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Liberté, Égalité und eine Zunge im Ohr

Liberté, Égalité, Lindenblütentee. Schöne Sprache, hübsche Lehrerin im Pariser Minirock mit Schottenkaro. Sind dann wohl doch noch in, diese Röckchen.

Statt sich auf ihren Platz links hinten zu fläzen, rutscht Aja auf den freien Stuhl neben ihren aufgezwungenen Projektbuddy, ihre schweißfeuchten Beine in den Shorts quietschen übers Holz.

»Denk dir was aus«, sagt sie leise zu ihm. »Ich setze meinen Namen drunter. Und dann lässt du mich in Ruhe, Deal?«

»Du hast das Gewitter gestern Abend wahrscheinlich nicht mitgekriegt«, sagt er, ohne sie anzusehen, »war ja nur eine Einzelzelle bei uns, kaum Windscherung. Ich war draußen, auf dem Feld, da bin ich meistens bei Gewitter, und als ich vorhin im Physiksaal die Vorbereitungen für den Aufbau einer Tesla-Spule gesehen ...«

»Mach, was du willst, von mir aus in ’ner Einzelzelle. Bist du einverstanden?«

»En français, Aja, s’il-vous plaît«, tönt Mamsell Müller von der Tafel, eine Französin, die im Körper einer Gelsenkirchenerin wiedergeboren wurde – einschließlich Ruhrpott-Akzent. Aja mag sie und sie mag ihr süßes, schweres französisches Parfüm, das noch zwei Schulstunden nach ihrem Unterricht in der Klasse hängt und Erdkunde erträglicher macht.

Aja seufzt.

»Fait que tu veux, de moi stationné à un celle pour un. Est-que tu es d’accord?«

»Je ne te comprends pas«, sagt die Mülläär. »Qu’est-ce que tu veux dire?«

»Sie will, dass er ihr die Zunge ins Ohr steckt.« Klar, Yannick der Schakal, wittert Blut noch gegen Pupsstärke 12.

»Ich stecke dir gleich die Zunge in den Hintern«, sagt Aja ganz cool. »Und zwar deine eigene. Nachdem ich sie dir ausgerissen habe.«

»En Français«, ruft Yannick.

»Fils d’une culotte«, übersetzt Aja. Könnte Hurensohn heißen, aber so ganz sicher ist sie sich nicht. Die Mamsell wohl auch nicht, denn sie schüttelt nur missbilligend den Kopf.

»Keine Sorge, Flash.« Lissa dreht sich zu ihm um und strahlt ihn warm genug an, um einen Eimer kaltes Wasser in Brand zu setzen. »Niemand glaubt ernsthaft, dass jemand wie du etwas mit Aja hat.«

Aja hat bereits eine Entgegnung auf der Zunge. Da bemerkt sie, wie Flash rot wird, und sie vergisst, was sie sagen wollte.

Bei ihr wurde er aber ein bisschen roter. Oder?

Und wenn schon. Sie will jemanden, der sie zum Erröten bringt. Sie will Tizian. Die Sonne unter den Sternen. So haben sie den Maler Tizian genannt, aus Venedig, Hochrenaissance.

Tizian. Aus Baden-Baden. Neuzeit.

Das bekannteste Bild des Malers heißt »Himmlische und irdische Liebe«.

Irdische Liebe mit Tizian. Wenn das mal nicht himmlisch wäre!

»Nein«, sagt Flash und reißt sie aus ihrem Traum. »Ich trickse nicht.«

»Ein Mann mit Charakter«, sagt Lissa. »Respekt.«

»Misch dich nicht ein«, ruft Aja und fügt ein »Ne mixe pas« hinzu, bevor sich auch noch Mamsell Müller einmixt.

Lässig dreht Lissa sich weg und tuschelt mit den anderen Suppenhühnern. Aja schnappt etwas von einem Date auf. Kunststück. Wenn man schon für Sabines Männer eine lange Liste braucht, dann muss Lissa sich zur Verwaltung eine externe Festplatte an ihr Seht-her-I’m-Smart-Phone hängen. Clara hätte fast genauso viele Chancen. Aber erstens schnappt Lissa ihr die Typen weg und zweitens hat Clara Angst, ein Kuss könnte ihr Make-up verunstalten. Und Hanna? Ihre Eltern haben mehr Meilen auf dem Konto als Herr Lufthansa persönlich und sie kriegt von ihrem Papi jedes Jahr zum Geburtstag eine Schönheits-OP geschenkt. Noch zwei Geburtstage und Hanna sieht aus wie ihr eigener Avatar. Mit dem ganzen Silikon, noch mehr Klugheit und ihrer irren Familie schlägt sie jeden Typen in die Flucht.

