend bedrohliche Kulisse der Pyrenäen aus. Teilweise im Morgennebel erheben sich die Berge. Ein toller Anblick. Mit dem Hintergedanken im Kopf: Geil, da muss ich drüber. Trotz des Nebels und der relativ frühen Stunde ist es jetzt bereits unheimlich schwül. Ich bin froh, ab morgen nur noch die leichten Mikrofaser-Wanderklamotten zu tragen und meine vergleichsweise dicke Anreisekleidung heute Abend entsorgen zu können.

Es wirkt noch ein wenig merkwürdig, als ich auf dem Weg in den Ort den ersten Wegweiser sehe. Die stilisierte gelbe Jakobsmuschel und der gelbe Pfeil. Diese Beiden werden mir die nächsten Wochen den Weg weisen. Hoffentlich zuverlässig.

Da ich manchmal ein kleines Cleverlein bin, habe ich natürlich vorher schon nachgesehen, wie ich auf dem besten Weg vom Bahnhof zum Pilgerbüro komme. Es ist ein kurzer Fußweg durch Saint-Jean. Der Ort und die kleinen Häuser mit ihren Balkonen gefallen mir sehr. Erinnert mich ein wenig an Österreich. Was mich verwundert, sind die wenigen Menschen. Ähnlich wie im Zug. Ich habe mehr Andrang erwartet, viele Pilger sehe ich nicht. Ich habe auch langsam eine Ahnung, warum. Die wenigen Wanderer, die ich sehe, sind allerdings alle plan- und orientierungslos. Als ich in der Rue de la Citadelle ankomme, der Hauptstraße des Pilgerlebens, habe ich bereits Hank und Larry aus den USA, Nelly aus Ungarn, einen Italiener und zwei weitere Pilgerinnen ohne Orientierung eingesammelt. Ich bin der Pilgerfänger von Saint-Jean. Ich sollte mir eine Flöte besorgen.

Eine riesige Muschel weist uns den Weg und gemeinsam betreten wir alle das Pilgerbüro. Drei Damen sitzen an einem langen Anmeldetisch, jede jeweils zuständig für verschiedene Sprachen. Ich lasse den anderen Pilgern den Vortritt und warte. Wenn ich eine Sache habe, dann ist es Zeit. Erstmal umschauen. Die Wände quillen über vor lauter Karten- und Infomaterial, Werbung für Herbergen und für Rucksacktransport. Gekritzel von Pilgern vergangener Zeiten schmückt Pinnwände und Tafeln. Das Warten endet schneller als gedacht. Ehe ich mich richtig umsehen kann, sitze ich schon vor einer der drei Damen und höre mir ihre kurzen Erklärungen in englischer Sprache an. Für zwei Euro bekomme ich einen Plan, auf dem angeblich alle Herbergen des Weges bis nach Santiago verzeichnet sind und Etappenvorschläge mit jeweiligen Höhenprofilen. Geduldig höre ich zu, aber denke nebenbei: So viel Planung will ich gar nicht. Aber wie meine Oma immer sagt: Es ist gut gemeint. Im Preis der zwei Euro inklusive und gleichzeitig das Wichtigste: Mein Pilgerpass mit dem ersten Stempel. Aus Opas Berichten weiß ich, dass einer davon für die Menge an Stempeln nicht ausreichen wird, aber ich bekomme von der Dame zu verstehen, dass es nicht möglich ist, gleich einen zweiten Pass zu erwerben. Warum auch immer. Na ja, er ist doppelseitig bedruckbar und wird eine Weile reichen. Irgendwo unterwegs werde ich mir einen Reservepass besorgen. Dieses Dokument ist ab nun ein Heiligtum. Für jeden einzelnen Pilger. Es ist nicht nur ein Ausweis im traditionellen Sinne, sondern berechtigt auch zu kostengünstigen Übernachtungen, preiswerten Pilgermenüs und natürlich zum Erhalt der Urkunde am Ende des Weges. Mehr als den Pass braucht man eigentlich nicht. Also vielen Dank Anmelde-Fräulein, buen camino und au revoir. Kurz und knackig.

