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Ohrfeigen und Kaffee

Tizian brettert über freie Bürgersteige, fährt gehorsam bei jeder Farbe des Regenbogens über Ampeln, schlängelt sich zwischen Autos und Lastern hindurch und weicht dem Apfel aus, den ein schimpfender Radfahrer nach ihnen wirft.

»Go, Baby!«, schreit Aja in Tizians Ohr. »Nun mach schon, hüa!« Sie klammert sich an ihm fest, ihr Haar flattert und schlägt ihr ums Gesicht, da war keine Zeit, den Helm aufzusetzen, der nach Lissa riechen muss. Trotzdem kann sie nicht anders, als ihr dankbar zu sein. Lissa wollte sie wiederbeleben! Was, wenn sie die Zicke falsch eingeschätzt hat? Tizians Wärme sickert durch ihre dünnen Klamotten, aber Aja spürt sie wie etwas, das nichts mit ihr zu tun hat. Sie ist schuld, dass sich ihr Paps das angetan hat, sie hätte ihn gestern beim Deutschgriechen nicht anschreien dürfen.

Vor einem aus dem Osten rübergemachten Plattenbau bremst der Roller. Aja springt ab. Alle Fenster liegen im Schatten, als trauerten sie schon. Der Krankenwagen ist noch nicht da. Sie hämmert so lange auf die Klaviatur der Klingeln, bis jemand ihr öffnet.

Rein, Aufzug, wo bleibt der blöde Aufzug, komm schon, komm schon, komm schon, Ping, sie springt hinein, Tizian schafft es gerade noch durch die Tür.

Ping, und raus, Musik hämmert ihnen entgegen, eine Tür, zwei Türen, ein Sitzkissen in der Form eines Schnittes Schweizer Käse, drei Türen, die Vierte, dahinter pumpt die Musik, klingeln, nun mach schon auf, mach schon, die Klingel ist doch im Eimer, sie tritt gegen die Tür, ruft Paps und Gadd und alle Kosenamen und Flüche, die ihr einfallen, bis sie es endlich geschafft hat, ihren Schlüssel ins Schloss zu fummeln und aufzuschließen.

Sie rennt in eine Wand aus Alkoholdunst und Musik. In die Tür des Wohnzimmers ragt ein nackter Fuß, und es erleichtert sie verrückterweise, dass noch kein Schildchen an der Zehe hängt wie in den Leichenhäusern.

»Paps?«

Gadd röchelt schwach, aber sicher ist Aja sich nicht, und sie brüllt:

»Mach die Musik aus!«

Tizian schaltet die Anlage ab, und die Stille rauscht so plötzlich herein wie die Klappe, die sich unter einem Gehängten öffnet. Ihr Paps gibt keinen Mucks von sich.

Aja tätschelt seine Wangen, dann schlägt sie ihn fester. Sie ist wütend auf ihn und wütend auf sich und verzweifelt und panisch. Sie legt zwei Finger an seinen Hals. Der Puls wischt so sanft an wie die Besen eines Jazz-Schlagzeugers.

»Kreislauf stabilisieren«, ruft sie. »Wir müssen ihn auf die Beine schaffen, hilf mir.« Es ist nicht das erste Mal, dass sie ihren Paps so findet. Zweites Stadium, Hypnose sagt der Fachmann, mehr als zwei Promille Dreckzeug im Blut. Sie könnte Sarytchew Wiederbelebung bei Alkoholvergiftung als Projekt vorschlagen, das zumindest hat sie drauf. Beim letzten Mal lag ihr Paps unter dem Kicker von Tsongas Sportsbar und in einer ziemlichen Sauerei und Aja hat sich schlimmer fremdgeschämt als beim Dschungelcamp. Nicht halb so schlimm wie jetzt vor Ti.

Gemeinsam und nach mehreren Versuchen schaffen sie es, Gadd hochzuheben. Seit Monaten päppelt Aja ihn mühsam auf, doch gerade ist sie froh, dass sie kaum ein Pfund auf seine Rippen gekriegt hat.

