Читать книгу: «Insein für Outsider», страница 3

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Der Marsmensch und Coco Chanel

»Wenn doch dein Uropa so einen Anzug gehabt hätte«, sagt Philomena. »Du gehst genau wie er.« Kritisch beobachtet die alte Nachbarin, wie Flash durch ihr Wohnzimmer stapft, eingeschweißt in den engen Lederanzug, den sie ihm geschneidert hat. Falls das Ding gegen Blitze versagt, kann er den Anzug als tragbare Sauna patentieren lassen. Genauer gesagt: seine Erben. Schreibt man seine Erfolgsquote bei Mädchen in die Zukunft fort, wird er nie Erben in die Welt setzen.

Marli hat es sich in einem Hundekorb neben dem Sofa bequem gemacht. Das Zimmer riecht nach nassem Esel.

»Der Anzug ist perfekt, Frau Bartenbach. Jetzt muss ich noch das Drahtgestell für darüber bauen.«

»Ein bisschen weit im Schritt«, sagt die alte Frau mit prüfendem Blick. »Das wächst sich aus. Und ich bin Philomena für dich, ich bin ja noch keine neunzig.« Sie schiebt Flash vor den hohen, halbblinden Spiegel im Flur.

Flash kann seinen Marsmenschen-Anblick nicht fassen.

»Wenn ich den Helm fertig habe, darf ich nicht mehr auf die Straße, sonst knallt Förster Brick mich ab.«

»Das ist zwar nicht Chanel, aber verglichen mit deinen klatschnassen Sachen ist der Anzug eine echte Verbesserung. Habe ich dir von dem Herbsttag ’63 erzählt, als ich Coco Chanel einen Pelzhut verkauft habe?«

»Feinster russischer Nerz«, sagt Flash. »Sie kam eigens aus dem Ritz zu einer Modenschau nach Baden-Baden.«

»Coco lobte meine Näharbeit. Sie hat sofort gesehen, dass ich zu ausladend geraten war für die wirklich eleganten Roben. Nein, ich war nie ein Mäuschen.« Sagt’s und kichert wie eins. »Aber vorzeigbar bin ich noch immer.«

»Äh, klar«, sagt Flash. Er mag sie. Sie hat Wochen an seinem Anzug gearbeitet. Sein Geld will sie trotz der vielen Arbeit nicht annehmen. Sie könnte es gebrauchen, alles hier drin ist alt und angestoßen, alles außer der alten Dame. Er hat sie noch nie in etwas Hässlichem oder Billigem gesehen.

Ächzend schält er sich aus dem Anzug. Er begegnet Philomenas Blick, die ihn über den Rand ihrer Brille hinweg mustert. Flash wird rot und zieht sich hastig Philomenas pinkfarbenen Bademantel an, seine Klamotten trocknen noch.

»Wie war er denn so, mein Urahn?«, fragt er.

Statt zu antworten, fragt sie:

»Weißt du, wieso deine Mutter so oft mit den Eseln unterwegs ist?«

»Weil es Kohle bringt?«

»Sie will nicht mit ansehen müssen, wie es dir so ergeht wie ihrem Opa und du Grillhähnchen wirst. Ich war dabei, als Hermann das vierte Mal vom Blitz erwischt wurde.«

Flash sieht sie überrascht an.

»Er ist gestorben, beim vierten Mal.«

»1951.«

»Wir dachten alle, er wäre allein gewesen.«

Sie schüttelt den Kopf.

»Du machst keinen Unsinn mit dem Anzug. Versprich mir das.«

»Okay.« Wie oft hat er seiner Mutter schon versprochen, sich von Gewittern fernzuhalten. Und wie oft hat er das Versprechen gebrochen. Jedes einzelne Mal tut ihm leid. Aber er muss es einfach tun, Blitze jagen.

Philomena sieht ihn wehmütig an. Als wüsste sie mehr als er.

»Ich habe etwas gutzumachen«, sagt sie. »Mach mir das nicht kaputt.«

»Liebe«, sagt Philomena, »geht angeblich durch den Magen.« Sie und Flash machen zusammen das Abendessen, Marlboro Lights läuft ihnen in den Füßen herum. Flash passt auf, dass die alte Dame nicht die Küche abfackelt oder überschwemmt. Der Scarlett O’Hara war nicht ihr erster Cocktail für heute. Oder ihr zweiter oder dritter. »Das mit dem Magen, mein Lieber, ist ausgewachsener Blödsinn. Liebe ist doch kein Dünnpfiff.«

»Hm«, brummelt Flash. Liebe! Nie im Leben wird er dieses platte Wort in den Mund nehmen.