So. Nun bin ich also offizieller, staatlich anerkannter und von Papa Franzi im Vatikan lizensierter Pilger. Man fühlt sich direkt eine Spur gepriesener. Darauf gönne ich mir erstmal eine Zigarette und einen kräftigen Schluck. Wasser.

Meine eingesammelten Schäflein verabschieden sich zügig, da sie alle gleich heute die Hauruck-Tour machen wollen. Die Pyrenäen hoch und wieder runter in einem Ritt, bis nach Roncesvalles. Genau das hatte ich geahnt, als ich sah, wie wenig um die Uhrzeit in Saint-Jean los ist. Der Großteil ist eben einfach schon unterwegs. Ich erkläre Larry und Hank, den beiden älteren US-Herren, dass ich ruhig anfange und nur circa acht Kilometer bis zum Refuge Orisson laufe, wo mein Bett für heute schon reserviert ist. „Only eight kilometers? That’s a shame," sagt Larry. Wie nett. Kurz nach dieser Aussage erklärt mir dann sein Begleiter Hank, dass sie gerade den Transport ihrer Rucksäcke organisiert haben, da ihnen das Tragen zu anstrengend ist. Aha. Ein Jeder streichle seine eigene Nase. Oder wie das heißt. Buen camino und See you later.

Die Rue de la Citadelle ist mit Girlanden und Blumen geschmückt und beherbergt etliche Läden für allen möglichen Pilgerbedarf. Ohne den Andrang, den ich aus Filmen und Dokus kenne, kann man sich sogar in Ruhe umsehen. Ich brauche nur ein paar Postkarten. In einem Laden für Wanderstöcke, Hüte, Wasserflaschen und allerlei andere Utensilien werde ich fündig. Das muss sein. Ein letzter Gruß in die Heimat. Das Motiv der Karten fetzt. Vier Pilger überqueren hintereinander einen Fußgängerüberweg. Im Stil des Covers von Abbey Road der Beatles. Abgeändert in Santiago Road. Gefällt mir. Zehn Stück davon, bitte. Wie erwartet, gestaltet sich der Erwerb von Briefmarken etwas schwieriger. Das kenne ich schon. Frankreich, Spanien und auch Italien haben noch nicht bemerkt, dass es sinnvoll sein kann, die Marken und Karten im selben Geschäft zu verkaufen. Daher durchquere ich auf der Suche nach dem mir beschriebenen Tabakladen jede Straße der Stadt mindestens zwei Mal. Dumm nur, dass es zwei Tabakläden in Saint-Jean gibt, aber nur einer davon Briefmarken verkauft. Die ersten Meter stecken mir also schon in den Knochen. Aber dadurch kenne ich Saint-Jean jetzt sehr ausführlich.

Nun sitze ich in einem Café. Ich schreibe meine Postkarten, trinke Kaffee und sammle alle Kräfte, die ich auftreiben kann. Gleich geht es endgültig los.

Gegen 10:30 Uhr werfe ich meine fertigen Postkarten in einen Briefkasten. Bis ich den gefunden hatte, ging auch Zeit ins Land. Warum muss das denn nur so schwierig sein?

Am Stadttor an der Brücke, am Anfang des Weges mache ich von mir ein Ich-lauf-dann-mal-los-Bild, stelle es in meinen Status und schalte mein Handy in den Flugmodus. Kein Empfang, nur Kamera. Dann, tja, dann laufe ich tatsächlich los.

Endlich. Ich bin endlich unterwegs auf dem Weg, den ich seit so vielen Jahren gehen wollte. Unterwegs, um einfach unterwegs zu sein.

Die Pyrenäen sind schön. Die Pyrenäen sind sehr, sehr schön. Das muss man sich nur immer wieder sagen.

Es ist sauschwül. Ich triefe unheimlich sehr. Die ersten Meter verlangen meinem Körper schon alles ab. Es geht hinaus aus Saint-Jean und direkt steil nach oben. Aber ertragbar. Schön ist es aber wirklich hier. Die Landschaft der Pyrenäen öffnet sich vor mir, während es weiter und weiter bergauf geht. Das Laufen macht den Füßen selbst auf den steilsten Abschnitten keine Probleme, aber die Schwüle setzt diesen ersten Kilometern ein verschwitztes Sahnehäubchen auf.