»Ich bin wach«, murmelt Gadd, und Aja ohrfeigt ihn. Sie hofft, das bringt seinen Kreislauf wieder auf Touren. Vor allem aber hofft sie, dass ihm die Ohrfeige wehtut. Warum tut er ihr diese Scheiße immer und immer wieder an?

»Ich koche Kaffee«, sagt sie zu Tizian, »und du läufst mit ihm hin und her.«

»Soll ich ihn ohrfeigen?«

»Nur wenn er anfängt zu singen.«

»Singen?«, murmelt Gadd und fängt an: »Singin’ all day, singin’ ’bout nothin’ ...«

Klatsch!

Dann sagt Gadd noch etwas, was Aja nicht versteht, aber Tizian wohl schon, denn er scheuert ihm Number Two.

»Was hat er gesagt?«

»Willst du nicht wissen.«

Aja rennt in die Küche. Wo bleibt der Krankenwagen? Während sie die Maschine anwirft, fühlt sie wie einen Geist Tizians Körper vor ihrem, wie er seinen Rücken gegen sie drückt, nein, es ist sein Nicht-mehr-da-Sein, das sie fühlt.

Gadd muss überleben. Und Ti muss ihr gehören. Sie braucht sie beide, wie ein Löffel im Besteckkasten den Löffel vor sich und den hinter sich braucht.

»Lebt er noch?«, ruft sie.

»Er sabbert auf mein Hilfiger-Shirt.«

»Gutes Zeichen.«

Wo bleibt nur der ...

»Wir sind da!« Durch die offene Wohnungstür stürmt Flash herein, zwei Männer in Leuchtorange mit einer Trage poltern hinter ihm in den Flur. Im selben Moment klappt ihr Paps zusammen, Tizian kann ihn allein nicht mehr halten. Flash springt ihm bei, und sie schleppen die Promille mit Paps drum herum zur Trage.

»Atemstillstand«, ruft der Sanitäter. »Intubieren.« Der Notarzt schiebt Gadd das Röhrchen am Ende eines schwarzen Gummiballons in den Mund und sagt zu Flash, ganz ohne Singen oder Brüllen: »Wir tragen deinen Vater runter, du pumpst hier den Ballon, schön gleichmäßig.«

»Deinen Vater?«, fragt Aja, und Flash, der rot werden sollte oder bleich, sagt ungerührt: »Die nehmen nur nahe Verwandte mit.«

»Danke, nein, aber ich habe schon einen Bruder, einen toten, jetzt brauche ich einen Vater, und zwar einen lebendigen.«

Im Aufzug ist kein Platz mehr für sie und Aja springt die Treppe nach unten. Eine Minute später sitzt sie im Rettungswagen und hält Gadds schlaffe Hand. Immerhin atmet er wieder selbständig. Der Sani legt eine Kanüle. An der offenen Hintertür des Wagens rollt Tizian vorbei und winkt, er wird sich um Lissa und Philomena kümmern. Ihr Held! Als Flash einsteigen will, stellt Aja sich ihm in den Weg.

»Nur nahe und Blutsverwandte«, sagt sie.

»Ich blute.« Er deutet auf seinen aufgeschrammten Ellbogen. »Reicht das?«

Sie zieht die Tür vor seiner Nase zu.

»Wie ist deine Schwester denn drauf?«, sagt der Fahrer. »Du kannst vorne mit.«

Der erste Blitz und das Inder-Ehrenwort

Aja hält die drei schweren Einkaufstüten von Mediamarkt und Saturn fest, die ihr wieder und wieder gegen die Beine kippen. Blödes Elektrozeugs. Hat vermutlich der letzte Fahrgast vergessen oder spontan vererbt. Sie würde sich lieber die Ohren zuhalten, Martins Horn heult auf dem Dach wie ein Wolfsrudel beim Karaoke.

Ihr Paps? Reißt sich die Atemmaske vom Gesicht und krächzt:

»Habt ihr keine andere Musik?«

Der Notarzt drückt ihm aus einer Plastikflasche mit Trinkrohr was Flüssiges in den Mund. Trotz seiner mächtigen Stimme ist er jung, und sein wuscheliges Haar sieht aus, als würde es gerne noch mehr verwuschelt werden. Keine Chance, er wirkt so uncool, als könnte er sich im nächsten Moment spontan selbst entzünden.