»Wie heißt sie?«, fragt Philomena unvermittelt.

»Was? Wer?«

»Du bist verliebt.«

»Quatsch.«

»Wie heißt sie?«

»Sie heißt Aja. Bei den Sumerern war Aja die Gemahlin des Sonnengottes. Zwei Pharaonen hießen so. Und die Mutter von Goethe wurde Frau Aja genannt.« Das alles hat er bei Wikipedia herausgefunden. Auch, dass Aja der Name einer Schauspielerin ist, einer aus dem horizontalen Gewerbe Hollywoods. Aber das wird er ganz sicher für sich behalten. Er erzählt Philomena von dem Projekt und dass er hofft, mit dem Anzug Aja für seine Idee gewinnen zu können.

»Etwas Schönes zum Anziehen überzeugt jede Frau.«

»Bei Aja bin ich mir da nicht so sicher. Sie ist ... speziell.«

»Du interessierst dich wohl sehr für die junge Dame.«

»Na ja, Dame ...«

Philomena haut ihm mit dem nassen Kochlöffel auf den linken Arm, ganz und gar nicht sanft.

»Was ist das Problem?«

»Ich ... ich kann einfach nicht reden mit ihr. Nicht so wie mit dir, so ...«

»So frei von der Leber weg.«

Flash nickt.

»Du hast das Gefühl, du müsstest ihr etwas beweisen.«

Flash nickt.

»Dann, mein Lieber, ist sie die Falsche.«

»Okay.« Zu der Erkenntnis ist er auch schon gelangt.

»O-kee? Du widersprichst mir nicht?« Sie reicht ihm etwas, und Flash nimmt es, ohne hinzusehen – und fasst den glühend heißen Deckel an.

»Aaaaa!« Fluchend tanzt er durch die Küche, stolpert über Marli, seine rechte Hand fühlt sich an, als trampelten tausend Esel über sie hinweg. »Siehst du?«, schimpft er. »Schon von Aja zu sprechen, ist lebensgefährlich.«

»Du bist nicht bei der Sache«, tadelt ihn Philomena und dreht den Hahn auf. »Halte die Hand unters Wasser.«

Flash hüpft zum Hahn. Siedend heißes Wasser schießt über seine Finger. Vor Schmerzen wird ihm schwarz vor Augen.

»Oh«, sagt Philomenas Stimme von weit, weit weg, »ich dachte, links kommt kalt.«

Die Schmerzen katapultieren Flash zurück zum dritten Mal, als er vom Blitz getroffen wurde. Er war elf. Mit der Luftmatratze trieb er dösend auf einem kleinen See im Luberon – in dem Urlaub lernte sein Vater seine Muse kennen. Ein Donner weckte Flash. Der eben noch tiefblaue Himmel hatte sich in ein fettes, schwarzes Biest verwandelt. Die Pinien am Ufer schüttelten ihre Kronen über Flashs Leichtsinn. Panisch paddelte er Richtung Ufer. Doch das Biest am Himmel hatte ihn in die Mitte des Sees geweht. Die ersten Blitze krachten in die Pinien, und Flash paddelte gegen den Wind, er wollte zu der Stelle, wo seine Kleider lagen. Der nächste Blitz überzeugte ihn davon, dass er besser mit dem Wind paddeln sollte, Hauptsache, so schnell wie möglich runter vom Wasser.

Er hatte nicht vergessen, was er über Gewitter gelernt hatte. Aber versuch mal, auf einer Luftmatratze im aufgewühlten Wasser in die Hocke zu gehen. Er blieb auf dem Bauch liegen und paddelte schneller. Beinahe hatte er es geschafft, keine zwanzig Meter trennten ihn noch vom Ufer, als ein Blitz in eine Pinie direkt vor ihm scheuerte.

Der Krach blies ihn fast von der Matratze, das grelle Licht blendete ihn und er verlor kurz jede Orientierung. Als er aufblickte, stürzte ein brennender Baum auf ihn zu.

Er rutschte ins Wasser, im selben Moment klatschte auch der Baum hinein, die äußeren Äste versenkten die Matratze, einige Zweige wischten über Flashs Rücken und seine Beine. Das Wasser hatte das Feuer gelöscht, und ohne nachzudenken, zog er sich auf den Baum. An der zwar nassen, aber noch heißen Rinde verbrannte er sich die Finger, überall klebte heißes Harz. Die Schmerzen drangen kaum durch den Schleier aus Panik und Adrenalin. Er balancierte über den Stamm Richtung Ufer, stürzte zwischen den Bäumen hindurch tiefer in das Nadelwäldchen, wo er sich auf den Boden kauerte, endlich in Sicherheit.

