Читать книгу: «Der Dieb ohne Herz», страница 2

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»Ich wünsche mir«, begann ich, »dass wir eine Einladung von der Königin von Malufra bekommen würden.«

Ich wartete einen Moment. Irgendwie fühlte sich das Ganze noch nicht richtig an. Da fehlte noch etwas.

»Dafür biete ich, was immer ihr wollt.«

Noch immer war es still. Was hatte ich auch erwartet? Dass dieses Märchen wahr war und in den nächsten Sekunden der königliche Bote auftauchte, um mich und Irena mit auf das Schloss zu nehmen?

Ich schnappte mir die Kerze vom Boden und öffnete die Tür. Einen kurzen Moment blickte ich noch einmal hoch zu den Sternen. Täuschte ich mich, oder war da ein neuer Leuchtpunkt am Himmelszelt aufgetaucht?

Einer, der heller strahlte als alle anderen?

3

Wo Mädchen verschwanden


Malina!«

»Malina!«

»Himmel noch mal, Malina!«

Es fühlte sich an, als ob ich gerade erst meine Augen geschlossen hätte, als mich die Stimme von Irena weckte. Ich blinzelte, rieb mir zaghaft über die Augen und wagte einen Blick unter der Decke hervor. Hatte ich verschlafen?

»Malina!« Völlig außer Atem kam Irena die breiten Stufen hoch. Ihr Haar war zerzaust und es wirkte beinahe, als sei sie gerade erst aus dem Bett beziehungsweise aus dem Stuhl hochgeschreckt.

»Was ist los?«, fragte ich und rieb mir erneut über die Augen.

»Sie haben wieder einen gefunden.« Irena schüttelte den Kopf.

Nun war ich endgültig wach. Ohne ein weiteres Wort von Irena erhob ich mich, zog meine einfache graue Jacke über das Schlaf­gewand und rannte die Stufen hinunter. Meine nackten Füße huschten über die hölzernen Treppenabsätze und beinahe wäre ich in Edmund gerannt. Er stand im Eingang unseres Hauses. Noch immer trug er seine Wachmannsuniform und das dunkle Haar war perfekt frisiert. Auch seine Stiefel glänzten und seine Uniform war sauber zugeknöpft. Doch selbst diese Perfektion und dieser Schein konnten die Wahrheit nicht verbergen. Edmund hatte denselben nachdenk­lichen Blick aufgesetzt wie Irena vor wenigen Sekunden.

»Wo?«, fragte ich einfach und drängte mich an ihm vorbei.

»Unten am Meer. Sie haben ihn bereits weggeschafft«, beantwortete er meine Frage. Ich schloss die Augen und trat nun endgültig hinaus ins Freie. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und es roch noch nach Morgentau. Ein kühler Wind blies mir durchs Haar und ließ mich trotz meiner Jacke frösteln.

»Ich denke, wir sollten uns langsam Sorgen machen.« Irena erschien hinter dem Wachmann und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich nickte. Es war bereits der vierte Todesfall in diesem Monat und so langsam musste etwas geschehen. Auf einmal erschien das Bild des blonden Jungen vor meinen Augen. »Wie sah er aus?«, fragte ich zaghaft und hoffte, dass nicht er der Tote war.

»Ein älterer Mann mit gräulichem Haar. Er war auch Fischer.

Wie die anderen.«

Wie die anderen … Immer wieder hatte man unten am Meer tote Männer gefunden. Sie alle hatten als Fischer gearbeitet und waren in den hohen Wellen ertrunken, zumindest deutete alles darauf hin.

»Das liegt an der Geldnot. Die Abgaben werden immer höher und irgendwann fahren die Fischer auch nachts hinaus, um irgendwie an ihr Geld zu kommen.« Irena schluckte, als sie die Worte aussprach, und schüttelte dann traurig den Kopf. »Diese ständige Suche nach Geld, sie bringt uns alle noch ins Grab.«

Wieder nickte ich. Wer der Mann wohl gewesen war? Hatte er Familie und Kinder gehabt? Ich wollte mir seine Geschichte gar nicht erst ausmalen.

»Ich werde wieder hinuntergehen und schauen, ob ich etwas helfen kann«, sprach Edmund und verneigte sich leicht.

»Ich komme mit!«, rief Irena und fuhr sich eilig durch ihre dichte Mähne. »Noch einmal sehe ich nicht tatenlos zu.« Mit energischen Schritten lief sie die Treppe hoch.

»Dann werde ich wohl warten«, seufzte er und kratzte sich verlegen am Kopf. Er wusste nur zu gut, dass es nichts brachte, Irena zu widersprechen. Sie hatte einen sturen Kopf und ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen.

Es dauerte nicht lange, da erschien Irena wieder bei der Treppe. »Ich bin gleich wieder zurück, schlaf du ruhig noch etwas.« Sie lächelte, ehe sie zusammen mit Edmund das Haus verließ.