»Bäh, das ist Wasser!« Gadd spuckt.

»Ich bin nicht so wählerisch«, sagt Aja zum Arzt und sperrt den Mund auf.

Der Arzt – auf dem Namensschild steht Dr. Bernstein – ignoriert sie.

»Wie heißen Sie?«, fragt er Gadd.

»Erkennen Sie ihn nicht?« Aja beugt sich über ihren Vater und drückt ihm einen Kuss auf die ... aufs Ohr. Blöde Bodenwelle! »Das ist Gadd Freumbichler.«

»Er will nur überprüfen, ob dein Vater keinen Hirnschaden hat«, sagt Flash von überall her. Über die Gegensprechanlage klingt er tatsächlich wie Big Brother.

»Ich werde dafür sorgen, Bruderherz«, ruft Aja, »dass er dich für den Hirnschaden enterbt. Sag ihm, wie du heißt, Paps.«

»Steve Gadd.« Seine Stimme klingt noch kratzig, aber wieder kräftiger. »Ich habe einundachtzig mit Paul und Art im Central Park gespielt. Vor einer halben Million Menschen.«

»Stimmt das?«, fragt Doc Bernstein.

Aja nimmt ihm das Wasser ab und sprüht sich welches in die ausgetrocknete Kehle.

»Klar, er hat schon überall gespielt.«

»Fifty Ways To ... To Leave Your Lover, hört euch ... hört euch das fette Schlagzeug darauf an.«

Ein warmes Gefühl für diesen uneinsichtigen, schwachen, peinlichen, genialen, wunderbaren Trottel überschwemmt Aja und die Gewissheit, dass sich dieses Gefühl nie ändern wird.

»Er hat nichts am Hirn«, sagt sie und blinzelt etwas Feuchtes weg. »Er hat es bloß in Tequila eingelegt.«

»Dich möchte ich weder zur Tochter noch zur Schwester«, verkündet Berni. Er scheint in einem anderen Wagen zu fahren als Aja, nur seine Locken wippen, während sie hin und her geschüttelt wird wie ein Cocktail bei der Barkeeper-WM – Bloody Aja.

»Manchmal hat man keine Wahl«, sagt sie. Familie kann man sich nicht aussuchen und Familienkatastrophen schon gar nicht.

»Aber Eddie«, murmelt Gadd, »Eddie nicht ...«

»Eddie?«, fragt Aja. »Welcher Eddie? Was ist mit Eddie?«

»Nicht einschlafen«, sagt Doc Berni und sprüht Gadd Wasser auf die Stirn.

»Dieser ... dieser Kerl, der mich geschlagen hat«, er sieht sich um, aber er scheint Aja nicht zu sehen, »ist das dein Freund?«

»Darauf kannst du deinen letzten Cuervo Gold verwetten.«

»Er hatte Recht, mir eine zu scheuern, ich ... ich habe etwas gesagt, was ich nicht sagen durfte, niemals.«

»Richte ich ihm aus.«

»Über ... über dich.«

»Was?«

»Versprich mir«, sagt ihr Paps, und dann singt er: »Dein Projekt, zeig es ihnen, hörst du.«

»Klar, Mann«, sagt sie und drückt seine Hand.

»Sie sind Sänger?«, fragt der Doc. »Ich habe Gesang studiert, aber dann ...«

»Du bist eine ausgebuffte Lügnerin«, unterbricht ihn Gadd, »ich traue dir nicht.«

»Ich verspreche es dir, Paps«, sie zieht eine Schachtel aus einer der Tüten, ein Smartphone, »hoch und heilig und großes Finnen-Ehrenwort auf dieses Nokia: Ich werde mich maximal reinhängen bei dem, ähm, Projekt.«

»Du kippst meinen Whisky aus und füllst die Flaschen mit Tee auf. So einer traue ich jede Schweinerei zu.« Er greift ihre Hand, er ist so schwach. »Versprich es mir richtig.«

Sie weiß, was er hören will, aber sie will sich nicht zu etwas verpflichten, was sie nicht einhalten kann. Der richtige Schwur ist ihr heilig und das weiß ihr Paps genau.