Von wegen. Der Blitz traf ihn trotzdem. Vielleicht verdankte er es seiner korrekten Haltung, die Beine eng beisammen, dass er den Schlag überlebte.

Der Einschlag setzte den vorderen Teil seiner Haare in Brand, schmolz eins der Beine seiner Badehose und verpasste ihm ein Klingeln im Ohr, das er erst ein Vierteljahr später loswurde. Zusammen mit der Mütze, die er über seiner neuen, maximal unmodischen Halbglatze trug.

Philomena drückt Flash eine Packung Tiefkühlerbsen in die verbrannten Finger. Ah, göttlich, wie der Schmerz einem Gefühl eisiger Taubheit weicht!

Philomena schüttet die Kartoffeln ab und gibt sie in eine Schüssel.

»Wenn du nicht mit deiner Aja reden kannst, ist sie wirklich die Falsche. Zum Glück gibt es noch andere Fische im Ozean.« Sie reicht Flash die Schüssel, automatisch greift er danach.

Jetzt weiß er, wie ein Gewitter entsteht, spürt es am eigenen Leib: Die glühend heiße Schüssel (die positiv aufgeladenen Wassertröpfchen) und die eiskalten Erbsen (die negativ aufgeladenen Reifteilchen) verursachen eine solche Spannung in seinem Körper, dass er keins von beidem festhalten kann.

Mit einem Aufschrei (laut wie ein Blitzeinschlag) lässt er Schüssel und Tüte fallen. Beides zerplatzt auf den Fliesen, die Kartoffeln kullern dampfend durch die Küche und vermischen sich mit Scherben und frostbedeckten Erbsen.

Ungerührt betrachtet Philomena die Sauerei. »War sowieso eine blöde Idee, bei dreißig Grad draußen Kartoffeln zu kochen.«

»Stimmt«, sagt Flash und verliert die Besinnung.

»Ruf sie an.«

Jemand legt Flash etwas in die Hand. In die linke, Gott sein Dank. Er wagt einen Blick auf seine schmerzende rechte Hand. Sie ist verbunden und riecht nach Brandsalbe.

»Den Notarzt?«

»Stell dich nicht so an«, sagt Philomena. »Ich habe mir beim Hutmachen jeden Tag die Hände verbrannt, wenn ich die Filzstumpen aus dem Wasserdampf geholt habe.«

»Dieses Mädchen.« Sie reicht ihm das Telefon.

Philo hat Recht, wegen Aja muss er etwas unternehmen. Wenn er es nicht mal während des Projekts schafft, ihr näher zu kommen, wann dann?

»Schon gut, ich rufe an.«

»Und anschließend ...«, drängt Philomena.

»Ja, ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich Aja vor Abgabe, äh, zu einem Date einlade.«

Sie tätschelt ihm die Wange.

»Braver Junge.« Aus dem Tätscheln wird ein Streicheln. »Im richtigen Licht – bei Kerzenlicht! – musst du das Abbild deines Opas sein.«

»Uropa.« Er unterdrückt den Impuls, ein Stück wegzurücken. Philomena vermisst eigene Enkel, die sie begroßmuttern darf. Außerdem sind die Schmerzen in seiner Hand so furchtbar geworden, dass ihn nur etwas noch Schrecklicheres davon ablenken kann. Wie zum Beispiel, mit Aja zu telefonieren.

»Ich habe lediglich einen Freumbichler in Baden-Baden«, sagt der Herr von der Auskunft. »Festnetz. Einen Gerd. Kein Adresseintrag.«

Ajas Eltern sind geschieden und Aja lebt bei ihrer Mutter. Er hat sie noch nie mit Handy gesehen. Da könnte er ansetzen:

»Weißt du, dass wir die letzten beiden Menschen auf der Welt sind, die kein Handy haben?« Klingt das romantisch? Oder einfach nur dämlich?

Dämlich.

Er lässt sich mit Gerd Freumbichler verbinden.

»Bist du’s?«, meldet sich eine Stimme. Der Mann klingt a) betrunken, b) desorientiert und c) todunglücklich.

Flash rasselt den zuvor zurechtgelegten Satz herunter. Von wegen Ajas Schulfreund, Projekt, Nummer verloren und entschuldigen Sie die Umstände.

