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02.09.2019 07:15 Uhr

Erste Erkenntnis des heutigen Morgens: In den großen, günstigen, städtischen Herbergen übernachten sehr viel mehr junge Leute als in den privaten Unterkünften. Sehr viel mehr junge, hübsche Leute. Sehr viel mehr junge, hübsche Frauen. Nicht zu verachten. Allerdings können die genau so laut schnarchen wie der kanadische Holzfäller neulich. Ein wahres Paradoxon.

Es ist auch erstaunlich, wie viele Pilger extra früh aufstehen, um sich Frühstück zu machen. Als ob die frühe Stunde nicht sowieso schon reichen würde. Wir lassen alle Mitschläfer des Saals langsam ziehen und machen in aller Ruhe unsere Morgentoilette. Bei unserem Lauftempo haben wir kein Problem damit, unseren nächsten Etappenort trotzdem rechtzeitig zu erreichen. Die habe ich alle in wenigen Stunden wieder eingeholt.

Unten im Aufenthaltsraum herrscht das erwähnte Frühstücksgewimmel. Am Automaten hole ich mir eine köstliche, minimal nach Kaffee schmeckende Wasserbrühe und schaue mir das Treiben etwas genauer an. Manche machen sich einfach ein belegtes Baguette oder Brot für den Tag. Manche kochen richtig. Die asiatischen Mitpilger ziehen alle Register. Da ist eine Großküche ein kleiner Witz dagegen. Ein nicht sehr lustiger, kleiner Witz. Bei den Freunden aus Fernost wird morgens gekocht, als ob es in den nächsten Tagen nie wieder etwas Essbares geben würde. So viel koche ich in der Heimat innerhalb von drei Tagen nicht. Und die machen das zum Frühstück mal so nebenbei. Meine Herren.

Mit Hanne begebe ich mich hinaus auf die noch dunkle Altstadtstraße. Wir wissen mittlerweile, Alex und Inga brauchen oftmals noch einen Moment länger. Vorbei an mächtigen Prachtbauten und Kirchen in der Morgendämmerung lassen wir die Altstadt hinter uns und erreichen die Neustadtgebiete. Sie ziehen sich sehr. Die Vororte hinter der Neustadt ziehen sich noch mehr. Als wir endlich nur noch wenige Häuser sehen und die Weinfelder beginnen, geht eine Gruppe junger Pilger neben Hanne und mir, die wir auch schon öfters sahen. Einer von ihnen redet ununterbrochen. Verstehe ich nicht. Beim Laufen. Ohne Pause, Punkt oder Komma. In einem Tonfall, der über ihn selbst aussagt: Ich finde mich sehr, sehr geil und mag meine eigene Stimme mehr als euch alle hier. Was für ein unangenehmer, schnöseliger Zeitgenosse. Was für ein Lackaffe. Aber nicht aufregen, Philipp. Einfach gehen lassen.

Am Fuß der Weinberge, einem der letzten Grundstücke Estellas, wohnt ein Schmied. Klingt fast wie der Beginn eines Märchens. In seiner Schauschmiede stellt er große und kleine Souvenirs sowie Alltagsgegenstände her. Hier machen wir Halt und Hanne ersteht eine kleine Vogelfeder aus Metall für ihre Nichte. Da das Kloster des dazugehörigen Dorfes Aiyegui, einem Vorort Estellas, gerade renoviert wird, gibt uns der Schmied nicht nur einen Stempel seiner Schmiede in unsere Pilgerpässe, sondern auch einen des geschlossenen Kirchenbaus. Muchas gracias und buen camino.

An der legendären Bodega Irache, inmitten von Weinreben, stauen sich die Pilger. Hier holen uns auch Alex und Inga wieder ein. Der Grund für den Stau an diesem Weingut ist ein berühmter Brunnen. Ein Doppelbrunnen. Aus einem Hahn kommt feinstes Wasser, aus dem anderen köstlicher Rotwein. Köstlich für alle anderen. Für mich schmeckt er wie jeder andere Rotwein. Ist halt einfach nicht mein Ding. Aber na ja, ich fülle mir trotzdem eine Weinschorle in eine meiner Flaschen ab. Ist ja umsonst. Inga muss nochmal zurück, sie hat ihren frisch gefundenen Wanderstock im Tabakladen unterhalb der Schmiede vergessen. Immer diese verdammten Raucher.