»Du musst nicht tricksen«, sagt Aja.

»Wir machen das Projekt gemeinsam«, sagt Flash. Sein nächster Satz kommt gequält: »Oder gar nicht.«

»Also gar nicht«, sagt Aja und steht auf.

»Dann«, er blickt zum Fenster hinaus, murmelt: »Dann ist Hosen-runter-Hermann umsonst gestorben.«

»War nett, deine Bekanntschaft gemacht zu haben. Enchanté und ade.«

Irgendwie tut es ihr leid, den armen Kerl so hängen zu lassen. Aber darüber kommt sie hinweg. Gib mir eine Minute.

Hosen-runter-Hermann?

Der romantischste Eisberg überhaupt

Der Nachmittag, endlich und – Yeah! – die Schule ist over and out für diese Woche und bald für immer und Aja läuft durch die Hitze zur Straßenbahn, bevor Flash auch nur auf die Idee kommt, ihr hinterherzudackeln. Tauben dümpeln auf dem vor Hitze flirrenden Asphalt wie zugekiffte Möwen.

Sie rennt zur Haltestelle, wo schon der Bus einfährt und Schüler fein säuberlich nach cool und uncool und nerdy getrennt in Grüppchen zusammen schwitzen. Sie rennt auf die Straße, sie muss den Bus erwischen, sonst verpasst sie das Essen mit ihrem Paps. Ein Hupen von links, eher ein Tröten, und etwas saust schamhaarscharf an ihr vorbei. Mintfarben.

Tizian.

Sein Haar weht aus seinem coolen Halbhelm heraus, so schwarz, dass es blau glänzt, wenn die Sonne im richtigen Winkel darauf scheint. Er hätte sie beinahe mit seinem Roller überfahren. In der nächsten Sekunde wird er bremsen, sich entschuldigen oder sie wird sich entschuldigen, egal, und dann werden sie zusammen lachen, ein bisschen Smalltalk, er übersieht gönnerhaft ihr Second-Hand-Third-Mülleimer-Outfit und lädt sie zur Wiedergutmachung auf ein Eis ein, einen Eisberg, und zwar den von der Titanic, das ist der romantischste Eisberg überhaupt, und dann ...

Tizian hält tatsächlich.

Er wendet.

Er kommt genau auf sie zu.

Er lächelt.

Oh Gott, bloß nicht.

Der Verkehr kommt zum Erliegen, Fanfarenmusik tönt aus den Wolken, von DJane Angel herself aufgelegt. Die Menschen steigen aus ihren Autos und LKW, sie strömen aus den Geschäften und Büros, selbst der Bus hält und die Fahrgäste drängen nach draußen, sie alle werfen sich zu Boden, einer auf eine Taube, die Ärmste, sie alle sind geblendet von der Schönheit dieses Augenblicks (bis auf die arme Taube). Die ersten Dichter sind da, um den Moment zu verewigen, die ersten YouTuber halten ihre Handys in die Luft, RTL und SAT1 haben ihre Teams geschickt, Frühstücksfernsehen oder Prime Time, hängt allein davon ab, wie Tizian sie küsst, Zunge oder nicht.

Der Rest ihres Lebens beginnt in diesem Augenblick.

Tizian winkt ihr zu.

Jemand rempelt Aja zur Seite, läuft winkend auf Tizian zu und springt direkt in einen Hundehau... Nein, es ist Lissa. Elegant schwebt sie über das braune Hindernis und auf den Rücksitz des Rollers. Tizian zieht seinen Helm aus und gibt ihn ihr. Er bringt sein Leben in Gefahr, um Lissas zu schützen!

Aja wurde noch nie Zeuge einer romantischeren Geste.

Dann fliegen sie mit dem Roller davon. Ein Schwarm Tauben gibt den Weg frei, die Wolken öffnen sich, bevor das endlose Blau des Himmels dahinter Tizian und Lissa verschluckt.

Shit.

Aja rennt ihnen hinterher. Der Bus überholt sie und eine Reihe platter Nasen hinter den Scheiben blickt ihr grinsend nach, wie sie da steht in einer Pfütze ihres eigenen Schweißes. Diesen Bus hat sie verpasst und das Essen mit ihrem Paps.

Verfluchter Shit.

Verdammter Dreckshit.

