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4. Der Wettbewerb bei Strom springt an: Die langfristigen Lieferverträge kippen

Entgegen allen Erwartungen sprang der Wettbewerb auf dem Strommarkt rasch an. Das lag allerdings nicht am Bundeskartellamt. Die „kartellrechtlichen Regeln“, mit denen es das Geflecht der langfristigen Energielieferverträge, das sich über ganz Deutschland zog, hätte aufreißen können, blieben ungenutzt. Das Anspringen des Wettbewerbs hatte vielmehr zwei Auslöser, die eigentlich gar nicht im Interesse der Konzerne lagen:

Einer war der „Fall Waldshut-Tiengen“. Die kleine Kommune an der Schweizer Grenze, traditionell beliefert vom Badenwerk in Karlsruhe, wollte auf Initiative ihres wagemutigen Stadtwerkschefs Karl-Heinz Schilling vom Schweizer Unternehmen atel beliefert werden, das auf der Basis schweizerischen Stroms aus Wasserkraft weit günstigere Bezugspreise anbot. So schnell sich die Anwälte mit dem Verhandlungsführer von atel, einem schweizerischen „Fürsprech“, vergleichbar unserem Syndikus-Anwalt, einigten, so schwierig gestalteten sich die Gespräche mit dem Badenwerk. Dieses wollte schon von vornherein sein Netz nicht für die zu importierenden Strommengen öffnen, solange der langfristige Liefervertrag zwischen den Stadtwerken und dem Badenwerk nicht gelöst war. Ein einstweiliges Verfügungsverfahren auf Netzöffnung hatte zunächst beim Landgericht Mannheim keinen Erfolg. Eine Anfrage beim Gericht zum Procedere bei einer Beschwerde brachte eine unerwartete Wendung: Das Gericht stellte im Hauptsacheverfahren zur Wirksamkeit des Vertrages – das Badenwerk hatte in Verkennung der Reichweite einer kartellrechtlichen Vorschrift, ganz ohne Not, eine entsprechende Feststellungsklage anhängig gemacht – eine rasche Terminierung in Aussicht. Mit seinem Urteil vom 16.4.199994 erklärte das Gericht nicht nur die in dem Vertrag vereinbarte Bezugsbindung an das Badenwerk für rechtswidrig, vielmehr sei auch der ganze Vertrag nichtig, weil die Bezugsbindung ein tragendes Merkmal des Vertrages war. Das Urteil war eine Sensation! Die Badenwerker schlichen mit hängenden Ohren aus dem Gerichtssaal. Waldshut-Tiengen triumphierte – und senkte mit dem Wirksamwerden des Liefervertrages tatsächlich die Preise, wie das Oberbürgermeister Albers in der Gemeinderatssitzung angekündigt hatte. So brachte der Wettbewerb greifbare Ergebnisse.

Die Loslösung aus den langfristigen Verträgen hätte den Stadtwerken allerdings nichts gebracht, wenn es keine Lieferanten gegeben hätte, die bereit waren, mit besseren Preisen Wettbewerb zu machen. Da passierte etwas völlig Unerwartetes: Zum RWE-Konzern gehört die Tochter Heidelberger Druckmaschinen mit Sitz in Heidelberg, mithin im Netzgebiet des Badenwerkes, das gerade mit der EVS zur Energie Baden-Württemberg (EnBW) fusioniert wurde. RWE verlangte von der EnBW, ihre Tochter unter Inanspruchnahme des EnBW-Netzes selbst zu versorgen. Die Bedeutung dieses Verlangens ging weit über den Wunsch nach Befriedigung des Energiebedarfs im eigenen Konzern hinaus. Denn RWE erklärte damit, dass der Konzern nicht länger gewillt war, das System der geschlossenen Versorgungsgebiete zu achten, das – bezogen auf die Konzernebene – ja zugleich die stillschweigende Abmachung enthielt, dass sich die „großen Schwestern“ keinen Wettbewerb machen würden. Der Vorstoß von RWE war daher sehr, sehr weitreichend – aber EnBW musste sich ihm wegen der Änderung des rechtlichen Rahmens fügen.