Mit Hanne gehe ich voraus und bin kurz darauf wieder alleine unterwegs. Durch Wälder und Felder führt uns der Camino hinauf in Richtung Azqueta. Geniale Farben und Kontraste prägen die Umgebung. Saftiges Grün kleiner Wälder, sattes Gelb der abgeernteten Weizenfelder und das leuchtende Blau des Himmels. Vor mir erscheint ein kleiner Berg und rechts von mir, in Richtung Norden, erhebt sich ein gewaltiges Bergmassiv. Ed Sheeran, wo bist du mit deiner Kamera? Und dem bärtigen Mann?

Am Hang des kleinen Berges vor mir liegt Azqueta. In der einzigen örtlichen Bar möchte ich eine ausgiebige Frühstückspause abhalten. Meine Mitpilger treffen alle kurz nach mir ein. Es ist erst kurz nach 09:00 Uhr und noch recht frisch. Also bauen wir kurzerhand die komplette Außenbestuhlung auf der Terrasse um, damit wir ein paar wärmende Strahlen von Helios erhaschen können. Netter Kerl. Wenn er uns nicht zu sehr verbrutzelt.

Ich gönne mir ein paar Tapas aus der kleinen Auswahl der Bar und schmelze dahin, als ich ein Stück Ziegenkäse probiere, eingewickelt in Schinken und eingelegt in Olivenöl. Ich bin immer wieder erstaunt, was für einfache Dinge solch einen unheimlich guten Geschmack haben können. Sensationell. Geschmackskirmes im Rachen.

Steinig geht es weiter, immer sanft bergan. Auf der nächsten Hügelspitze erkenne ich eine kleine Ruine und kurz unterhalb des Gipfels liegt Villamayor de Monjardin. Winziges Dorf, winzige, aber schöne Kirche. Der Priester dort begrüßt jeden Pilger anhand des Ausweises mit Namen und predigt uns einen schönen Stempel hinein. Gracias padre. Von hier oben habe ich mal wieder das Gefühl, dass sich ganz Navarra und ganz Nordspanien vor mir ausbreiten. Jeder neue Tag, jede neue Aussicht übertrifft die vorherige. Einfach nur Wahnsinn. Als stünde die Landschaft im Wettstreit mit sich selbst. Ich kann nicht genug Bilder machen. Auch wenn, wie immer, keines davon diesem Anblick voll gerecht wird.

Auf dem folgenden Abstieg kann man ausnahmsweise die Aussicht genießen, ohne ständig die Angst haben zu müssen, sich die Knochen zu brechen. Sehr fußfreundlich ist der Weg. Plötzlich biegt Alex in einer Allee nach links an den Wegesrand ab. Ich ahne, was er gesehen hat. Endlich hat ein Stock nach ihm gerufen. Von Anfang an hat er darauf gewartet. Er wollte sich keinen Wanderstock kaufen, er wusste, dass er irgendwo einen finden wird, der nur darauf wartet, mitgenommen zu werden. Jetzt ist es soweit. Ein schönes Exemplar. Wir befreien ihn von überflüssigen Ästen, brechen ihn auf Gehhöhe zurecht und freuen uns alle mit Alex.

Es folgt ein zwölf Kilometer langes Stück Camino ohne jeglichen Ort dazwischen. Immer durch die Felder, mal etwas hoch, dann wieder etwas runter. Meine Füße mit meinen halb verarzteten Blasen machen mir jetzt wieder zu schaffen. Ich muss heute Abend nochmal ran, mein gestriges Blasenprogramm war zwar wohltuend, hat aber wohl nicht ausgereicht. Es ist aber auch sauschwer, die beiden Mistkerle unter der Hornhaut überhaupt erstmal zu erwischen. Mal sehen. Eine komplette Entfernung der Fersen ziehe ich nicht in Betracht. Noch nicht.

Irgendwo am Wegesrand mache ich eine kleine Pause. Nur ich allein, an einem der wenigen vorhandenen Schattenplätze. Alle ziehen an mir vorbei. Ich spreche kurz mit einer Koreanerin, die ich auch im Orisson das erste Mal getroffen habe. Sie hat sich vertreten und den Fuß total verknickt. Jeder Schritt ist eine Qual. Im nächsten Ort möchte sie entscheiden, wie es weitergeht. Ob es weitergeht. Höchstwahrscheinlich wird sie abbrechen müssen. Armes Mädel. Ich wünsche ihr nur das Beste. Weiter geht’s.