Sie sucht ein Wort, das groß und stinkend und dreckig genug ist, diesen Augenblick zu beschreiben. Etwas klatscht an ihrer Nase vorbei, hinterlässt einen Sprengsel auf der Spitze und schlunzt auf ihren rechten Schuh.

Shit.

Genauer gesagt: Taubendreck.

Preußische Tugenden und reichlich troubled Water

»Sie sind in den Himmel geflogen?«, fragt Ajas Paps. »Wow. Was fährt er noch mal für ein Modell?«

Aja stupst ihn an. Sie stupst ihn gern an. Sie will so viel wie möglich von ihm haben, an den Freitagnachmittagen, die nur ihnen beiden gehören. Sie fasst ihn dauernd an. Könnte ja sein, dass er sich in Luft auflöst, einfach so. Man hat schon von Vätern gehört, die genau das gemacht haben, oder?

Zum Beispiel, wenn ihre Töchter ihnen eröffnen, dass sie nach dieser Saison die Schule schmeißen. Bloß den richtigen Moment abpassen.

Sie grinst. Er kaut. Sie liebt es, ihren Paps essen zu sehen. Unverscheuchbare Spatzen hüpfen zwischen ihren Beinen herum und sie alle sehen aus wie Dirk Bach mit Schnabel.

»Noch etwas Wasser?«, fragt der aufmerksame Kellner.

Sie sitzen bei ihrem Lieblingsdeutschgriechen, wie jeden Freitag seit zwei Jahren, auf der Terrasse unter einem an den Ecken leicht angeschimmelten Sonnenschirm, und schwitzen die Woche aus und all den Plunder, der ihnen in den letzten sieben Tagen quergelaufen ist. Das Ajax ist das Lieblingsrestaurant ihrer Familie, schon seit der Zeit, als sie noch eine Familie war.

»Haben Sie nicht auch bernsteinfarbenes Wasser? Mit Retsina-Geschmack?« Ajas Paps blinzelt dem Kellner zu.

Dieses Mal stupst Aja ihn so fest, dass er fast vom Stuhl kippt.

Der Kellner zieht die Brauen hoch.

»Wir haben Ouzo.«

»War nur ein Scherz«, sagt Gadd. So nannten sie ihn, als er noch ein gefragter Drummer war. Aja wird den Namen so lange benutzen, bis er genau das wieder ist.

»Ein Scherz.« Aja zupft wütend an ihrem Ohrläppchen, ungewohnt der Luft ausgesetzt, die vielen Haare ordentlich nach hinten gebunden, Modell Pferdeschwanz Mustertochter. Sie trägt ein Sommerkleid, Millefleurs, ein neues, das sie später in Eddas Second-Hand-Laden verscheuern wird. Sie hat es in Mamsell Müllers Citroën angezogen, die sie an der Haltestelle aufgelesen und sie, merci beaucoup, hierher gefahren hat.

Gadd trinkt sein Wasser und blinzelt Aja über den Rand des Glases zu. Er bleibt aussehensmäßig ein wenig hinter seinen Möglichkeiten. Ehrlich gesagt bleibt er so weit dahinter, wie die Sonne von der Erde weg ist. Immerhin gibt er sich Mühe. Seine grauen Haare sind stumpf, doch frisch gewaschen und zusammengebunden. Er hat sich rasiert, so gut es eben geht mit zitternden Fingern. Sogar seine Sonnenbrille hat er abgesetzt. Bad move. In seinen Augen verzweigen sich rote Äderchen von der Größe des Amazonas-Deltas.

»Dein Tizian wird die Schönheit bald satthaben«, sagt er.

»Ich glaube nicht mehr ans Christkind, egal, was Herr Sarytchew predigt.«

»Dann wird eben Lissa ihn abservieren.«

»Frohe Weihnachten, Paps.« Niemand serviert Tizian ab, niemals. Auch bei Lissa wird das keiner wagen. Zwei Mal keine Chance ist immer noch ziemlich wenig. Shit. Sie tritt nach den Spatzen.

»Solange er auf deiner Schule ist, besteht Hoffnung. Jeden Tag kann was passieren. Auf dem Schulhof. An der Haltestelle. Zwischen zwei Schulstunden. Ich habe Sabine auf dem Campus kennen gelernt.«

Ihr Paps legt einen salzigen Finger mitten in ihre Wunde. Wie soll sie Tizian überhaupt noch begegnen, wenn sie in irgendeiner Lehrwerkstatt Motorteile feilen oder Haarteile fegen muss?