Das geschah freilich nicht ohne Revanche. EnBW machte vielmehr jedem Stadtwerk im bisherigen Versorgungsgebiet von RWE Lieferofferten, das um solche ersuchte. EnBW stellte dafür eigens eine Armada von Stromhändlern ein, die teilweise nicht viel vom Geschäft verstanden, sondern nur vom Auftrag getrieben waren, der EnBW Kunden zu verschaffen, koste es, was es wolle. Das war übrigens keineswegs Frucht einer kurzfristigen Taktik. Vielmehr verfolgte EnBW damit eine grundlegend neue Strategie, nämlich die, das eigene Versorgungsgebiet massiv auszuweiten. Diese Strategie wurde nicht allein in Stuttgart ausgeheckt. Vielmehr stand dahinter ein deutsch-französisches Joint Venture: Das Land Baden-Württemberg hatte nämlich seine 45 %ige Beteiligung an den vormaligen Konzernen EVS und Badenwerk, die nach Fusion an der EnBW bestand, an die Electricité de France (EdF) verkauft. Die EdF, die in Frankreich keinerlei Neigung erkennen ließ, sich dem Wettbewerb zu öffnen, unterstützte als Beteiligungspartner der EnBW die entgegengesetzte Vorgehensweise. EnBW gründete Yello, eine Handelstochter mit Sitz in Köln, deren Aufgabe vor allem die Gewinnung von Haushalts- und kleineren Gewerbekunden war. Dafür wurde eine – nach Ansicht von Branchenexperten unsinnig teure – Werbestrategie aufgelegt. Mit der Formel 19/19 – 19 DM als monatlicher Grundpreis, 19 Pf. als Preis für die Kilowattstunde – wurden attraktive Angebote in den Raum gestellt und in Werbespots vor der Tagesschau aggressiv beworben. Freilich war der Anfang nicht so einfach. Zwar musste der wechselwillige Kunde lediglich eine Postkarte losschicken, mit der er nicht nur erklärte, Strom von Yello beziehen zu wollen, sondern auch die bisherigen Lieferdaten übermittelte und vor allem eine Vollmacht erteilte, den bisherigen Liefervertrag zu kündigen. Aber schon das war ein unübersichtlicher Vorgang, weil die Kunden erst lernen mussten, dass sie mit dem Wechsel des Versorgers keineswegs einen Zusammenbruch der bisherigen Netzverbindung befürchten mussten – und die Angst unbegründet war, dass bei einer Störung im Netz der bisherige Netzbetreiber (und Lieferant) nicht zur Stelle wäre.

So konnten nicht nur die Stadtwerke Solingen Strom für 3,6 Pf. für die Kilowattstunde beziehen, und zwar in einem längerfristigen Liefervertrag mit Verlängerungsoption. Auch zahlreiche andere Stadtwerke versorgten sich günstig mit EnBW-Strom. EnBW schickte sich auch an, in die Industriekundenklientel einzudringen. Etwa die Hälfte der deutschen Stromproduktion wird ja von Industriekunden und Stadtwerken aufgenommen. Die EnBW-Angebote waren häufig etwas günstiger als die der Konkurrenz. So gelang es EnBW Stück für Stück, das Liefervolumen auszuweiten. Für dieses Liefervolumen griff EnBW auf die Ressourcen der EdF zurück, daran erkennbar, dass EnBW der größte Stromimporteur war, und überdies Strom an der Leipziger Strombörse zukaufte. Die Yello-Preise sind allerdings inzwischen Geschichte.

RWE beobachtete dieses Treiben allerdings keineswegs widerstandslos. Vielmehr wurde der Fehdehandschuh aufgegriffen – und davon profitierte vor allem die Südweststrom GmbH, eine Tochter der Tübinger Stadtwerke, die unter ihrem tatkräftigen Chef Friedrich Weng bald zahlreiche baden-württembergische Stadtwerke zu ihren Gesellschaftern zählen konnte. EnBW hatte nämlich – vor dem Hintergrund der einmal eingeschlagenen Strategie durchaus folgerichtig – die zunächst eingelegte Berufung gegen das Urteil des Mannheimer Landgerichts in der Sache Waldshut-Tiengen zurückgenommen. Das war ein Signal an alle wechselwilligen Stadtwerke; sie liefen nicht das Risiko, auf Abnahme des langfristig kontrahierten Stroms verklagt zu werden, sondern genossen die neuartige Wahlfreiheit. Binnen kurzer Zeit wechselte etwa ein Drittel der baden-württembergischen Stadtwerke den Lieferanten.