Ich bin überglücklich, als mitten auf den weiten Feldern unverhofft ein Bierwagen auftaucht. Klar, es gibt da auch andere Sachen. Für mich ist es aber in diesem Moment nur ein Bierwagen. Sonst nichts. Hanne, Alex und Inga sind schon versorgt. Schatten, Fassbier, Sitzen: fetzt. Diesmal bin ich der Letzte, der noch sitzt, der Rest zieht wieder los. Als auch ich aufbrechen will, tippt man mir von hinten auf die Schulter. Diederik steht mal wieder vor mir, grinst und klatscht mich ab. Er erzählt, dass er dank meines Bildes auf seinem Profil schon wieder zehn weitere Damen anlocken konnte. Vielleicht sollte ich das mal selbst versuchen und nicht nur einem Dänen zu Erfolg bei Frauen verhelfen. Wir lachen uns scheckig, verabschieden uns herzlich und ich trotte einsam von dannen.

Einen knappen Kilometer weiter bin ich vollkommen allein auf dem Camino. Man kann so weit in jede Richtung sehen, dass ich kurz stehen bleibe. Einfach kurz mit den Augen in der blanken Unendlichkeit baden. Es ist ein unbeschreiblicher und freier Moment. So frei, dass ich ganz spontan ein lautes YAWP in die Landschaft brülle. Danke Robin Williams, oh captain, mein captain. Ein weiterer Jubelschrei in der Ferne verrät mir, dass Hanne nicht weit weg ist. Schön. Kommunikation kann so einfach sein. Mit dem Gedanken, heute nicht mehr weit laufen zu wollen, fühlt sich auch die größte Blase nicht mehr ganz so schlimm an und auch der Jubelschrei hat ein wenig Anspannung aus den Gliedern vertrieben. Und wahrscheinlich ein paar Vögel vom Felde.

Am Stadtrand von Los Arcos hole ich Hanne endgültig wieder ein. Es geht vorbei an spielenden Katzen und schwitzenden Pilgern bis zum großen Platz an der Kathedrale. Hier treffen wir auf die schon rastenden Alex und Inga, die bereits je ein großes Bier zur Hälfte geleert haben. Hanne, zwei weitere große Bier und ich gesellen sich dazu. Hier könnte ich bleiben. Los Arcos ist ein schönes, kleines Städtchen. Die Gässchen gefallen mir, die alten Gebäude sehen toll aus. Der riesige Platz und die Kathedrale sind wunderschön. Ja, es wäre ein toller Übernachtungsort. Außerdem haben wir heute schon über 21 Kilometer zurückgelegt und es ist extrem heiß. Vollkommen ausreichend für eine Tagesetappe. Ich bin allerdings der Einzige von uns, der das so sieht. Die anderen drei Beatles sind in Lauflaune und wollen weiter. Warum auch immer. Alex schaut in die App. Im nächsten Ort Sansol gibt es keine Möglichkeit zur Übernachtung, also müssten wir noch einen Ort weiter nach Torres del Río. Nochmal knapp acht Kilometer durch die Nachmittagshitze. Das muss nicht sein, das versaut uns nur die Füße und macht uns kaputt. Meine Überredungskünste scheitern grandios. Extrem widerwillig beschließe ich, diese letzte Etappe für heute auch noch zu laufen. Klar, ich könnte hierbleiben und in Los Arcos übernachten, niemand zwingt mich. Aber schließlich käme die Trennung der Band dann etwas verfrüht. Und ganz ohne Yoko. Von mir aus. Gehen wir eben weiter. Alex sucht weiter seine App nach Herbergen ab und reserviert uns aufgrund der fortgeschrittenen Nachmittagsstunde vier Betten in Torres del Río. Bis 16:00 Uhr müssen wir dort sein. Prima. Dann dürfen wir nicht trödeln.

Alex bastelt mit Tape von Hanne noch schnell einen Griff an seinen neuen Stock und dann erheben wir uns zum Aufbruch. Alex‘ mächtige Erscheinung während des Aufstehens, seine Größe, die langen Haare, der lange Bart und der Stock sind so beeindruckend, dass es von der anderen Seite des Platzes plötzlich schallt: „Oh, ein Wikinger.“ Ein junges Pärchen, auch gerade im Aufbruch, kommt zu uns. Schnell gemerkt, es sind auch Deutsche. Robert und Michelle. An Michelles Aussprache bemerke ich einen bekannten Klang. „Sag mal, wo kommt ihr her? Aus Thüringen?“ „Na klar, aus Jena.“ „Ach ja...“

Zwei Thüringer, die nicht so weit von mir weg wohnen. Einfach so. Mitten in Navarra tauchen sie auf. Schon irgendwie lustig. Robert und Michelle haben beide riesige Rucksäcke dabei. Wir erfahren auch, warum. Sie sind bereits seit Wochen unterwegs. Im französischen Orléans sind sie gestartet. Anders als wir, zelten sie überall und haben dementsprechend eine komplette Ausrüstung dabei. Respekt. Nur die Bratwürste haben Sie leider auch in der Heimat gelassen.