Erst jetzt fiel mir diese Stille auf. Im ganzen Haus war es ruhig, kein einziger Laut drang von draußen herein. Ich seufzte und gähnte noch einmal herzhaft. An Schlaf konnte ich nun nicht mehr denken. Ich war zwar noch müde, aber wenn ich mich jetzt noch einmal hinlegen würde, dann würden meine Gedanken wegen des Toten ständig abschweifen. Also ging ich in die Küche und suchte nach etwas Essbarem. Viel gab es nicht. Die Suppe von gestern stand noch dort, aber inzwischen war nicht mehr viel davon übrig. Daneben lag noch ein Stück Brot, dem ich jetzt meine Aufmerksamkeit schenkte. Ich brach es in der Mitte auseinander und wollte gerade einen Bissen nehmen, als mir etwas anderes auffiel. Ein brauner Umschlag lag auf dem Boden. Womöglich hatte ihn ein Windstoß vom Tisch befördert, immerhin stand das Fenster offen. Neugierig hob ich ihn auf. Das Papier war ganz rau und vergilbt, als ob der Brief schon eine Weile dort unten läge. Dort, wo ich den Umschlag berührt hatte, kribbelten meine Finger ganz leicht. Überrascht ließ ich ihn wieder fallen. Nun lag er auf der anderen Seite und ich entdeckte auch, an wen er adressiert war. Malina

Ein Brief für mich? Ein ungutes, beinahe schon beängstigendes Gefühl kroch meinen Rücken hinauf. Ich hatte bisher noch nie einen Brief bekommen, höchstens von Irena selbst, aber das hier war nicht ihre Handschrift. Ich legte das Brot beiseite und hob den Brief erneut auf. Diesmal blieb das Kribbeln aus. Er war verschlossen durch ein blutrotes Siegel mit dem Buchstaben M. Ganz vorsichtig durchbrach ich das Siegel und öffnete den Umschlag.

Eine Einladung in das Reich Malufra. Mit dieser Einladung ist es Euch gestattet, die Königin höchstpersönlich zu besuchen und auf Kosten des Königreiches einige Tage in meiner Stadt zu verbringen.

Die Königin

Ich las den Brief immer und immer wieder, machte mir alle möglichen Gedanken dazu. Warum war diese Nachricht an mich gerichtet? Warum sollte die Königin mich einladen?

Und während ich dasaß und meinen Gedanken folgte, vergaß ich komplett die Zeit.

»Was ist das?«

Ich keuchte auf und drehte mich ruckartig um. Irena stand hinter mir. Sie strich sich eine dunkle Haarsträhne hinter das Ohr und blickte mich dann auffordernd an.

»Ein Brief mit einer Einladung nach Malufra«, sprach ich leise.

Nun weiteten sich ihre Augen. »Ein Brief mit einer Einladung nach Malufra?«, wiederholte sie ungläubig. Langsam schritt sie näher und nahm mir den Zettel aus der Hand.

So standen wir eine Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam. Irena musste den Brief inzwischen schon Dutzende Male gelesen haben, schwieg aber weiterhin.

»Bestimmt ein Scherz.« Ich zuckte mit den Schultern und nahm mein Brot wieder in die Hand.

»Leider nicht, das hier ist wirklich eine Einladung zur Königin.« Sie schüttelte den Kopf und setzte sich dann auf einen der Holzstühle rund um den Tisch. Sie deutete auf das Siegel. »Solch ein Siegel besitzen nur adelige Menschen und auch den Initialen nach zu urteilen, hat die Königin von Malufra den Brief unterzeichnet. Nur, warum sollte sie dir so etwas schicken?« In ihrem Blick lag eine Art Vorwurf.

»Ich weiß es …« Ich wollte gerade meinen Satz mit dem Wort nicht beenden, als mir das Märchen mit den Wünschen in den Sinn kam. »Ich habe es mir gewünscht.« Nun setzte auch ich mich auf einen der Stühle. Mein Herz pochte und ein unangenehmes Gefühl breitete sich in meiner Brustgegend aus.

»Malina …« Irena holte tief Luft und schluckte ihren Ärger hinunter. »Zu welchem Preis?«

Nun sagte ich nichts mehr, da ich wirklich nicht wusste, was ich dazu noch sagen könnte. Ich kannte den Preis nicht und vielleicht war das der Grund für dieses unangenehme Ziehen in der Nähe meines Herzens.

»Ich weiß, es sind nur Märchen, aber in jedem Märchen steckt ein Funke Wahrheit.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte nur, dass du mir eines versprichst.«

»Was?«, fragte ich zögerlich.

»Dass du nicht dorthin gehst. Du bleibst hier und folgst der Einladung nicht!« In ihrer Stimme lag ein warnender Unterton. Ich wusste, sie war nicht wütend, sie machte sich bloß Sorgen.