»Aja?« Er singt: »When all my dying and dancing is through ... – Ist Donald Fagen nicht ein Genie?«

»Klar«, sagt Flash. Wer? Marlboro Lights iaht, was verdammt laut klingt hier drin.

»Ich könnte schwören, ich höre einen Esel«, sagt Ajas Vater. »Der war beim letzten Mal noch nicht auf der CD.«

»Ähm, Ajas Nummer?«

Herr Freumbichler singt:

»Rikki, don’t lose that number ...« Die Stimme entfernt sich vom Telefon. Im Hintergrund kracht etwas zu Boden, vielleicht ein Stuhl. Jemand schlägt gegen Möbel, rhythmisch.

Ajas Vater trommelt.

Flash legt auf.

Er schämt sich dafür, dass er erleichtert ist.

Wenn ich mit Sterben und Tanzen fertig bin.

Du lieber Downburst!

Der Mann wird sich doch nicht ...

Flash drückt auf Wahlwiederholung. Eine Frau meldet sich. Gottseidank, eine Freundin kümmert sich um Ajas Vater. – Von wegen. Er hat die Auskunft angerufen! Dieses Mal wird er sich die Nummer notieren.

»Hier kommt Ihre Nu...«

Das Telefon ist tot.

»Der Akku ist leer!«, schreit Flash. »Wo ist die Ladestation?«

»Ladestation?«, fragt Philomena, und Marli springt aufgeregt hin und her, als würde sie nach einem anderen Handy suchen.

»Wir fahren zu Aja«, sagt er. »Sie kennt ihren Vater, sie weiß, was zu tun ist.«

»Das Feuer der Leidenschaft!«, ruft Philomena und schnappt sich die Autoschlüssel. »Damit gewinnst du die Damen.«

Draußen am Auto, der Regen hat aufgehört, erinnert sich Flash an Philomenas Fahrweise. Als sie ihn und Marli vorhin daheim aufgelesen hatte, klatschnass und ohne Hausschlüssel, brauchte sie fünf Minuten für die dreihundert Meter. Er betrachtet den Cadillac, ein weißer 1965er Calais ohne Kofferraumdeckel. Durch seinen Kopf tackern die Informationen wie bei einer komplizierten Textaufgabe.

Er ist fünfzehn. Sie ist einundachtzig. Er ist nüchtern, sie ist Scarlett O’Hara. Der Cadillac hat über dreihundert PS. Er ist bislang genau null Kilometer mit einem Auto gefahren, hat exakt einen Trecker-Führerschein und präzise null Führerscheine für PKW. Bis zu Aja sind es zwanzig Kilometer durch dichten Verkehr. Philomena schafft pro Stunde höchstens zehn. In einer Stunde kann ein erwachsener Mann hundert Pillen schlucken oder sich hundert Kugeln in den Kopf jagen. Macht unterm Strich exakt ... eine ausgewachsene Menge Schwierigkeiten.

Flash nimmt Philomena den Schlüssel ab. Sie fühlen sich heißer an als alle Töpfe und Schüsseln zusammen.

»Ich fahre.«

Die Vernunft auf dem Mountainbike, Downhill

Tizian beugt sich zu Lissa herunter. Um sie zu küssen! Danke, das will sie nicht sehen, das war’s, cut, cut, verdammt!

Aja hat bloß ein bisschen vor Tizians Haus rumgelungert. Gott! Gehört sie echt zu der Sorte hoffnungsloser Mädchen, die so was tun?

Yup.

Dann ist Lissa an seiner Haustür aufgekreuzt und sieht einfach nur zum Niederknien gut aus. Aja würde ihr beim Niederknien natürlich in die Wade beißen.

Aber ... he, von Tizian gibt’s kein Kussi, nur ein Bussi.

Elegant schwingt Lissa sich hinter ihm auf den Roller. Sie klammert sich fest (so fest ist echt nicht nötig) und dann fahren sie los.

Aja schwingt sich hinter niemandem und ganz sicher nicht hinter ihrer Vernunft aufs Rad und strampelt sich einen ab, um Ti und Li nicht zu verlieren. Der dichte Samstagnachmittagverkehr hilft, rote Ampeln müssen dran glauben, sorry, und, ups, fast die dicke Dame mit dem Einkauftrolley und dem dicken Kater darin.