Zusammen mit den beiden unverhofften Thüringern brechen wir auf. Ich merke bereits kurz hinter Los Arcos, dass mir das Tempo der nun größeren Gruppe viel zu langsam ist. Ist mir egal, ob und wie sehr die Füße schmerzen, ich möchte heute einfach nur noch ankommen. Inga geht es auch so. Also legen wir den Turbo ein. Und ich meinen Spezialturbo. Wo ich plötzlich diese letzte Reserve hernehme, weiß ich selbst nicht. Die Füße tun sehr weh und ich laufe in meinem eigenen Saft. Es ist unglaublich heiß und es gibt nicht den geringsten Schatten. Ich habe keine Lust auf acht Kilometer. Aber irgendwie geht es. Durch herrliche Landschaft, durch sanfte Weinberge, allerdings in der knallenden Sonne, stürze ich voran. Einfach einen Fuß vor den anderen. Immer wieder. Kopf aus, Beine an.

Schließlich ist der Großteil geschafft. In Sansol, nach einer guten Stunde, habe ich sieben Kilometer hinter mir. Inga ist fast genau so schnell da wie ich. Jetzt ist es nur noch ein kleines Stück, die Uhrzeit passt gerade noch, also Trinkpause. Unbedingt. Kaum ist die Trinkflasche geöffnet, ist die Hälfte schon verdunstet. Gut, dass ein Brunnen in der Nähe ist. Völlig ausgepowert stoßen Alex und Hanne zu uns. Tja Freunde, ich hab ja gesagt, wir hätten in Los Arcos bleiben sollen. Als alle versammelt und frisch bewässert sind, brechen wir auf zu den letzten 800 Metern. Hinter Sansol müssen wir einen Hügel hinabsteigen in ein kleines Flusstal. Der Hügel auf der anderen Seite des Tals zeigt uns bereits das Dorf Torres del Río, unser Ziel. Türme am Fluss. Wunderschön gelegen, ein malerisches Bild eines Dörfchens. Wir überqueren den kleinen Fluss, steigen den Hügel hinauf und schon sind wir an unserer vorgebuchten Herberge Casa Mariela.

Nach dem Einchecken brauchen wir erstmal ein unfassbar kaltes Bier. Ungeduscht und staubig setzen wir uns vor die Albergue. Die Unterkunft liegt an einem kleinen Dorfplatz, der vollständig von Pilgern und Herberge in Beschlag genommen wird. Bestuhlung, Tische, Bänke, Wäscheleinen, sich sonnende oder sich in den Schatten verkrümelnde Menschen. Prostend kommen wir mit einem Niederländer ins Gespräch. Einen faszinierenderen Menschen habe ich bis dato am Camino noch nicht kennengelernt. Er lief direkt aus der Heimat los, von seiner eigenen Haustür aus. Wie die Pilger im Mittelalter. Am 11.06.2019 startete er in Utrecht, um den Camino zu gehen. Sein Name: Jakob. Echt jetzt? Ist das eine Art Zeichen? Und wenn, wofür? Ich gebe ihm die Hand und wir stoßen an. Auf uns, auf den Camino, auf das Leben. Ein unvergleichlich schöner Moment.

Wäsche- und Körperpflege folgen. Michelle und Robert, die beiden Jenaer, ziehen irgendwann lange nach unserer Ankunft ebenfalls gemächlich an unserer Herberge vorbei und suchen einen Platz, um ihr Zelt aufzuschlagen. Inga schließt sich den beiden kurzerhand an, um sprachlich zu helfen. Robert und Michelle haben beide weder Spanisch, noch Englisch so richtig drauf. Ein wenig später kommt Inga allein wieder und bringt uns zwei große Beutel mit, während Alex und ich wieder im Schatten unter Dach sitzen und Hanne in der prallen Sonne auf einer Bank entspannt. In Ingas beiden Plastetüten sind Mandeln und Walnüsse. Sie besorgte für Michelle und Robert einen Schlafplatz auf einem Feld oberhalb des Dorfes. Die Besitzerin des Grundstückes war gerade dabei, ihr Vorratslager zu sortieren, also griff Inga kurzerhand mit zu und bekam als Dank die beiden Tüten, über die wir nun gierig herfallen.