Lieferant war freilich nicht allein RWE mit seinem günstigen Braunkohle- und Atomstrom. Braunkohlestrom konnte vielmehr günstig auch von der VEAG bezogen werden, an der RWE beteiligt war, Vorgängerin der heutigen Vattenfall. Es gab aber auch zahlreiche andere neue Player am Markt, etwa ENRON, eine Tochter des amerikanischen ENRON-Konzerns, die über keinerlei Eigenerzeugung verfügte, sondern Strom europaweit aufkaufte. Über die Bezugsmöglichkeiten und Lieferpreise orientierte das alltäglich erscheinende ENRON-Stromfax, in dem für die jeweiligen Standorte Lieferpreise ausgewiesen waren. Andere Lieferanten, die sich vor allem an Haushaltskunden wandten, waren Zeus, Riva, Best Energy – und die kleine Berliner Ampere AG, die später mit einer kühnen Aktion von sich reden machen sollte.

Die PreussenElektra und das Bayernwerk beteiligten sich an diesen Umbrüchen allerdings nicht in gleicher Weise. Das Bayernwerk verfügte über in langen Jahren gewachsene Lieferbeziehungen zu Stadtwerken, die – eine bayerische Besonderheit – kommunale Eigenbetriebe waren, also eher wie ein Amt der Stadtverwaltung organisiert, ohne privatrechtliche Gesellschaftsstruktur. Selbst die Münchener Stadtwerke, mit einem Absatz von etwa drei Mrd. kWh nach der Berliner Bewag – die man allerdings nicht als Stadtwerk bezeichnen kann – das größte deutsche Stadtwerk, war bis 1998 ein Eigenbetrieb. In der bayerischen Stadtwerksorganisation KEA wurden daher Wechselavancen zurückhaltend gesehen.

Anders war das bei den PreussenElektra-Töchtern Energie-Aktiengesellschaft Mitteldeutschland (EAM) mit Sitz in Kassel, an der bis 2005 Landkreise mit 54 % die Mehrheit hielten, und HASTRA in Hannover, die mit ca. 64 % zum Preussen-Elektra-Konzern gehörte. Die EAM-Strombezieher, eine Arbeitsgemeinschaft von gut 20 Stadtwerken in Nordhessen und Süd-Niedersachsen, luden zu einer Strom-Konferenz ein, auf der vier Lieferanten ihre Lieferbereitschaft und Preise bekannt geben sollten. Dazu zählte vor allem VASA, eine Stromhandelsgesellschaft, in der schwedisches Kapital steckte, sowie die EAM, die wohlweislich als Letzte auf die Tagesordnung gesetzt worden war. So hatten die Stadtwerke schon die Lockangebote der Konkurrenten gehört, auf die die Vorstellungen der EAM folgten. Dargeboten wurden diese freilich nicht von einem EAM-Mitarbeiter, sondern von einem (der wenigen) PreussenElektra-Strategen, der die Festlegungen des Konzerns bekannt gab. Diese waren allerdings nicht rundweg abzulehnen; vielmehr näherte sich die Preisstellung deutlich den Preisen der Konkurrenten (mit Aussicht auf Verbesserung). Dahinter war die Strategie zu erkennen, dass PreussenElektra die Zeichen der Zeit begriffen hatte: Die Stadtwerke sollten nicht mit der Drohung bei der Stange gehalten werden, in jedem Einzelfall um die Loslösung aus dem Vertrag kämpfen zu müssen. Vielmehr wollte man die Stadtwerke mit guten Konditionen bei der Stange halten – und so die Lieferbeziehungen retten. Diese Strategie hat denn auch über Jahre hinweg funktioniert; wobei sich die Kundenpflege auszahlte, die EAM mit Kundenveranstaltungen betrieben hatte, endend in opulenten Essen.