Die Strampelei hat ein Ende, als die Verfolgten anhalten und absteigen und Lissa ihr Haar schüttelt und sich sofort sämtliche Blicke auf sie stürzen wie Geier auf gut abgehangenes Aas. Die Haare im klassischen Out-of-Stampede-Look hechelt sie Ti und Lis zu Fuß hinterher, so professionell Deckung suchend wie der Verfassungsschutz auf zwei müdgeradelten Beinen.

Lissa schleppt Tizian in einen Modeladen, Aja bezieht draußen Posten. Es fängt an zu nieseln. Sie holt ein paar Socken aus ihrem Rucksack, aber statt sie anzuziehen, streift sie sie über ihre Hände. Zwar versteht sie kein Wort von dem, was Tizian und Lissa hinter der Schaufensterscheibe reden, aber sie malt es sich aus:

»Gefalle ich dir?«, fragt die linke Socke.

»Das Wort gefallen«, erwidert die rechte Socke, »wird deiner Schönheit nicht annähernd gerecht, Liebste.«

Die linke Socke kichert.

»Bin ich die Schönste im ganzen Land?«

»Aber ja, Liebste, gleich hinter Aja Freumbichler. Sieh sie dir nur an, wie sie sich da die Nase an der Schaufensterscheibe plattdrückt und mit ihren Socken spricht und immer nasser wird. Ist sie nicht ein wahrgewordener Traum?«

Modeladen Nummer 2. Aja bezieht Posten. Die Socken schweigen. Der Niesel wird Regen. Modeladen Nummer 3. Aja bezieht Posten. Die Socken kleben halbtot an Ajas Händen. Der Regen wird Wolkenbruch.

Aja wird nass und sauer, Grapefruitschorle auf zwei total erledigten Beinen. Die Haare im klassischen Out-of-Kläranlage-Look. Eine Sekunde, bevor Lissa vor Tizian aus dem Laden tritt, hört der Regen auf und die Pfützen glitzern wie hingestreute Diamanten vor ihren Sandalen.

Aja folgt und tappt in eine trübgraue Lache und saut sich zu.

Der vierte Fashionstore hintereinander und keine billige Teenie-Mode! Das sind mehr First-Hand-Läden, als Aja im letzten Jahr von innen gesehen hat. Geduckt stolpert sie in eine Hofeinfahrt. Auf der anderen Straßenseite treten Lissa und Tizian in den Laden, aus dem Hip-Hop bullert. Durch das Schaufenster sieht Aja sie mit der blonden Verkäuferin lachen. Tizian lacht auch.

Dieser Verräter.

Neben dem Laden sitzen Leute in der frischen Sonne und trinken etwas Kühles, die Wassertropfen auf den Gläsern und auf den Tischen glänzen bis rüber zu ihr. Tizian muss halb verdurstet sein nach den vielen Komplimenten, die er Lissa machen musste. Aja wird sich ins Café setzen und ihm einen Stuhl freihalten. Erst vorzeigbar machen! Wenn Sie Glück hat, müssen im Klo des Cafés gerade eine Frisörin, eine Stylistin und eine Schönheitschirurgin Pipi.

Ein Müllwagen rumpelt vorbei. Aja tritt hinter ihm auf die Straße und streift die Handpuppen ab. Nach links und rechts schauen ist was für Spießer. Das große Weiße in ihrem rechten Augenwinkel sieht so unschuldig aus wie eine Schäfchenwolke. Aber ist nicht auch Moby Dick groß und weiß?

Im selben Moment, als das große Weiße ihre Beine berührt, blickt Tizian aus dem Kleiderladen nach draußen. Ihre Blicke treffen sich.

Eine schwarze Sekunde ohne Erinnerung später findet Aja sich auf einer Motorhaube wieder, die größer ist als Texas. Durch die Windschutzscheibe winkt ihr eine alte Dame fröhlich zu, und neben ihr sitzt ein mozzarellaweißer Typ, den Aja schon mal irgendwo gesehen hat.

Auf den zweiten Blick ist der Käse eindeutig Ohrzungen-Flash. Die Erkenntnis muss länger gebraucht haben. Als Aja damit fertig ist, liegt sie in stabiler Seitenlage auf der nassen Straße und einem Pappbecher. Lissa kniet neben ihr und will sie küssen.

Gerade rechtzeitig wendet Aja den Kopf ab und Lissas Lippen landen auf ihrem Ohr.

»Lass mich!« Igitt. Was finden in letzter Zeit nur alle an ihren Ohren?

»Ich glaube, sie braucht keine Mund-zu-Mund«, sagt Tizian. Wo hat er auf einmal die Handpuppen her?