Auf dem Platz vor der Herberge sitzen wir im Gewimmel der Pilger, warten darauf, dass die Hitze etwas nachlässt, lauschen, plaudern und beobachten. Fast nur Bekannte sind da. Der nervöse Ire, der labernde Selbstverliebte, eine peruanische Omi und viele namenlose andere Wanderer.

Gegen Abend taucht auch Robert wieder auf, um in unserer Unterkunft die Wasservorräte für das Camping-Equipment aufzufüllen. Er trinkt mit uns ein schnelles Helles und bietet uns an, ihn zu begleiten. Klingt gut. Wir decken uns mit Getränken ein und begleiten ihn ins Dorf hinauf und hinaus aufs Feld. Ich bin sehr froh, dass ich für abendliche Spaziergänge noch meine alten Turnschuhe eingepackt habe und nicht nur zwischen Wanderschuhen und Badelatschen wählen muss. Diese alten, zerlatschten Treter sind genau richtig für solche Situationen wie jetzt.

Das Zelt steht natürlich bereits und Michelle schmeißt gerade den Gaskocher an. Mitten im Feld trinken wir Wein und Bier und verschwatzen den Abend, während die Sonne langsam unter- und der Mond aufgeht. Die zwei Thüringer sind ein interessantes Pärchen. Robert war mal bei der Bundeswehr, Michelle bisher beruflich unentschlossen. Beide haben alles aufgegeben und brachen einfach auf. Jobs, Wohnung und das gewohnte Leben gegen Ungewissheit und Ausstieg. Find ich ja schon irgendwie geil. Allerdings denken beide mittlerweile darüber nach, nach Portugal auszuwandern. Robert hat wohl sowas wie ein Angebot einer portugiesischen IT-Firma. Na da. Ich drücke die Daumen.

Langsam wird es immer kälter. Der abendliche Wind zieht über das Feld, auf dessen Weite wir ihm gnadenlos ausgeliefert sind. Wir verabschieden uns und gehen zurück ins Dorf. Das war ein herrlicher Abend.

Als letzter Pilger unseres gesamten Schlafsaals gehe auch ich nach einem letzten Bierchen vor der Herberge gegen 22:00 Uhr ins Bett. Kinder und deren Eltern spielen noch auf dem Platz. Selbst die Allerkleinsten sind noch auf. Südländer halt. Ich bin raus. Reicht für heute.

Ich quälte mich heute 29 Kilometer entlang des Camino und man sollte immer Obacht geben: Thüringer sind überall.

03.09.2019 06:00 Uhr

Als Letzter ins Bett, als Erster wach. Mein Körper spielt völlig verrückt. Das für meine Verhältnisse frühe Schlafengehen bringt mich auch dementsprechend früh aus den Federn. Beziehungsweise aus den Gummibezügen der meisten Caminobetten. Fühlt sich lustig an, darin zu schlafen. Hauptsache die Bettwanzen hält es fern. Macht nichts, so bin ich wenigstens vollkommen ungestört bei der Morgentoilette. Selbst danach ist, außer den zwei putzigen Italienerinnen im Raum, noch keiner wach. Da ich nicht stören will, schnappe ich meine halb gepackten Sachen und gehe runter auf den Platz vor der Herberge. Ich hole mir erstmal einen Kaffee. Der einzige andere wache Gast ist der nervöse Ire. Auch er sitzt bereits draußen, raucht wie immer, zittert wie immer und blubbert mich mit irgendwas voll. Wenn ich nicht schon wüsste, dass das Englisch ist, würde ich auf eine Indianersprache tippen. Gesprochen von extrem besoffenen Indianern. Er heißt übrigens Dermot. Spielt keine Rolle. Für mich bleibt er der nervöse Ire.

Der Rest der Band findet sich gähnend langsam bei mir ein, während schon der zweite Kaffee meine Camino-Lebensgeister weckt. Egal wie schnell oder langsam wir einzelnen Wanderer tagsüber sind, wir versuchen zumindest immer gemeinsam aufzubrechen. Betonung auf versuchen. Los geht’s. Oben am Ortsausgang von Torres del Río steht noch immer das Zelt von Robert und Michelle. Nichts bewegt sich, die beiden werden wohl noch wohlig schlummern. Sollen sie.