»Love is stranger than fiction«, sagt Gadd, »hm?«

Die Essen mit ihrem Paps folgen einer eingespielten Dramaturgie. Sobald er mit der Liebe anfängt, kontert sie mit Sabines Männern.

»Sabine hat einen Neuen.«

»Weißt du, was ich hier mag?«

»Ja«, sagt Aja, aber Gadd redet einfach weiter.

»Dass keine Musik läuft. Das Schlimmste, was du Musik antun kannst: dass du sie zum Hintergrundgedudel erniedrigst.«

»Komm schon, du willst es doch wissen, das mit Sabine.« Er winkt ab, aber Aja fährt unbeeindruckt fort: »Ein Jurist ohne ein einziges Haar auf dem Kopf. Typ Serienkiller. Abartig. Steht auf Pétoncle. Und Sabine hat ihm von Roman erzählt. Heißt Edgar Richter, nein, Pförtner ...«

»Gärtner«, sagt Gadd und er sieht noch ein bisschen mehr aus wie die ehemals reinweißen Tischdecken hier vor zehn Jahren.

»Du kennst ihn?«

»Entschuldigen Sie.« Eine Stimme hinter ihr lässt sie herumfahren. Ricardo, einer der Köche, ein nach Zwiebeln riechendes Bierfass Mitte zwanzig tritt zu ihrem Tisch. »Sie sind Gadd Freumbichler! He, Mann, was geht!«

»He!«, gibt ihr Vater zurück, offenbar noch bei Roman und dem Eiermann.

»Ich liebe Ihre Arbeit auf ... auf ...« Er sieht Aja fragend an.

Sie rollt die Augen, dreht sich zu ihm um und sagt tonlos:

»Die CD.«

»Die CD«, wiederholt er laut. »Genau.« Er zieht mit einem dummen Grinsen eine CD aus seiner Tasche und liest stockend den Titel: »Preu... Preußische Tugenden.« Er runzelt die Stirn, die CD in seiner Hand bekommt langsam Fettflecken.

»Sie wollen bestimmt ein Autogramm von Gadd. Das ist mein Paps.« Sie hört sich überzeugend stolz an, wie sie findet.

»Haben Sie einen Stift?«, fragt Gadd. Kann es sein, dass er noch ein Stück deprimierter aussieht?

»Danke, Mann«, sagt Ricardo. »Ich muss zurück zu meinem Rostbraten.«

»Die CD.« Gadd hält sie ihm hin. Seine Hand zittert, aber endlich greift Ricardo zu und verzieht sich. Für diese miese Vorstellung hat sie ihm zehn Euro bezahlt und eine CD geschenkt?

»Cool, oder?«, sagt sie überschwänglich. »Dass sie dich immer noch erkennen.«

»Sie lieben mich«, sagt Gadd so traurig, dass Ajas Herz in tausend Teile bricht. »Fünf Jahre, fünf scheiß lange Jahre, in denen ich keine Sticks mehr halten kann. Geschweige denn, damit irgendwas treffe, was kleiner ist als Kanada.«

»Du machst Fortschritte. Das hast du gesagt. Das stimmt doch?«

»Preußische Tugenden«, sagt er leise, wie zu sich selbst. »Jeden Tag meine vier Stunden geübt, und ich meine, jeden beschissenen Tag. Immer der Erste im Studio. Wenn Not am Mann war, habe ich den Roadies geholfen, aufbauen, abbauen, ich habe die Band mit Essen versorgt, mit dummen Witzen und mit Trost. Ich habe sie gefahren, ich habe die Verträge ausgeschwitzt mit unserem verlogenen Dreckschwein von Manager. Hat ihn nicht davon abgehalten, sich mit der Kohle abzusetzen und der Journaille Lügen über mich zu erzählen. Und die Typen vom SWR, über die man hier dauernd stolpert, kennen mich nicht mehr.« Er fährt sich über die schwitzige Stirn.

»Du hast dir zu viel Stress gemacht.«

»Jeder hat Stress. Aber nicht jeder geht deswegen mit Cuervo Gold ins Bett, von den Frauen ganz zu schweigen.«

»Mama hätte ...«

»Sabine hat das einzig Richtige getan. Mir den Stiefel zu geben. Zerbrochene Drumsticks kann man nicht flicken. Da bleibt nur eins: wegschmeißen.«

Jetzt sind sie doch wieder da, wo sie jedes Mal hinkommen. Egal, was sie versucht, egal, wie gut das Essen oder wie schön das Wetter ist, egal wie viele Witze sie reißt oder wie sehr sie Sabines neuesten Mann verspottet, irgendwann landen sie und ihr Vater immer wieder an dieser düsteren Stelle: Tod bei Sonnenfinsternis über Schwarzafrika.