»Alles in Ordnung? Aja?« Flash zieht sie sanft unter dem Auto heraus. Sie ist zu müde, sich zu wehren. »Der Krankenwagen ist unterwegs.«

»Du bist gefahren!«

»Wenn Flash nicht so toll reagiert hätte«, sagt Lissa, »wärst du jetzt eine widerliche Masse Matsch.« Die Umstehenden unterhalten sich über den Wagen: Cadillac oder Klimakiller, Vintage oder Asbach Out?

»Ich musste langsam machen«, sagt er, »wegen dem Müllwagen.«

Ein Polizist kommt angerannt, klatscht durch eine Pfütze, er hat was von einem empörten Hühnerküken.

»Was ist passiert?« Mit hektisch ruckendem Kopf sucht er nach Hinweisen auf den Unfall- oder Tathergang.

»Ich habe alles beobachtet«, sagt einer der Müllmänner. Er sieht aus wie die Rolling Stones. Wie alle zusammen. Nach einer langen, langen Nacht. Er nimmt seine Brieftasche heraus und reicht dem Polizisten eine Visitenkarte. »Ich stehe Ihnen als Zeuge zur Verfügung.«

»Dann bestätigen Sie ...«, beginnt der Polizist.

»Die Dame ...«, sagt der Müllmann.

»Philomena«, sagt die Angesprochene und flasht ihre Dritten. »Ich hatte ein Stück die Straße runter mal einen Hutladen.«

»Philomena ist gefahren«, sagt der Müllmann. »Sie musste bremsen, weil Klaus mit dem Müller die Straße blockiert hat. Das Mädchen ist ihr einfach auf die Haube gestiegen.«

»Das tut man nicht«, sagt der Polizist zu Aja und droht mit einem Finger und sieht aus wie Tick, Trick und Track.

»Jawoll, Herr Hauptwachtmeister, Sir!«, schmettert Aja und salutiert.

Der Müllmann gibt auch ihr eine Karte, schweres Papier, edler Tiefdruck. Sie riecht nach etwas, was Natalie Portman zum Spielen in eine dunkle Hofecke schleppen würde. »Recyclingbrokerage« steht darauf.

»Ich bringe Müll an die Börse«, sagt der Müllmann, der laut Karte Werner Schörling heißt.

»Damit verdient man Geld?«, fragt Tizian.

»Bisher habe ich nur die Businesskarten«, sagt Werner. »Irgendwo muss man anfangen.«

»Du hättest sterben können«, sagt Flash mit genug Weiß im Gesicht, um eine Vierzimmerwohnung zu tünchen.

Aja fühlt sich so bleich, wie Flash aussieht. Sterben? Sie wäre bei Roman. Sie streicht über ihren Nacken, die Narbe dort. Sie will nicht sterben. Wieso kommt sie sich deshalb vor wie eine Verräterin?

»Dein Vater ...«, sagt Flash, den Rest verschlingt das Martinshorn des Rettungswagens. Ein Notarzt springt entschlossen heraus, die Sirene verstummt abrupt.

»Wo ist das verdammte Opfer?«, brüllt er mit der Stimme eines ausgebildeten Opernbaritons.

»Kein Opfer hier«, brüllt Flash genauso laut zurück, obwohl er keine fünf Meter vom Notarzt entfernt steht. Das Leben ist zurück in seinen Wangen. Er wendet sich Aja zu und schreit die vor ihm auf dem Boden Sitzende an: »Die Adresse deines Vaters!«

»Was?«, kreischt Aja.

»Dein Vater hat versucht ...«, beginnt Flash, wieder normal laut. Er zieht sie hinter sich her zur offenen Hintertür des Krankenwagens. »Erkläre ich dir unterwegs.«

»Sich umzu...?«, fragt Aja mit einer Stimme wie Wackersteine. Ohne auf Flashs Antwort zu warten, macht sie sich von ihm los. Flashs Gesicht verkrampft sich vor Enttäuschung. Sie kapiert nicht wieso, kapiert es irgendwie doch, aber hat jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken.

»Drücken Sie drauf«, ruft sie dem Rettungswagenfahrer zu und stürzt zu Tizian. »Du fährst mich«, sie schubst ihn zu seinem Roller. Bei dem Verkehr sind sie auf zwei Rädern schneller. »Na los, press Gas. Vergiss, was du in der Fahrschule gelernt hast, rot heißt rüber ohne Tempodrosseln.«

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9783847679141
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