Durch dorniges Gestrüpp geht es hinein in die ersten Weinberge des Tages. Die Region Rioja, mit dem angeblich besten Rotwein Spaniens und sogar der ganzen Welt, streckt ihre rebenbewachsenen Fühler schon nach uns aus. Bis auf Hanne, die heute sehr mit ihrer Sehne am rechten Fuß zu kämpfen hat, laufen wir dicht zusammen. Aber auch Alex und Inga schlagen sich mit Muskelkater oder anderen Zipperlein herum. Ich bin mir noch nicht ganz schlüssig, ob ich heute Schmerzen habe. Tja, ich habe ja gesagt, dass die letzten acht Kilometer gestern nicht nötig gewesen wären. Aber man lernt es eben manchmal nur auf die harte Tour.

Kurz laufe ich mit Jakob, dem dauerlaufenden Holländer. Der Mann ist echt fit. Seit Mitte Juni unterwegs und extrem gut in Form. Und der Jüngste ist er nicht mehr. Außerdem ist er einer der Wenigen, der einen noch kleineren Rucksack hat als ich. Nochmals meine größte Hochachtung für diesen willensstarken, fußgeplagten, aber immer fröhlichen Mann.

Auf der nächsten Anhöhe, auf der uns auch Hanne wieder einholt, sehen wir hinter den Weinbergen das erste Mal die Großstadt Logroño in der Ebene vor uns liegen. Weit vor uns liegen. Sehr weit vor uns liegen. Erneut ein Blick für die Ewigkeit. Ich hoffe nur, die Entfernung täuscht. Da wir schon gestern Abend Logroño als Ziel für den heutigen Tag ins Auge fassten, hoffe ich außerdem, dass die Zivilisation der Großstadt uns nicht so sehr ohrfeigt, wie dies in Pamplona der Fall war.

Durch die nächsten Weinberge geht es immer wieder mal hoch und mal runter. Es ist ein toller Weg. Meine Gefährten sind toll, das Wetter ist toll und meine Füße mögen mich heute sehr. So scheint es zumindest bisher. Die Blasen sind zwar noch nicht komplett verheilt, aber es scheint so ähnlich zu sein wie mit der Familie Targaryen in „Game of Thrones“: Jeden Morgen werfen die Caminogötter eine Münze. Je nachdem auf welche Seite sie fällt, fallen meine Füße entweder dem Wahnsinn anheim oder beflügeln mich. Befüßeln mich. Heute werde ich bisher sehr schön befüßelt.

Mitten im Nirgendwo, umgeben von Weintrauben und Morgentau, steht ein kleiner Imbisswagen. Wie beim Bananenmann in den Pyrenäen. Die Ortsansässigen wissen eben, an welchen Punkten des Weges man Geld machen kann. Hier lassen wir uns nieder. Da Strom Mangelware zu sein scheint, erhoffe ich mir von meiner Frage nach Kaffee nicht besonders viel. Eigentlich sogar nichts. Ohne mir eine Antwort zu geben, verschwindet der Wagenbetreiber um die Ecke. Vielleicht ist es in dieser Region möglich, frischen Kaffee aus Weintrauben zu zapfen. Man weiß ja nie, wie bestimmte Dinge in anderen Ländern so gehandhabt werden. Weit gefehlt. Ein lautes Dröhnen setzt ein. Der freundliche, stille Herr schmeißt einen großen Notstromgenerator an, der im Kofferraum seines geparkten Autos steht. Natürlich. Hat man halt hier. Dann zündet er seine kleine Kaffeemaschine und los geht's. Man muss eben einfach fragen.

Während wir unseren Notstromkaffee schlürfen, kommt einmal mehr Däne Diederik an uns vorbei. Wie immer freut er sich uns zu sehen und erzählt von den neuesten Entwicklungen auf seinem Dating-Profil. Eine kleine Macke hat er ja schon. Aber eine schöne. Einen neuen Wanderpartner hat er auch gefunden. Es ist ein brasilianischer Maler. Er malt allerdings unterwegs nicht. Er will nur den Weg in sich aufsaugen und vielleicht später wiederkommen, um am Camino zu malen. Cooler, aber sonderbarer Typ. Dieses surreale Gespann zieht weiter, eine Pause wollen sie hier nicht machen. Mich beschleicht das Gefühl, dass der Brasilianer der Einzige war, der auf mein Bild auf Diederiks Dating-Seite reagiert hat. Gruselig.