»Wir haben heute unsere Projektteams gebildet«, sagt sie rasch, um irgendetwas zu sagen.

»Der P-Day, richtig, hatte ich ganz vergessen. Und?« Er reibt sich die feuchten Augen und lächelt, dass Ajas zerbrochenes Herz in noch kleinere Teile bricht. Sein Lächeln gefriert und er blickt an ihr vorbei zum Nachbartisch, wo eine Kellnerin ein Tablett mit klaren Schnäpsen serviert. Aja rückt ein Stück mit ihrem Stuhl, genau in seinen Blick. Wut kocht in ihr hoch wie auf der Herdplatte vergessene Milch.

»Ich muss ein Projekt mit dem größten Idioten der Schule machen, ein kleiner, schmieriger Aufreißertyp. Er sagt, ich stinke nach faulen Bananen, und dann versucht er, mir die Zunge ins Ohr zu stecken.« Sie erschrickt über ihre Lügen. Sie hat jemanden verletzen wollen, egal wen.

»Du kriegst das hin«, sagt Gadd. Jetzt zittert sogar seine Stimme, ein Tick flackert in seinem linken Auge. Er setzt seine Sonnenbrille auf.

»Klar«, sagt sie mit dem schlechtesten Gewissen von hier bis Ostsibirien.

»Weißt du, dass ich deine Sommersprossen liebe?«, sagt er.

»Das erzählst du mir jedes Mal.«

»Sind es noch dreihundertvierundsiebzig?«

Er hat sich die Zahl gemerkt, trotz seines zersoffenen Hirns. Sie könnte heulen vor Freude, doch auf einmal ist diese hilflose Wut wieder da, wegen des Alks, wegen ihrer Entscheidung, die Schule zu schmeißen, die ihr mit jeder Minute dämlicher erscheint – und ihrer fest eingeplanten Lovestory mit Tizian abträglicher.

»Zähl nach, wenn du es wissen willst.« Sie steht auf, um den Schirm zuzuklappen, damit Gadd sie besser sieht, damit ihr neue Sprossen wachsen, damit sie nicht explodiert vor Wut. Aber der rostige Schirm denkt nicht daran, sich zumachen zu lassen. Sie tritt dagegen und ein überraschter Spatz fällt von seinem Rand auf den Nebentisch, mitten hinein in ein Königinnenpastetchen. »Das hier ist doch nur Show«, ruft sie. »Du reißt dich ein paar Stunden zusammen, damit ich dich den Rest der Woche in Ruhe lasse und du dich volllaufen lassen kannst.« Sie knallt ihren Hundert-Euro-Schein auf den Tisch. »Behalt den Rest.«

»Ich bin stolz auf dich«, ruft er ihr hinterher, die Leute im Restaurant sind ihm egal. Auch dafür liebt sie ihn, aber sie drängt sich weiter zwischen den Tischen hindurch. Sie springt über den Zaun auf den Gehweg und verschwindet.

Verschwinden? Wenn es doch so einfach wäre.

Denn Nicht-Verschwinden ist Dableiben und Dableiben tut viel zu weh.

Der Spatz in der Pastete zwitschert ein Lied davon.

Heiße-Hufe-Hermann und der Killerwels

»Bleib bei Gewitter ja im Haus«, sagt Flashs Mutter zum Abschied.

»Klar, Mama«, erwidert Flash. Wenn sie wüsste, was er vorhat, sie würde ihn vor den Gästen in sein Zimmer schleifen und ans Bett ketten.

Vielleicht ahnt sie es ja, denn sie setzt an, etwas zu sagen, meint dann aber nur:

»Bis Freitag. Und vergiss Marlboro Lights nicht.«

Flash nickt und klopft ihrem Esel, Marlboro, auf die Kruppe. Mit sieben Eseln und sechs Gästen bricht seine Mutter zu sechs Tagen Schwarzwaldtrekking auf. Die Gäste winken Flash zum Abschied, Flash lächelt nur. Sie sollen Spaß haben, so das Motto seiner Mutter.

Er will seiner Mutter nachrufen, sie beruhigen, »Ich werde nicht enden wie Opa«, denn genau davor hat sie solche Angst. Er bekommt kein Wort heraus.

Mit hängenden Schultern geht er hinüber zum Stall und gibt ihrem einzigen Eselsfohlen, Marlboro Lights, etwas zu saufen. Nachdem sie selbst das Rauchen aufgegeben hatte, hat Flash Mutter sämtliche Esel nach Zigarettenmarken benannt.