»Nun versprich es ihm schon«, sagt Flash über die Anlage, und Berni summt beipflichtend ein tiefes Dis.

Sie kann nicht. Sie lächelt ihren Paps an, streicht über seinen Kopf. Er schließt die Augen. Die Luft hier drin wird immer weniger.

»Erzähl ihm was«, sagt Singing Doc.

»Was ...« Sie befragt Groß-, Klein- und Stammhirn, aber alle sind so leer wie die Dessertteller nach dem letzten Gang im À la mode. »Paps, bitte ...«

»Das erste Mal ...«, schallt es aus der Sprechanlage, und Gadd reißt die Augen auf. Flash muss den Ton voll aufgedreht haben. »Das erste Mal hat mich der Blitz getroffen, da war ich vier. Ich bin aufs Dach unseres Stalls geklettert. Ich war kaum oben, da rauschte das Gewitter los. Mama hat nach mir gerufen, und die Ziegen haben unruhig gemeckert. Das war noch vor unseren Eseln.«

»Dreh mal einer den Quatschkopf im Radio leiser«, sagt Gadd. Er hat das Gesicht verzogen. Hauptsache, er bleibt wach.

»Ich gehe auch gern in ein Musikgeschäft«, sagt Flash, die Anlage verzerrt seine Stimme. »Ich haue auf den Pauken herum. Klingt wie Donner.«

»Musst deine Pauken mal stimmen«, sagt Gadd leiser. »Wie geht es jetzt mit den scheiß Eseln weiter?«

»Die kommen später«, sagt Flash. »Der Junge auf dem Dach fängt an zu weinen. Seine Angst rettet ihn, weil er sich, nun ja, vor Angst in die Hose macht. Und als seine Mutter im Stall nach ihm sucht, tropft es ihr auf den Kopf.«

»Gute Story«, sagt Aja grinsend. »Was, Paps?«

»Statt sich hinzukauern«, erzählt Flash weiter, »krabbelt der kleine Flash, der damals noch Fabian heißt, zur Spitze des Satteldachs. Er streckt die Hand aus, weil die Blitze so schön aussehen, wie Leuchtstift-Kritzeleien des lieben Gottes. Er muss sie anfassen, unbedingt.«

Gadd ist hellwach.

»Der Blitz schlägt in seine Finger, fließt außen an ihm ab ins Dach und bricht ein Loch hinein. Durch das Flash in die Arme seiner Mama fällt.«

»Schöne Geschichte«, sagt Berni. »Was ist mit den Sanis, die den Jungen ins Krankenhaus fahren?«

»Was ist jetzt mit den scheiß Eseln?«, fragt Gadd.

»Das erzählt er dir ein andermal«, sagt Aja. »Du stirbst nicht?«

»Heute ist es sowieso zu spät dafür. Dein Projekt, tu es nicht für mich, tu es für ...«

»Schon gut, das reicht.« Sie weiß, für wen sie es tun soll, aber sie will nicht, dass er es sagt. Sie greift in ihre Tasche, berührt das Foto darin und seufzt. »Großes Inder-Ehrenwort.«

»Ich verstehe kein Wort«, sagt ihr Paps in den Lärm der Dachsirene.

»Großes Inder-Ehrenwort«, ruft Aja in die Stille des plötzlich verstummten Martinshorns. »Ich werde mein Bestes für das Projekt geben. Unseres. Also, das von mir und Flash.«

»Noch ein Freund?«

»Davon träumt Mister Wet Pants nur.«

Über die Gegensprechanlage kommt kein Dementi. O-oh.

»Ihr meint Indianer«, sagt Doc Bernstein.

»Wir schwören daheim lieber auf Inder«, sagt Aja. »Die saufen nicht so viel. Was ist jetzt mit Eddie?«

Die Augen ihres Paps rollen nach oben, und der Arzt drückt ihm die Atemmaske aufs Gesicht.

»Gute Idee, das mit den Indern«, sagt Berni. »Die glauben an Wiedergeburt.«

Von Leichen, Baden mit Föhn und einer blutigen Ärztin

In der Klinik sinkt Aja auf einen der Hartschalenwartesitze. Warum haben die Dinger Löcher in der Sitzfläche? Damit das Blut besser abfließt? Autsch. Sie greift sich unter den Po. Jemand hat einen Schraubenzieher liegen lassen.