Eines der ersten Schilder am Wegesrand gehört zum Refuge Orisson. Beruhigend. Ich passiere einige einsame Höfe und Herbergen vor atemberaubender Bergkulisse, aber ich sehe keinen einzigen anderen Menschen. Es wird wohl wirklich so sein, wie ich es ahnte. Alle anderen Pilger sind schon früh los und machen die Hauruck-Tour. Ich bin eben ein Spätpilger. Genug Zeit macht‘s möglich. Mein erster und einziger sozialer Kontakt auf dem Camino ist vorerst ein Esel, der mich beim Fotografieren dermaßen anbrüllt, dass mir fast das Handy runterfällt. Netter Typ eigentlich. Müffelt nur ein wenig streng.

Ungefähr nach der Hälfte meiner heutigen, kurzen Etappe und einem sehr steilen Anstieg entlang einer Kuhweide mache ich die erste Pause und genieße das Panorama. Auf einer kleinen Wiese am Abhang sitze ich so vor mich hin. Es ist einfach nur geil. Die Sicht ist klar, die Berge sind kilometerweit gut einsehbar. Ich versuche zu begreifen, dass ich wirklich hier bin. Ich versuche zu begreifen, was noch vor mir liegt. Ich versuche zu begreifen, was ich mir aufgebürdet habe. Vielleicht begreife ich es bald.

Während ich sitze, sehe ich die ersten beiden Menschen, die mir heute direkt auf dem Weg begegnen, den Hügel erklimmen. Die kenn ich doch, das sind doch die beiden Damen, die sich heute Morgen auch an meine Fersen geheftet haben, um das Pilgerbüro zu finden. Schnaufend stoppen sie bei mir. Wir kommen schnell ins Gespräch. Die beiden Frauen sind Marion und Sara aus Irland. Mutter und Tochter. Auf Anhieb sind wir uns sehr sympathisch. Als wir feststellen, dass wir alle heute das Ziel Refuge Orisson haben, freuen wir uns umso mehr. Der Camino verbindet. Schon jetzt. Marion und Sara gehen voraus, aber nur wenige Meter weiter treffe ich sie wieder. Marion gibt mich als Saras Freund aus, da sie einen nervigen Franzosen abschütteln will, der sich sehr viel darauf einbildet, dass er acht Kilometer den Berg hinaufgejoggt ist und sich nun schon wieder auf dem Rückweg befindet. Posierend präsentiert er sich vor Sara. Arroganter Fatzke. Da helfe ich gerne.

Es kann nicht mehr weit bis zum Ziel sein, also passen wir unser Tempo aneinander an. Eile ist nicht nötig. Marion hat Probleme mit der Hüfte, also laufen Sara und ich in ruhigem Schritt vor ihr her. Ganz gemütlich und langsam geht es weiter steil nach oben. Wir bekritzeln ein paar Zaunpfähle mit unseren Namen, während sich der Camino immer weiter in die Höhe schraubt und immer felsiger wird. Die Aussicht wird mit jedem Höhenmeter schöner und als ich auf einem ersten, kleinen Plateau ankomme, muss ich kurz sitzen und genießen. Marion und Sara gehen weiter. Ich bin begeistert über die Sicht, aber verwundert über den weiteren Wegeverlauf. Alles was ich sehe, ist der sich am Hang über das Plateau windende Camino, der kurz nach einer Kurve in einigen hundert Metern wieder steil ansteigt. Hä? Nach meinem Kilometerstand müsste hier eigentlich meine Herberge kommen. Der Weg ist wieder asphaltiert, was auch auf ein Fitzelchen Zivilisation hindeutet. Aber wo ist das Orisson? Okay, erstmal weiter.

Direkt nach der erwähnten Kurve stehe ich unvermittelt ganz plötzlich vor einem kleinen Steingebäude. Ja, das ist es. Der Camino hat mich veräppelt. Genau in der Biegung, nicht einzusehen vom Rand des Plateaus, versteckte sich das Refuge Orisson. Diese legendäre Herberge. Das kleine Hauptgebäude beherbergt Schlafsäle und Restaurant und eine riesige Aussichtsterrasse gegenüber, unter der sich weitere Schlafsäle befinden, lädt zum Staunen ein. Und sonst: Nichts. Weit und breit nur Berge und der Himmel. Ich bin jetzt schon froh über die Entscheidung, hier zu übernachten. Es ist 14:30 Uhr. Ich bin da. Die erste, kleine Etappe ist geschafft.