Schäfchenwolken ziehen über den Himmel. In Flash wecken Sie das Bedürfnis, in eine Wolke Zuckerwatte zu beißen, Auge in Auge mit Aja. Sie werden sich so lange durchfuttern, bis sich ihre Lippen berühren.

Der erste Schritt ist getan. In den letzten Wochen hat er daran gearbeitet, dass Aja und er in ein Projekt gesteckt werden. Dass es so glatt lief, war kein Glück. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er jemand anderen, noch dazu einen Lehrer, bewusst beeinflusst hat. Aber wenn Aja es nicht wert ist, dass er über seinen Schatten springt, wer dann?

Hör auf zu träumen. Mach dein Ding. Darum geht es. Nur darum.

In einigen der Wolken quellen kleine Höcker aus dem Weiß, Vorboten der Cumulonimbusse, der Blumenkohlgebirge, die später daraus wachsen. Flash kribbelt es im Nacken, er spürt die Elektrizität. Er muss sich beeilen.

Laut singend – FFFFFFlash! A-haaa, saviour of the universe! – läuft er zu seinem Schuppen, den er sich eigens für den einen Zweck aus zusammengesuchten Latten und beim Sägewerk geschnorrten Abfallbrettern gezimmert hat. Nur, wenn seine Mutter unterwegs ist, kann er in Ruhe an seinem Projekt arbeiten, ohne andauernd jede einzelne Verletzung ihres Großvaters aufgetischt zu kriegen.

Uropa Hermann wurde vier Mal vom Blitz getroffen.

Der Erste erwischte ihn beim Heuen, setzte seine Holzschuhe in Brand und ließ sein rechtes Trommelfell platzen. Die angekokelten Holzschuhe hängen in ihrem Wohnzimmer, neben dem Kamin. Fortan hieß Hermann im Dorf nur noch Heiße-Hufe-Hermann.

Flash sperrt das schwere Vorhängeschloss auf und tritt ins Dunkel. Es duftet nach Eisen und Öl, nach dem Gas seines Schweißgeräts. Er macht Licht. Der Prototyp ist so gut wie fertig.

Für den morgigen Sonntag haben sie einen Wetterumschwung angekündigt. Schauerwetter. Er würde lieber Kupfer nehmen, aber dazu fehlt ihm das Geld. Jobben? Dazu fehlt ihm die Zeit. Wenn er sich um die Esel und die Feriengäste und die Website gekümmert hat, schmeißt er meistens noch den Haushalt. Er oder keiner. Seine Mutter ist eine wunderbare Köchin. Bloß kocht sie nicht gern.

Und sein Vater? Nimmt kein Messer in die Hand aus Angst, seine Künstlerhände zu verletzen. Er malt. Leben tut er mal hier, mal bei Cathérine, seiner Muse aus dem Luberon. Flash kennt sie nur von den Bildern, die sein Vater von ihr gemalt hat. Nacktbilder.

Wie schafft es jemand, mit zwei Frauen zu leben, und zwar so, dass ihn trotzdem keine aus Eifersucht verlässt?

Er sieht noch genau vor sich, wie Aja in der ersten Deutschstunde aufstand und sagte, sie fände »Gramm-Mattick« blöd, und anschließend aufs Klo ging, ohne Frau Steckerl zu fragen. Er hat miterlebt, wie sie von einem andauernd über irgendetwas wütenden kleinen Mädchen zu einer jungen Frau gewachsen ist, mit einer Ausstrahlung wie ein Blitzkanal. Ein paar Mal hat er versucht, mit ihr zu sprechen, hat sich jedes Mal wochenlang darauf vorbereitet. Hat geschwitzt und gezittert. Immer kam etwas dazwischen. Meistens seine Feigheit. Wenn es um Mädchen geht, ist er mit Mut so reichlich gesegnet wie ein Nashorn mit rosa Flügeln.

In der letzten Zeit hat er die Eroberung von Aja seinem Projekt zuliebe zurückgestellt. Diese Sache, die hier drin unter seinen Fingern entsteht, die kann er steuern. Aja hingegen – sie ist wie eine Tretmine, die seit Jahren in der Erde schlummert.

Gestern ist sie hochgegangen. Mitten in sein Gesicht.

Du lieber Downburst!

Er bewundert Ajas Energie. Aber ihre Wut macht ihm Angst.

Nein, sie ist keine Mine – Aja ist ein Blitz. Trotz aller Forschungen weiß keiner, wie man einen Blitz bändigt oder sich seine Energie zunutze macht.