»Ich hasse diese Drecksdinger.« Sie schmeißt das Ding so weit weg, wie sie nur kann. Es knallt gegen eine Wand und klackert auf den Boden. Bunte Linien weisen den Weg zu den Stationen: tot, richtig tot, komplett im Arsch.

»Du hasst Schraubenzieher«, sagt Flash.

»Geht nur mich und die Schraubenzieher was an.«

Flash setzt sich neben sie.

»Und?«

»Gib mir was von deinem heiligen Wasser.«

»Sorry, aber das ist ...«

»Kein Trinkwasser und exklusiv für Notfälle, blabla.« Sie tritt gegen einen Beistelltisch und eine Vase mit Plastikblumen fällt um. Warum gibt es keine Plastikväter? Die man nie gießen muss, schon gar nicht mit Tequila. Die sich beim Deutschgriechen so benehmen, dass man sie nicht schütteln und anschreien muss. »Du wirst es nicht glauben, aber manchmal brennt mir die Sicherung durch. Und da ... Du brauchst gar nicht zu grinsen.«

»Ich grinse nicht.«

»Aber wehe.«

»Manchmal ist keiner so richtig schuld.«

Sie schweigen, meiden den Blick des anderen. Eine endlose Sekunde kriecht vorüber. Dann noch eine. Die dritte lässt schon auf sich warten.

Flashs Hand ist verbunden, das fällt ihr erst jetzt auf.

»Zu scharfe Handcreme benutzt, Master Philosoph?«

»Ich wurde bloß mal wieder vom Blitz getroffen.«

»Ach, richtig, die Gewitterfront, deine große Liebe.«

»Mädchen sind mir zu gefährlich.« Er hebt den Schraubenzieher auf und lässt ihn so geschickt zwischen den gesunden Fingern tanzen wie ein Kartentrickser. Sie kann die Augen nicht davon abwenden.

»Wie hast du mich überhaupt gefunden? Ich wusste ja nicht mal selber, wo ich bin.«

»Philo und ich sind rumgekurvt.« Er sieht sie so seltsam herausfordernd an. »Schicksal.«

»Apropos«, sagt sie, »ich sollte Tizian anrufen. Mich bei ihm bedanken. Er ist gefahren wie Usain Bolt.«

»Unser Projekt ...«, sagt Flash. »Ich weiß, blödes Timing, aber ...«

»Du hast eine Idee?« Jede noch so dämliche Ablenkung ist ihr recht. »Press Play

Flash quasselt los, bis Aja schwindlig ist und sie den Donner hören und das Ozon der von Blitzen verbrannten Luft in Flashs Worten riechen kann.

»Und?« Seine Wangen glühen.

»Ein Schutzanzug für Gewitter? Ist das so ’ne Art Aufarbeitung deines Kindheitstraumas? Lieber bade ich mit meinem Föhn.«

»Keine Chance. Die modernen Wohnungen sind so abgesichert, dass da nichts mehr passieren kann.«

»Unsere Wohnung ist so modern wie ich.«

»Richtig, ihr lebt in einer Höhle.« Flashs Miene bleibt todernst. »Ich würde es ja allein machen, aber damit«, er hält seine verbundene Hand hoch, »damit kann ich die nächste Zeit nicht arbeiten.«

»Lass dir was Besseres einfallen, was ohne Strom. Oder Schraubenzieher.«

Er schüttelt den Kopf, langsam wie das Ticken einer sterbenden Uhr.

»Dann ...« Er schluckt hörbar. »Was ist mit deinem Inder-Ehrenwort?«

»Mein Ehrenwort – mein Problem.«

»Viel Glück bei der nächsten Reinkarnation.« Er steckt den Schraubenzieher ein und schleicht Richtung Ausgang.