Rucksack runter und einchecken. Ein netter Franzose erklärt mir alles in erstaunlich gutem Englisch. Für einen Franzosen. Ich verabrede mich mit Sara und Marion für später zum Bier auf der Terrasse und der nette Franzose zeigt uns nacheinander die Zimmer. Beziehungsweise unsere Betten. Sara und Marion sind im unteren Teil untergebracht, in einem Zimmer unterhalb der Aussichtsterrasse. Ich werde in den oberen Teil geführt, mein Zimmer befindet sich über dem Restaurantbereich. Zuerst: Schuhe aus. Ab ins Regal vor dem Schlafbereich damit. Keine Wanderschuhe im Inneren erlaubt. Gut, dass ich zuhause gerade noch so an Badelatschen gedacht hab. Sehr laut und deutlich sagt der Eincheck-Franzose zu mir: „Get off your shoes. NOW!“ Ich habe kurz Angst. Seine Augen zeigten kurz einen rötlichen Schimmer. Nun grinst er wieder freundlich. Muss wohl die dünne Bergluft sein. Ich bekomme ein Zimmer mit drei Doppelstockbetten zugewiesen. Die drei oberen Betten sind jeweils noch frei. Es ist zwar kein weiterer Pilger momentan im Raum, aber ein paar Mallorca-Touristen haben die drei unteren Betten bereits mit Handtüchern markiert. So läuft das hier wohl auch. Ich werde es noch lernen. Aber ich bin erstaunt, dass es schon auf der kurzen, ersten Etappe bis ins Orisson einige Frühpilger gab. Na ja, dann schlaf ich halt im oberen Bett. Mit meiner schwachen Blase. Läuft. Hoffentlich läuft es nicht aus.

Ich lege kurz meine Sachen für morgen zurecht und verstaue meinen Rucksack. Es gibt sogar einen Schrank dafür. Waschen muss ich nichts, alles, was ich heute trage, fliegt sowieso weg. Bis auf meine Blümchenhose. Wichtiges Ding. Ansonsten ab jetzt nur noch das, was im Rucksack ist. Ich mache eine kurze Katzenwäsche, ziehe mein Feierabendhemd an und mache mich auf den Weg raus zur Terrasse. Das Bergpanorama ist der Hammer. Respekt an denjenigen, der auf die Idee kam, hier eine Herberge und vor allem, diese Terrasse zu errichten. Fast alle Plätze sind schon besetzt, aber Marion und Sara haben mir einen Stuhl an ihrem Tisch freigehalten. Direkt am Geländer neben mir fällt der Berg steil ab und öffnet die Sicht über eine weite, weite Pyrenäenschlucht. Kühe grasen an den Hängen und man hört ab und zu das Klingen ihrer Glocken. Der Ort ist irgendwie magisch. Leute, solltet ihr jemals den Camino Francés laufen, übernachtet im Orisson. Aber vorher buchen. Ganz wichtig.

Bier bestellen, anstoßen, Panorama genießen. So dümpelt der Nachmittag vor sich hin, während wir über Gott und die Welt, über Irland und Deutschland, über den Camino und den Rennsteig reden. Sara und ich sind ein Jahrgang und wir verstehen uns prächtig. Einzig der irische Akzent macht mir das Verstehen mancher Worte schwer. Schade, dass die beiden Damen nur knapp eine Woche Zeit haben und daher nur bis kurz hinter Pamplona laufen. Sehr schade. Machen wir das Beste draus.