Kopfschüttelnd dreht Flash die Ventile an den Gasflaschen auf und konzentriert sich auf seine Arbeit.

Der zweite Blitz traf Uropa Hermann bei einer Kahnfahrt. Er saß da, die Angel im Mummelsee, zwischen seiner Frau und einem Nachbarehepaar, als etwas Riesiges auf ihn zuschoss. Einen Moment lang hielt er es für einen Wels. Die anderen drei kamen mit dem Schrecken und einem Bad im eiskalten See davon. Hermann aber lähmte der Blitz vorübergehend den linken Arm und ließ ihn ein halbes Jahr immer wieder in unkontrolliertes Zittern ausbrechen, was ihm den Spitznamen Wackelpudding eintrug.

Nachdem Flash die letzten Blechleisten angeschweißt hat, lässt er Marlboro Lights auf die Koppel. Während er dem Fohlen beim Fressen zusieht, spürt er, wie hungrig er selber ist. Statt jedoch Zeit mit Essen zu verschwenden, fährt er den kleinen Gabelstapler aus dem Unterstand. Sonst verlädt er damit das Heu für die Esel, jetzt hievt er den Prototypen auf den Anhänger und kuppelt den Traktor davor.

Ein ausgewachsener Blitz ist eine ganz andere Nummer als eine Tesla-Spule. Der würde die Typen von ArcAttack bei ihrer Elektro-Show in ihre Anzüge schweißen. Also hat er statt Draht Eisenbleche verwendet, was den Prototyp aber leider so schwer macht, dass er zum Transport den Trecker braucht.

Er tuckert den Feldweg hinaus auf den Südwesthang. Die Fichten riechen vor einem Gewitter immer besonders intensiv. Über ihm türmen sich zwei Wolkenberge, die mit jedem Blick dunkler werden. Wind zerzaust sein Haar. Er grinst breit und brüllt den warmen Wind an, Löwenzahnsamen stieben davon, als er ins Gras springt. So schnell er kann, rennt er zum Hof zurück und führt Marli in den Stall (mit Blitzableiter). Der Luftdruck sinkt, sein Herz schlägt schneller.

Das schafft sonst nur Aja. Wenn sie jetzt bei ihm wäre und mit ihm seinen Käfig beobachten könnte! Die Sache ist ungefährlich, solange sie nicht im Käfig sitzen. Na ja, Gefahr ist relativ.

Er steigt auf den Stapler, Marlboro Lights iaht.

»Wenn du gleich in meinem Unterstand bei mir sitzen würdest«, sagt er, »wärst du so klein mit Zylinderhut.«

Warum nicht? So könnte er austesten, ob genug Platz für zwei Personen ist. Damit er die Sache demnächst Aja vorführen kann. Gehört mit zum Projekt. Den kleinen Schönheitsfehler, dass Aja nicht mitmachen will, kriegt er noch ausgebügelt. Wie könnte irgendjemand nicht vom Blitz getroffen werden wollen?

Er führt Marli aus dem Stall – »ein einziges Rein und Raus, du Ärmste, tut mir leid« –, bindet sie an den Stapler und tuckert zurück zur Wiese. Er führt Marli in den Unterstand. Den Prototypen platziert er mit dem Stapler möglichst nahe am Hang, im Offenen.

Seine Hände zittern vor Aufregung, als er den drei Meter langen Eisenstab oben festschraubt. In den Wolken leuchten die ersten Blitze, Donner grummelt.

Er kriegt nun doch Hunger. Egal. Der seriöse Wissenschaftler stellt jedes körperliche Bedürfnis zurück. Wieso schnorrt Aja sich Essen hinterm Supermarkt, wie Yannick behauptet? Ihre Mutter hat Geld.

Konzentrier dich auf deine Aufgabe, Flashman.

Während er den Stapler und den Traktor samt Anhänger tief unter die ersten Bäume fährt, feuert er die Wolken an, höher zu wachsen und sich die Bäuche so richtig mit Energie vollzuschlagen.

Marli nibbelt an seiner Hand.

»Einen Apfel gibt’s später«, sagt er zu ihr. »Du willst doch eine seriöse Eselin der Wissenschaft sein, oder?« Er krault sie ein bisschen hinterm Ohr und erklärt ihr, was auf sie zukommt. »Alles, was im Käfig drin ist – also wir –, ist sicher. Ich habe mehrere Ableiter angeschweißt. Die gehen zehn Meter vom Blech-Iglu entfernt in den Boden und führen den Blitz weit genug weg. Ähm, theoretisch.« Er beißt sich auf die Lippe, aber Marli wirkt gelassen. Er zieht sie in den Unterstand, ein überdachtes Erdloch, das er ringsum gegen Spannungstrichter isoliert hat, kauert sich schützend vor sie und macht sich klein.