Okay, das war’s. Kein Projekt, stattdessen eine Sechs und keine Versetzung. Das Jahr zu wiederholen kommt nicht in Frage. Sie wird sich vom Erdferkel nicht noch mal denselben Scheiß erzählen lassen, nicht noch eine Staffel als Out-Sätzige unter In-Girls im Altlehrercontainer leben. Lieber schmeißt sie die Schule.

Und Flash? Kann sich seinen Anzug dahin schieben, wo der Donner grollt und es doch niemals ein Gewitter gibt. Trotz allem wünscht sie sich, er würde sich umdrehen und sich wieder neben sie setzen.

Eine Tür knallt, eine Ärztin kommt aus der Intensivstation und steuert mit flatterndem Kittel auf ihn zu.

»Herr Freumbichler junior?« Ihr Kittel ist mit Blut bespritzt.

Ajas Därme ziehen sich zusammen. Sie springt auf.

»Er ist nur adoptiert!« Sie tritt hinter Flash, als könnte der sie vor der Frau in dem Schlachterkittel und ihren Bad-Dad-News schützen.

»Ist dir nicht gut?« Sanft nimmt die Ärztin Ajas Hand und schmiert beim Pulstasten Blut auf den Handrücken.

»Ich sehe immer so aus«, sagt Aja automatisch. »Ich habe keinen Föhn.«

»Sie bluten«, sagt Flash.

»Was? Ach, das, nein, das ist nicht mein Blut.«

»Hat er«, Aja zieht die Nase hoch und klingt für sich selbst weit weg, »hat er leiden müssen?«

»Da kannst du drauf wetten«, sagt die Ärztin. »Ich habe ihm ganz schön eine gescheuert.« Sie blickt verwirrt zwischen Aja und Flash hin und her. »Was?«

»Ist das sein Blut?«, fragt Flash tonlos.

Die Frau lacht los. Die Frau, die ihren Paps abgeschlachtet hat, legt den Kopf in den Nacken und lacht, als wäre sie ein Kojote und der Flur die Prärie von Arizona. Aja klammert sich an Flashs Arm fest.

»Pfleger Ralf«, sagt die Ärztin. »Er hat es mit Gewalt versucht und ... Oh, sorry, hab ich dich auch versaut?« Mit einem zerknüllten Tempo reibt sie über Ajas rote Finger.

»Was hat er mit Gewalt versucht?«, fragt Flash, noch immer auf der Suche nach seiner Stimme.

»Ich stand leider direkt in der Schusslinie«, sagt die Ärztin. »Warum kann der Mann nicht eine Focaccia essen wie alle anderen? Ich meine, kein Mensch zieht sich heute noch Rote Bete rein. Er hat das Glas nicht aufgekriegt. Meinen Kittel kann ich wegschmeißen. Blut wäre mir lieber gewesen. Ralfs Blut.«

»Und ... und Paps?«

»Der ist übern Berg. Mal wieder.«

Erleichtert sieht Flash Aja an, als würde er ihre eigene Erleichterung spiegeln. Sie breitet die Arme aus. Aber sie lässt sie schnell sinken, bevor sie Blitzboy um den Hals fallen kann. So was wird von Typen gerne falsch interpretiert.

»Diese Nacht«, fährt die Ärztin fort, »behalten wir ihn noch auf Intensiv, morgen kommt er auf Station. Ein paar Tage, zur Beobachtung, in ein Einbettzimmer.« Sie blinzelt Aja zu. »Gute Versicherung.« Nachdenklich reibt sie sich das Gesicht und schmiert dabei Rote-Bete-Saft vom Kinn bis zur Wange. Kriegsbemalung.

»Meinst du, es war ein ...«

»Nein«, sagt Aja, bevor die Ärztin auch nur Selbst- sagen kann und schon gar nicht -mordversuch. Keine Chance, Paps. Um Nachruhm einzuheimsen, muss man sterben, bevor man vergessen ist.

»Du musst es wissen«, sagt Flash.

»Tue ich.«

Der nächste Gedanke ist da, bevor sie ihn erwischen und ins PVC des Fußbodens treten kann: Wäre es nicht besser für ihn und für sie und wahrscheinlich auch für Sabine, wenn er beim nächsten Delirium nicht mehr aufwacht? Sofort schämt sie sich dafür, ganz tief ins PVC.