Der Preiskampf war allerdings für ein Unternehmen wie EnBW nicht lange durchzuhalten. EnBW ist der kleinste der – verbliebenen – vier Konzerne und verfügt nur etwa über 10 % der deutschen Kraftwerkskapazitäten, zu denen freilich mit Philipsburg, Neckarwestheim und – bis 2005 – Obrigheim drei Kernkraftwerke mit ihrem Strom zählten, der Herstellungskosten von maximal 3 bis 3,5 Pf/kWh aufweist. Dabei handelte es sich um Grundlaststrom; Kohlekraftwerke für die Mittellast und Gaskraftwerke für die Spitzen sind im EnBW-Konzern nicht viele vorhanden. Das Niveau der Einkaufspreise bei EdF und an der Börse lag sicherlich über den eigenen Produktionskosten. Dazu kamen einige teure Akquisitionen: So kaufte sich EnBW mit letztlich 54,95 % bei den Stadtwerken Düsseldorf ein. Dazu erwarb Konzernchef Goll die notleidende Schuhfabrik Salamander, wofür freilich wohl nicht energiestrategische Überlegungen ausschlaggebend waren, sondern die Freundschaft von Goll zu Salamander-Chef Dazert. So sackte das Eigenkapital des Konzerns immer mehr zusammen und landete schließlich bei ca. 6 % – was Konzernchef Goll den Job kostete. Aber auch sein Nachfolger Utz Classen hielt an der Expansionsstrategie fest und kaufte Beteiligungen an den Stadtwerken Monheim und Hilden. Salamander freilich wurde verkauft.

Irgendwann einmal müssen sich die Vorstände und RWE und EnBW getroffen haben, um den aggressiven Wettbewerb zu beenden. Die Verständigung könnte so gelautet haben, dass für die Preisbildung der Konzerne im Grundsatz die Preisstellungen der Leipziger Strombörse EEX maßgeblich seien. Der neue Konzernchef Roels erklärte, „das Preisdumping war ein Fehler“.95 Seit dieser Zeit stiegen die Preise kontinuierlich bis zur Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 an, angetrieben von den Preisfindungen an der Börse – an der wohl nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist.

5. Und die langfristigen Gaslieferverträge?

Die Gaswirtschaft beobachtete das Treiben auf dem Strommarkt fassungslos bis entsetzt. Wie konnte man das schöne Oligopol, die über Jahrzehnte aufgebauten Demarkationen, die gewachsenen Lieferbeziehungen binnen weniger Wochen aufkündigen und sich in einen ruinösen Preiswettbewerb stürzen? In Essen, im Haus der Ruhrgas, aber auch bei allen anderen Ferngasgesellschaften, war klar: Das machen wir nicht mit. Wir verteidigen den Gebietsschutz und die langfristigen Verträge. Das war auch die erklärte Strategie des Bundesverbandes Gas- und Wasserwirtschaft (BGW). Aber es gab eine Ausnahme: Das war die WINGAS in Kassel, ein Gemeinschaftsunternehmen der BASF-Tochter Wintershall und der Gazprom Germania mit einer Mehrheit von einem Anteil für Wintershall. Gegründet 1993 dehnte sich die WINGAS schnell aus und ist heute aktiv in Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Österreich, der Tschechischen Republik und Dänemark.

Entstanden war sie, weil sich die BASF über die hohen Gaspreise der Ruhrgas und der Gasversorgung Süddeutschland (GVS) zur Versorgung des Unternehmensstandorts Ludwigshafen ärgerte. Der Konzern beschloss, selbst in den Gashandel einzusteigen. Dafür war allerdings – lange vor der Liberalisierung – eine eigene Pipeline nötig. Denn die Ruhrgas war entschlossen, den Zugang zu ihrem Netz nur mit ihr verbundenen Unternehmen zu gestatten. Die BASF nahm in der Tat mehrere Milliarden DM in die Hand und baute nach dem Abschluss entsprechender Lieferverträge mit der Gazprom zunächst eine Pipeline zur Versorgung des Werks Ludwigshafen, und zwar Ende der 80iger, lange vor der Liberalisierung. Erst nach ihr stieg die BASF mit ihrer Tochter Wintershall in den Gashandel ein und baute zwei Pipelines, die Sachsen-Thüringen-Erschließungsleitung (STEGAL) und die MIDAL für die Erschließung von Mitteldeutschland. Später kam der größte unterirdische Erdgasspeicher Westeuropas im niedersächsischen Rehden dazu. Dann baute die WINGAS zusammen mit E.ON die Ostsee-Pipeline Nord Stream; Vorsitzender des Aktionärsgremiums dieser Gesellschaft ist Gerhard Schröder, ferner die Norddeutsche Erdgasleitung (NEL) und die Ostsee-Pipeline-Anbindungs-Leitung (OPAL). Das waren unternehmerische Entscheidungen erster Güte – aber sie trafen auf ein geschlossenes Netz von langfristigen Gaslieferverträgen der etablierten Konkurrenz, insbesondere Ruhrgas, BEB, GVS etc. Diese Unternehmen wollten ihre Verträge nicht nur mit rechtlichen Mitteln verteidigen. Stadtwerke, die auch nur im Ansatz Überlegungen erkennen ließen, den Versorger zu wechseln, erhielten Rabatte und Bargeldzahlungen, getarnt als „Marketing-Zuschüsse“. Für die WINGAS war der Markteintritt also gar nicht einfach.