Er wartet.

Marli knabbert an seinem Ohr.

Die Warterei ist spannender als jeder Film.

Beim Anblick seiner Konstruktion erfüllt ihn Stolz. Sein Werk! Er kuschelt sich an Marli, er mag ihren Geruch nach ... nach Freiheit und Abenteuer. Aja ist zierlich, kaum größer und vermutlich riecht sie noch besser. Wenn sie wüsste, dass er sie von einem Esel doubeln lässt, würde ihm der beste Blitzschutz nicht helfen.

Irgendwo kracht der erste Blitz. Zehn Sekunden, dann folgt der Donner. Gut drei Kilometer also.

Der Schwarzwald ist die aktivste Gewitterregion in Deutschland.

Zeig’s uns, Donnergott!

Er wartet.

Marli knabbert an seiner Hand. Ihr scheint die Sache Spaß zu machen. Vielleicht hat er in ihr eine Seelenverwandte gefunden.

»Als Uropa Hermann das dritte Mal vom Blitz getroffen wurde«, erzählt er der Eselin, »lag er in einem Bombentrichter in Frankreich, mitten im Krieg. Eine Erdmulde ist ein gutes Versteck. Du musst dich hinkauern, um die Schrittspannung klein zu halten. Mein Uropa hat das nicht gewusst. Auch nicht, dass die tiefe Pfütze im Trichter den Blitz anzieht – Süßwasser leitet Blitze schlechter ab als Salzwasser. Schlechter als ein Mensch. Oder ein Esel.« So beging sein Urgroßvater den großen Fehler und warf sich flach ins Wasser, die Erinnerung an seine beiden ersten Erlebnisse mit Blitzen war noch frisch.

Dieses Mal traf ihn der Blitz genau im Hintern, verschmorte seine Hose und die linke Pobacke. Doch statt nach Hause brachte ihn die Verletzung in französische Gefangenschaft. Nach dem Krieg hat er jedem die Brandnarbe gezeigt. Im Dorf nannte man ihn bald nur noch Hosen-runter-Hermann. Seiner Familie war das furchtbar peinlich. »Der Einschlag, behauptet Mama, hat ihm nicht nur den Allerwertesten versengt.«

Ein Blitz fährt grell in die Bäume ein Stück weiter im Süden. Flashs Atem geht schneller. Sechs Sekunden. Das Gewitter rast näher. Marlis Herz schlägt schnell und warm ganz nah an seinem.

Komm nur.

Er muss sicher sein, dass die Sache klappt, bevor er Aja da mit reinzieht. Wenn sein faradayscher Iglu vor ihren Augen zu Schlacke verbrannt wird, dürfte das kaum ihr Zutrauen in das eigentliche Projekt stärken.

»Zwei Drittel der Menschen, die vom Blitz getroffen werden, überleben. Die anderen – ähm, die nicht. Über Esel kenne ich keine Statistik.« Er sagt nicht, dass vier Beine im Zweifel ein Nachteil sind. »Geld ist keins zu verdienen, mit Personenschutz vor Blitzen, nur Erkenntnis.« Und, zugegeben, das hier ist seine Vorstellung von Spaß: vom Blitz getroffen werden und es gesund zu überstehen.

Drei Mal ist ihm das gelungen. Beinahe. Spaß hat es nie gemacht. Lag vor allem daran, dass er schutzlos war. Noch mal wird ihm das nicht passieren.

Seit dem Premierentreffer ist das erste Glied des kleinen Fingers seiner linken Hand vollkommen taub und am Arm zieht sich eine Brandnarbe bis zur Achsel. Was sich nicht geändert hat: Er würde am liebsten jeden Blitz mit der bloßen Hand anfassen. Ansonsten ist die Geschichte aber zu peinlich, um sie dem Mädchen zu erzählen, in das er ...

Hinter ihm schlägt es ein, der Donner braucht neun Sekunden, ein zweiter Blitz folgt, zehn Sekunden. Flash stöhnt frustriert.

Das Gewitter zieht ab. Und lässt nichts zurück als einen Wolkenbruch.

Selbst seriöse Wissenschaftler werden nass.

Marlboro Lights iaht.

Und seriöse Esel.

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9783847679141
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