Auch für uns geht es bald wieder weiter. Weiter durch die Weinberge und zur Abwechslung ein viel zu langes Stück auf Asphalt direkt an der Straße entlang. Kurz unterhalte ich mich mit einer US-Amerikanerin aus Kalifornien. Sie steckt sich gerade eine Wildblume ins Haar und bekommt von mir ein Kompliment dafür. Als sie mich genauer mustert, freut sie sich sehr über die Blumen an meinem Rucksack. Ein schöner Moment. Warum allerdings bisher jeder dachte, dass ich jeden Tag frische Blumen pflücke, um sie mir an den Rucksack zu packen, bleibt mir schleierhaft. Als ob ich jeden Tag an einem Gewächshaus für exotische Blumen vorbeikäme. Ich glaube, dass eine biologische Form dieser Kunstblumen in der Natur sowieso nicht vorkommt. Aber wer weiß. Die beblümte Amerikanerin fragt mich, ob ich den ganzen Weg gehe. Ich bejahe und sage, dass ich bis nach Finisterre gehe. Sie hat nicht die leiseste Ahnung, was das ist. Das ist eine amerikanische Eigenart, die ich bisher schon öfters feststellte. Sehr viele von ihnen gehen den Weg, weil sie den Film „The Way“ gesehen haben. Und darin kommt Finisterre eben nicht vor. Ich erkläre ihr kurz, dass es im wahrsten Sinne des Wortes das Ende der Welt ist. Zumindest der mittelalterlichen Welt. Sie scheint sehr interessiert und ihr Gesicht drückt aus: Klingt gut, das mach ich vielleicht auch. Die paar Tage mehr... „I don' t give a fuck!“, sagt sie. Das ist noch ein schöner Moment. Ach, diese niedlichen Unwissenden.

Vor uns taucht das Städtchen Viana auf. Inga hat mich kurz zuvor überholt. Hat wohl heute wieder ein schnelles Tier gefrühstückt. Wir freuen uns über die schattige Abwechslung und stürzen uns in die kleinen Gassen der Stadt. Direkt vor der Kirche finden wir, wieder zu viert vereint, einen schönen Platz für unsere Pause. Es ist immer wieder erstaunlich. Auch wenn Viana ein etwas größeres Städtchen ist, jeder noch so kleine Ort, jedes noch so minimale Dorf hat eine gewaltige Kirche. Auch wenn Rom der Ursprung des katholischen Christentums ist, erst das Spanien des Mittelalters hat es richtig groß herausgebracht. Und seine Sakralbauten bezeugen dies bis heute. Die Pause hier wird großzügig ausgedehnt. Wären die bisherigen Kilometer heute nicht so wenige, dann würde ich hierbleiben. Viana ist wirklich traumhaft schön.

Nach der gelungenen Rast steigen wir aus der Stadt hinab und gehen wieder hinein in weite Weinfelder und staubige Straßen. Der Camino zieht sich weit, weit, wein durch die Weitfelder. Hä? Denken ist gerade schwer. Die Sonne knallt uns mal wieder ein zünftiges Loch in den Pelz. Logroño rückt näher. Aber nur sehr, sehr langsam. Die letzten Kilometer ziehen sich nur über Asphaltstraßen in der Hitze des Tages. Insgesamt betrachtet ist die heutige Strecke nicht sehr lang, aber wir sind alle ziemlich kaputt. Der gestrige Gewaltmarsch zeigt jetzt endgültig Wirkung bei jedem von uns. Die Glieder brennen.

Wir passieren die Grenze zur Weinregion Rioja und sind endlich in den ersten Ausläufern ihrer Hauptstadt Logroño. Überglücklich schauen wir von oben auf die ausufernde Metropole. Von weitem erkenne ich schon einen besonderen Ort. Bekannt durch Opa und auch durch andere Berichte über den Camino. Unter einem Feigenbaum finden wir einen schattigen Platz. Hier geben zwei ortsansässige Damen einen besonderen Stempel in die Pilgerpässe. Feigen, Wasser und Liebe steht im Motiv. Diese Besonderheit lassen wir uns nicht entgehen und besorgen uns nicht nur den Stempel, sondern auch sehr wohltuende, kalte Getränke. Wir scherzen ein wenig mit den Damen, deren erfrischende Herzlichkeit uns herrlich benetzt. Die ursprüngliche Besitzerin des Hauses und des Stempels verstarb 2003. Eine lokale und nationale Heldin. Seit ihrem Tod machen ihre Tochter und Enkelin weiter, um die Tradition aufrechtzuerhalten. Die Tradition und die Erinnerung. Wichtige Bestandteile des Camino.