Da trat ein anderer wagemutiger Stadtwerks-Chef auf den Plan, Dieter Attig, Vorstandsvorsitzender der Stadtwerke Aachen AG (STAWAG). Auch die STAWAG verfügte über einen langfristigen Gasliefervertrag, und zwar bei der RWE-Tochter Thyssengas. Die Thyssengas war nicht bereit, Gasmengen freizugeben und folgte damit der Verschwörung der Gaswirtschaft. Die STAWAG ließ sich aber, rechtlich beraten, auf das Risiko ein und bestellte Gas in erheblichen Mengen bei der WINGAS – wohl wissend, dass die Klage der Thyssengas unmittelbar folgen würde.

Und in der Tat: Auch die vorsichtige Strategie der STAWAG, zunächst von der WINGAS nur ein Drittel des Bedarfs zu beziehen und mit dem Rest bei der Thyssengas zu bleiben, wurde von dieser nicht akzeptiert. Sie klagte auf Einhaltung des Vertrages. Der Vertrag war konstruiert wie viele andere auf dem Gasmarkt auch: Ursprünglich enthielt dieser Vertrag aus dem Jahr 1984 eine Verpflichtung, den gesamten im Versorgungsgebiet anfallenden Gasbedarf nur von der Thyssengas zu beziehen, eine sogenannte „rechtliche Gesamtbedarfsdeckungsverpflichtung“. Anstelle dieser Klausel wurde nach einer Intervention des Kartellamtes im Jahre 1997 vereinbart, eine feste Vertragsmenge zu beziehen, die – welcher Zufall – genau der bisher insgesamt von der STAWAG bezogenen Menge entsprach, eine sogenannte „wirtschaftliche Gesamtbedarfsdeckungsverpflichtung“. Nur: Auch mit dieser Klausel wurde der wirtschaftliche Erfolg der vorherigen garantiert, nämlich keinen Wettbewerber ins Geschäft zu lassen. Nachdem nun der Vertrag der STAWAG mit der WINGAS abgeschlossen war, begehrte die Thyssengas beim Landgericht Köln die Feststellung, dass der Gasbezugsvertrag insgesamt wirksam sei. Aber: Die STAWAG obsiegte.96 Und auch in der nächsten Instanz, beim Oberlandesgericht Düsseldorf, unterlag die Thyssengas im November 2001.97 Das Gericht beschäftigte sich in seiner sehr gründlichen Entscheidung zunächst mit den gesamten Einzelheiten des Vertrages und des Marktes, auf dem er abgeschlossen war. Dann folgte eine Analyse der langfristigen Bezugsbindung, der der Kartellsenat des OLG attestierte, sie verstoße nicht nur gegen das deutsche Kartellrecht98, sondern auch gegen das entsprechende europäische Recht, nämlich die Art. 81 Abs. 1 und 2 EG. Das Verfahren hatte übrigens der inzwischen in Pension gegangene Vorsitzende der 8. Beschlussabteilung beim Bundeskartellamt, Markert, kritisch begleitet. In seiner Anmerkung zum Urteil des OLG Düsseldorf99 stellte er die Situation auf dem Gasmarkt und die dazu bereits vorliegenden Entscheidungen dar. Danach konnte es kaum zweifelhaft sein, dass das OLG rechtlich auf der absolut sicheren Seite war.