Mit einem kurzen »Viel Glück« lässt die Ärztin Aja und Flash stehen, läuft zu dem Mann, der die Station betritt, und wirft sich ihm an den Hals. Er schiebt sie weg und betrachtet ihr beschmiertes Gesicht.

»Dann ...«, Flash druckst herum, »dann gehe ich jetzt mal.« Er meidet Ajas Blick, aber gehen tut er auch nicht. Er soll endlich abhauen. Oder dableiben. Ein bisschen was haben sie schon zusammen überstanden heute, oder?

»Du bleibst«, sagt sie vehement. »Ich habe mein Inder-Ehrenwort gegeben, klar? Wir ziehen das zusammen durch.«

»Und womit?«

Aja sieht sich um, als lägen Projektideen haufenweise in Krankenhausfluren herum. An der Tür zur Toilette hängt ein rotes Schild »Noteingang«.

»Wir brauchen eine inspirierende Umgebung«, sagt sie und schubst Flash zum Fahrstuhl. Schweigend studieren sie den Stockwerksplan.

»Wie wär’s mit der Kapelle?«, sagt Flash.

»Pathologie«, sagt Aja. »Jede Leiche erzählt eine Geschichte.«

Sie fahren in den Keller. Der Aufzug müsste Abzug heißen. Aja will keine Leichen sehen, aber zurück kann sie auch nicht mehr. Sich vor Flash bloßstellen? Nur über ihre ... na ja.

Die Tür zur Pathologie ist abgeschlossen. Bevor Aja sich warmschimpfen kann, setzt Flash den Schraubenzieher an und hebelt die Tür auf.

»Respekt, Blitzboy.«

Sie huschen hinein. Beißende Chemie schlägt ihnen entgegen, ein süßes Bukett mit leicht fauligem Abgang. Schritte nähern sich, und Aja schubst Flash in die erstbeste Tür.

In dem kleinen Raum mit vollbeladenen Regalen an allen Wänden duftet es lecker nach Zimt. Auf einem verschossenen Resopaltisch wartet eine Platte mit Zimtschnecken und Plunderstückchen auf Plünderung. Ajas Magen knurrt und sie schnappt sich eine Schnecke und beißt hinein. Im selben Moment weiß sie hundertundeinprozentig, dass Tizians Küsse genauso schmecken werden, nach Zucker und Zimt. Wie er sich für sie eingesetzt hat, als ihr Paps in Gefahr war! Heißt es nicht, dass gemeinsam durchgestandene Katastrophen die Liebe befeuern?

Sie wird ihn kriegen und sich von ihm kriegen lassen.

»Projekt Plunder«, sagt Aja kauend und schwebt heimlich zehn Zentimeter über den Fliesen. »Wie viel davon verträgt ein Teenager, bevor er kübelt? Wenn wir statt Schnecken geweihte Hostien nehmen, überzeugen wir am Montag auch Eure Heiligkeit Papst Sarytchew den Ersten.« Aja schiebt Flash einen Kirschplunder in sein gequältes Grinsen. »Und jetzt interviewen wir die Leichen.«

Eine Leiche liegt nebenan und schweigt beharrlich.

»Sie hätten ihn wenigstens zudecken können«, sagt Flash.

»Das mit dem Projekt Plunder war eine gute Idee«, sagt Aja. Sie fühlt sich blutärmer als Puderzucker. »Rückzug!«

»Er sagt kein Wort.« Flash schnippst und sieht eine Sekunde aus wie Wicki. Ohne starke Männer. »Wir bauen eine Mute-Einstellung für Lehrer«, sagt er. »Jeder Schüler kriegt dafür eine Fernbedienung.« Er reibt sich die Nase. »Nein. Wenn die kaputtgehen, bleiben die Lehrer stumm.«

Aja studiert die Feinheiten der weißen Tür. Kneifen? Nie. Was Flash aushält, hält sie erst recht aus.

Neben dem Toten fängt ein Handy an, die Nationalhymne der Telekom zu spielen.