Ich bin hier und jetzt einfach nur glücklich. Dieser Tag besteht aus Lahmheit des Körpers, aber auch kleinen, schönen Momenten. Alex ersteht bei den Feigendamen einen kleinen Flaschenkürbis, den er sich an den Stock bindet. Über diese Kleinigkeit freuen wir uns alle so sehr, als hätten wir schon den Camino in seiner Gänze geschafft. Wir sind völlig fertig, aber das heitert uns auf. Langsam nimmt die Gehhilfe Gestalt an. Mittelalterliche Pilger werden immer mit dieser Art Stock dargestellt. Der Flaschenkürbis zum Auffüllen des so wichtigen Trinkwassers und die unvermeidliche Jakobsmuschel. Beides an den Stock gebunden. Die Samen im Kürbis rasseln beim Laufen. Schön. Gehhilfe und Instrument.

Wir kämpfen uns nun die letzten Meter über harten Asphalt hinein in die Stadt. Ein Fußgängerüberweg weckt in mir wieder den Gedanken an die Santiago Road. Das Bild lässt mich einfach nicht los. Irgendwann kriegen wir es hin. Hier herrscht zu viel Verkehr, um ein Foto machen zu können. Also erstmal weiter hinein in die Stadt. Auf dem harten Pflaster Logroños rutscht plötzlich der Stock aus Alex‘ Hand. Der folgende Aufprall auf dem Boden tut sein Übriges und zerstört den kurz zuvor erstandenen Flaschenkürbis. Mist. Er hängt zwar noch, aber nur am wollenen Faden. Mist. Wird später geflickt.

Im Moment ist erstmal nur Ankommen wichtig. Wir suchen und finden recht schnell die Herberge Logroño. In Logroño. Verrückter Scheiß. Interessanter Laden. Mitten in der Stadt, direkt in der Haupt-Fußgängerzone. Erst im zweiten Stock finden wir die Anmeldung. Die Treppe hinauf ist ein absolutes Abenteuer. Spiralförmig geht es nach oben, das umlaufende Geländer ist marode und gibt bald der Schwerkraft nach, also Abstützen verboten. Die Treppenstufen sind gebogen und gewellt und die Kanten fallen beim Drauftreten fast ab. Wenigstens verläuft das Einchecken reibungs- und absturzlos. Hier gibt es mehrere Optionen. Sogar Einzel- und Doppelzimmer stehen zur Verfügung. Alex und Inga gönnen sich heute ein wenig Zweisamkeit in einem eigenen Zimmer. Hanne und ich gehen in einen der Schlafsäle. Diese Herberge ist trotz der Todesgefahr im Treppenhaus eine sehr gute Entscheidung. Frische Bettwäsche, ein richtiges Handtuch, Seife und Shampoo und eine riesige Dusche. Sogar ein Vorleger, für den glorreichen Moment des Duschaustritts, liegt bereit. Alles Normalität. In der Heimat. Aber auf dem Camino ist all das Luxus. Man braucht es nicht. Ich freue mich darüber, aber es muss nicht sein.

Nach der Körperpflege gehen wir hinaus in die Stadt. Es ist unglaublich angenehm. Sei es, weil Pamplona seit jeher ein Touristenmagnet ist, sei es, weil dort gerade Wochenende war, aber Logroño ist einfach anders. Es ist zwar viel los, aber eben… anders. Auf der Suche nach einem Supermarkt schlendern wir durch die Straßen und Gassen. Die einzigen Läden, die wir geöffnet vorfinden, sind Geschäfte für Süßigkeiten. Warum auch immer. Keine Option für das heutige Abendessen. Außer vielleicht für Hanne, das kleine Süßkram-Fressmonster. Aus Frust über die fehlende Einkaufsmöglichkeit und einfach nur um Zeit totzuschlagen setzen wir uns in eine Bar direkt vor der Kathedrale. Leck mich Logroño. Dann eben erst Bier.

Trinkend beobachten wir den Platz und die Kathedrale, die leider durch ein Baugerüst von der Öffentlichkeit abgetrennt ist. Aus der Ferne vom anderen Ende des Kathedralenplatzes winkt uns überraschend eine bekannte Gestalt zu. Es ist Mr. Florida, unser David. An meinem Feierabendhemd hat er mich schon aus großer Entfernung erkannt. Ob das gut oder schlecht ist, bleibt vorerst offen. Quasselnd wie immer, erzählt er uns von seiner Runde durch die Stadt. Er hat schon alles erkundet. Alles, was zumindest für ihn wichtig ist. Er redet und redet und redet. David fand eine Bar mit zwölf verschiedenen Fassbiersorten, Kelly und Heidi gehen ihm tierisch auf den Zeiger und schon ist er wieder weg. Nettes Gespräch.

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