Im Laufe des Nachmittags stoßen David, Kelly und Heidi aus Florida zu unserer Runde. Interessante Truppe. David ist ein stämmiger Kerl und möchte auf dem Camino lernen, nicht mehr so viel zu quatschen und nicht überall seinen Senf dazu zu geben. Trotzdem quasselt er in der Zeit des Kennenlernens ununterbrochen. Seine Freundin Heidi ist ein zierliches Ding und sagt meistens einfach gar nichts. Aber wenn, dann fällt sie David ins Wort und beide beginnen ein gleichzeitiges Gespräch mit dem gleichen Gesprächspartner. In dem Fall also mir. Verwirrend. Kelly, ein zerbrechliches Wesen, ist sehr sentimental und von jeder persönlichen Geschichte, die man erzählt, sofort ergriffen und hat Tränen in den Augen. Als ich erzähle, dass Opa vor exakt fünf Jahren auch hier war, fließt das Wasser in Strömen über ihr Gesicht. Ohne in Klischees verfallen zu wollen, aber meiner Meinung nach spiegeln die drei die typischen US-Amerikaner wieder. Aber ich mag sie. Klischees müssen nicht zwingend etwas Schlechtes sein.

Langsam müssen wir aufpassen, dass der Bierkonsum nicht überhandnimmt. Noch ungefähr zwei Stunden bis zum Abendessen und Sara hat schon mächtig einen sitzen. Das wird noch lustig.

Kurz vor dem Essen sind wir noch immer draußen. Die Stimmung und die Gespräche werden ausgelassener, die Kuhherde am Hang auch. Das intensive Konzert ihrer Glocken deutet auf einen ähnlich hohen Alkoholkonsum hin. Sara verfällt in einen angeheiterten irischen Dialektrausch, der es für mich immer schwieriger macht, sie noch zu verstehen. Aber klingt interessant. Unsere irisch-amerikanisch-deutsche Kombo möchte am liebsten draußen essen, aber ein leichter, abendlicher Nieselregen setzt ein. Dann eben doch rein in den Saal.

Im Orisson bekommt man immer das Gesamtpaket. Geht nicht anders. Ein Bett, Abendessen und Frühstück. Und Gemeinschaft. An drei langen Tafeln sitzen wir gemeinsam mit allen Gästen, die heute hier übernachten. Nun harren wir der Dinge, die da kommen mögen. Für David und mich kommen zuerst die nächsten zwei Bier und dann startet das Pilgermenü mit einer leckeren Suppe. Ab dem Hauptgang, der aus Huhn und Gemüse besteht, folgt eine Flasche Rotwein nach der anderen. Auch das ist hier inklusive. Ist eine Flasche leer, steht schon die nächste da. Gut, dass ich keinen Wein trinke. Normalerweise. Schon gar nicht zum Bier. Normalerweise. Heute ist aber kaum etwas normal. Dieser Tag ist mehr als normal.

Draußen nieselt es still und leise vor sich hin. Während einer Raucherpause genieße ich die Sicht. Der ganz schwache Regen beschert dem ohnehin schon genialen Ausblick einen mystischen Anstrich. Die Berge werden in einen transparenten Nebel eingehüllt. Unmöglich, das in einem Bild einzufangen.

Nach dem Essen folgt die Tradition des Orisson. Aus Opas Berichten wusste ich davon. Man muss es nicht zwingend mitmachen, aber es gehört hier eben einfach irgendwie dazu. Jeder stellt sich kurz vor und erklärt, warum er aufgebrochen ist, um den Camino zu gehen. Grundsätzlich in englischer Sprache, aber auch etliche Pilger sprechen kurz in Deutsch oder Französisch über sich selbst. Vollkommen egal, wer oder ob überhaupt jemand es versteht. Das spielt keine Rolle. Die Gründe für den Camino sind so vielfältig, wie die Menschen und das Leben selbst. Von Selbstfindung, über Verarbeitungsversuch einer Trennung oder eines Todesfalls, aus Glaubensgründen, bis zu schlichter Wanderlust ist alles dabei. Meine genauen Worte behalte ich an dieser Stelle für mich, aber so viel sei gesagt: An diesem Abend sind Deutsche, Franzosen, Spanier, Amerikaner, Engländer, Iren, Australier, Koreaner, Niederländer, Israelis und Brasilianer mehr verbunden, als es eine politische Gemeinschaft je zustande bringen könnte. Ich lerne viele weitere interessante Menschen kennen. Lucy aus England, Anna von Sylt, Doreen aus den Niederlanden, Alex und Inga aus Greifswald, Robin aus den USA, Gerald aus Australien und viele mehr.

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