»Genau!«, ruft Flash so laut, dass Aja zusammenfährt. »Wir machen was mit Musik. Du kommst aus einer musikalischen Familie.«

»Ich betrete eine Bühne nur tot. Anschauungsmaterial für Medizinstudenten. Aber nur, wenn sie nicht mit meinem Zwölffingerdarm Flaschendrehen spielen.«

»Wenn Lissa uns hier drin sehen würde! Ist bestimmt nicht ihre Vorstellung von trendiger Samstagabendunterhaltung.«

»Du stellst dir also Lissa vor. Danke, keine Details.«

Das Telefon meldet sich wieder. Aja geht seitwärts wie eine Krabbe hinüber, um ja den Toten nicht sehen zu müssen.

»Hallo?«, meldet sich eine Frau.

»Mein Beileid«, sagt Aja. »Er hat nicht gelitten. Seine letzten Worte galten Ihnen. Sagen Sie ihr, dass ich sie immer lieben werde. O-Ton.«

»Ich dachte, ich hätte mein Handy in der Pathologie vergessen. Ich bin Doktor Rohde. Wer sind Sie?«

»Ihr schlimmster Kunstfehler. Ich lebe noch. Das wird ein Nachspiel haben. Sie hören von meinen Anwälten, Frau Doktor Rohde. Auf Wiedersehen.«

Sie legt auf. Jetzt fühlt sie sich besser.

»Du bist echt abgefahren«, sagt Flash. Aja nimmt es mal als Kompliment.

»Manchmal wäre ich gerne in. Macht dein Leben leichter.«

»Es macht dein Leben wie jedes andere.«

»Muss nicht das Schlechteste sein«, sagt Aja und ist selbst erstaunt darüber. Sie begegnet Flashs Blick. »Was stimmt mit meiner Weste nicht? Die habe ich aus dem neuen Rotkreuz-Container drüben in Lichtental gezogen, Eins-A-Ware, okay?«

»Mir gefällt sie.« Er sieht aus, als meinte er das ernst. Er ist komplett strange drauf.

»Dann haben wir beide das gleiche Problem«, sagt sie und sie lachen miteinander, was sich ziemlich groovy anfühlt. Aja meint sogar, dass Meister Tod hier ein bisschen grinst. »Wir sollten echt einen Ratgeber lesen. Wie man in ist.«

»Diese ganzen Ratgeber, die passen doch nie.«

»Stimmt«, sagt sie, »den müsste man schon selber schreiben.«

Sie sehen sich an. Es ist nur ein Klick!, aber hallt lauter als ein Donner durch Ajas Kopf. Und, um das klarzustellen, mit Gefühlen hat dieses Klick! nichts zu tun, was hier klickt, ist bloß eine gemeinsame Idee, nichts weiter. Okay? Gut. Weiterlesen.

»Reinkommen für Draußensitzer«, sagt Aja. »Was hältst du davon?«

»Nicht schlecht.«

»Warte! Aufwärmen für Heizpilz-User

»Besser. Klingt aber irgendwie nicht ... nicht in genug.«

»Ich hab’s: Insein für Outsider.«

Klick! Klick! Klick! Klick!

»Geile Idee«, ruft Flash. »Oder sagt ein Insider fett

»Gut«, sagt sie, »gut geht immer.« Das Projekt wird ihr helfen, Tizian anzulanden, irgendwie. Das Projekt ist nur ein trojanisches Pferd für ihre Liebe. Der Haken: Sie will dieses Projekt nicht machen, sie will nichts wissen vom Insein und vom Outsein. Sie will einfach nur sie sein – und mit Ti sein.

»Das wird richtig gut«, sagt sie mit breitem Grinsen. Eine breite Lüge. Und Flash, der grundehrliche Flash, der eine Lüge nicht mal erkennen würde, wenn sie ihm aus einer Gewitterwolke vor die Sneakers klatscht, dieser Flash sagt mit dem falschesten Lächeln seit Erfindung der Schönheitschirurgie: »Das wird richtig, richtig, richtig gut.« Drei Lügen zum Preis von einer.

Insein für Outsider?

Sie können einpacken: Mit dem Abzug runter ins Verderben.

Aber unten, vor dem Einschlag, wartet Tizian und fängt sie auf.

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350 стр. 1 иллюстрация
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9783847679141
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