Diese Entscheidung war auch deswegen bedeutsam, weil das OLG Düsseldorf dasjenige Gericht ist, bei dem Beschwerden gegen Entscheidungen des Bundeskartellamts landen. Das Bundeskartellamt hätte also, wäre es gegen langfristige Gaslieferverträge vorgegangen, sicher sein können, dass es beim OLG Düsseldorf gewinnt. Außerdem war bekannt geworden, dass auch das OLG Stuttgart der – späteren – Rechtsauffassung des OLG Düsseldorf zuneigte. Schon in einem Berufungsverfahren in einem Stromfall hatte das OLG Stuttgart nämlich zu erkennen gegeben, dass es die in einem Altvertrag vereinbarte Gesamtbedarfsdeckungsverpflichtung eines Weiterverteilers als Verstoß gegen § 1 GWB betrachtete.100 Auch in einem Gas-Fall, angepackt von dem tatkräftigen Geschäftsführer der Stadtwerke Schwäbisch Hall, Johannes van Bergen, beurteilte das OLG Stuttgart die Rechtsfrage im kommunalen Sinne.101 Im Revisionsverfahren vor dem BGH ließ dieser deutlich erkennen, dass auch er die Position der Stadtwerke und die Argumente ihrer Anwälte für richtig hielt. Außerdem argumentierte auch das Bundeskartellamt vor dem BGH im Sinne der Stadtwerke. Aber es kam zu keinem Urteil: Auf Betreiben der Ruhrgas, die wieder einmal das Füllhorn ausgeschüttet haben soll, wurde die Revision der Stadtwerke zurückgenommen. Eine Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs war damit verhindert.

Obwohl das Bundeskartellamt für eine nunmehr bundesweite Beanstandung der langfristigen Verträge sicheren Boden unter den Füßen gehabt hätte, rührte es sich nicht. Stadtwerke, die den Versorger wechseln und am Wettbewerb teilnehmen wollten, waren also nach wie vor auf eigenes Risiko unterwegs. Aktiv wurde das Amt erst mit einem Auskunftsersuchen vom 1.12.2003, mit dem es die Vertragsverhältnisse der in Deutschland tätigen 15 überregionalen und regionalen Ferngasunternehmen auf den Weiterverteilermärkten untersuchte. Und dann dauerte es weitere zwei Jahre, bis am 13.1.2006102 eine Verfügung gegen die Ruhrgas erging, mit der das Amt feststellte, dass verschiedene Gaslieferverträge der Ruhrgas hinsichtlich langjähriger Bezugsverpflichtungen und tatsächlicher Bedarfsdeckungen in ihrer Kombination gegen Art. 81, 82 EG und § 1 GWB verstießen. Die Ruhrgas wurde verpflichtet, die Durchführung solcher Verträge bis spätestens zum 30.9.2006 abzustellen – eine äußerst großzügige Übergangsfrist. Ferner wurde festgelegt, dass die Ruhrgas bei Verträgen mit einer Liefermenge von mehr als 200 GWh pro Jahr die Laufzeit nicht länger als vier Jahre festlegen dürfe, wenn der Bedarf des Abnehmers zwischen 50 bis 80 % liege, und nicht mehr als zwei Jahre, wenn der Bedarf 80 % überschreite. Klar: Die Ruhrgas klagte gegen diese Verfügung vor dem OLG Düsseldorf. Und sie verlor103; und genauso beim BGH.104 Damit waren die Verhältnisse geklärt – und die Ruhrgas konnte nicht mehr, wie bisher, die anderen Wettbewerber an die Wand drücken.

Aber was passierte: Das Bundeskartellamt erklärte knapp zwei Jahre später, auf eine Befragung von über hundert Marktteilnehmern verweisend – darunter große Gasgesellschaften, ausgewählte Wettbewerber und Kommunal- und Regionalversorger –, die Ruhrgas dürfe nun wieder Stadtwerke und Regionalversorger beliebig lange und intensiv an sich binden.105 Handlungsbedarf hatte bestanden, weil die Bindungswirkung der Verfügung, die bis zum 30.9.2010 befristet war, nicht verlängert werden sollte. Zugleich aber prangerte der neue Kartellamts-Präsident Mundt, nach der Regierungsübernahme von Schwarz-Gelb ins Amt gekommen, die „extreme Sozialschädlichkeit von Kartellen“ an.106 Der Beobachter wundert sich, die Wettbewerber der Ruhrgas ärgern sich, aber beim Amt herrscht offenbar die Erwartung, dass Ruhrgas in den vergangenen zwei Jahren den Wettbewerb geübt habe und auf den Geschmack gekommen sei ...

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