»Und was, wenn das eine perfekte Möglichkeit wäre, um der Königin von unseren Masken zu erzählen? Und vielleicht …« Ich holte erst tief Luft, bevor ich den Satz zu Ende sprach, denn ich wusste, Irena würde nicht begeistert darauf reagieren. »Vielleicht würde ich irgendwo dort draußen auch einen Hinweis auf meine Herkunft finden. Ich kenne meine Geschichte immer noch nicht und hier kann mir keiner helfen.«

»Malina«, seufzte sie und starrte aus dem Fenster hinaus. »Die Königin versteckt ihr Gesicht nicht umsonst hinter Masken. Sie ist verrückt und in ihrem Reich gelten ihre Regeln. Man kann dich nicht vor ihr schützen, ich kann dich nicht vor ihr schützen.«

»Und wenn du mitkommst?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte.

»Ich betrete den Wald nicht, meine Welt ist hier, und darum möchte ich, dass du mir versprichst, dass du hierbleibst.«

»Es wäre nur für eine kurze Zeit!« Ich spürte, wie dieses Ziehen, dieser Schmerz sich an die Oberfläche kämpfte und in Form von Tränen meine Wange hinunterrann.

»Malina!« Die Stimme von Irena wurde immer lauter. »Ich will nicht, dass du gehst.«

»Und warum?« Meine Stimme bebte. Es war nicht gut von mir, dass ich mich wie ein kleines Kind benahm. Irena war für mich da gewesen, sie hatte sich um mich gekümmert, und sie war es auch, die mir ein Zuhause gegeben hatte. Nur genau darum musste ich nach Malufra. Ich wollte ihr helfen und ich wollte endlich erfahren, wer die Malina von früher war.

»Weil du die Welt dort draußen nicht kennst.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Du verstehst nicht, zu was Menschen fähig sind«, fügte sie hinzu und ihr Blick glitt wieder hinüber zu dem Fenster. »Und genau darum möchte ich jetzt, dass du mir versprichst, dass du hierbleibst.«

Ich schwieg und wischte mir mit dem linken Handrücken die verbliebenen Tränen aus dem Gesicht.

»Malina …«

»Ich verspreche es«, sagte ich enttäuscht. Ich stand wieder auf und ließ den Brotlaib auf dem Küchentisch. Der Appetit war mir vergangen.

»Es ist zu deinem Besten«, fügte Irena besänftigend hinzu, nur war ich bereits aus der Tür hinaus verschwunden. Mir war es egal, dass ich nur eine einfache Jacke trug und darunter noch mein Schlafgewand. Ich brauchte einfach einen Moment für mich. Diese Einladung war höchst sonderbar, und gleichzeitig war sie eine gewaltige Chance. Wenn die Königin erst einmal sehen würde, was für Masken Irena herstellte, dann würde sie mit Sicherheit welche kaufen. Dann hätten wir wieder mehr Geld und womöglich würde dann dieser Ausdruck aus den Augen von Irena verschwinden. Sie brauchte das Geld. Damit könnte sie auch wieder den Armen helfen und so würden solche schrecklichen Dinge wie mit dem Fischer hoffentlich nie mehr passieren.

Als ich spätabends wiederkam, waren alle Lichter gelöscht. Irena war nirgends zu sehen, aber ich brauchte sie nicht zu suchen, ich wusste auch so, dass sie heute wieder einmal nach langer Zeit in ihrem Zimmer schlief. Wenn man Masken herstellte, dann brauchte man einen ruhigen Verstand. Denn Masken formten sich nach den Gedanken derer, die sie herstellten. Dies hatte Irena mir einmal erklärt. Darum stellte sie keine her, wenn sie traurig, wütend oder enttäuscht war.

Der Brief von heute Morgen lag immer noch auf dem Küchentisch. Ich setzte mich nieder und nahm ihn in die Hände. Wenn ich gehen würde, würde ich Irena verletzen. Wenn ich blieb, dann wäre sie glücklich. Aber was wollte ich?

4

Wo Entscheidungen Herzen brachen


Ich blickte noch einmal zurück zu dem Haus, das in all den Jahren mein Zuhause gewesen war. Irena schlief bestimmt noch, und wenn sie aufwachte und bemerkte, dass ich fehlte, dann würde sie zuerst wütend werden. Nach der Wut käme dann schon bald die Enttäuschung. Irgendwann würde sie dann den Zettel auf dem Küchentisch sehen, auf dem stand, dass ich gegangen war. Ich hatte es ihr versprochen und ich hatte mein Versprechen gebrochen.

Ich musste es tun. Ich drehte mich wieder in die Richtung des Waldes und lief los. Ich hatte gestern kein Auge zugetan und hatte stattdessen eine kleine Reisetasche mit den wichtigsten Dingen gepackt. Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, aber wenn ich hierbleiben würde, würde ich niemandem helfen.

Je näher ich den dunklen Bäumen kam, umso kräftiger blies der Wind. Er war wie eine Art Warnung.

Ich zog den Umhang enger um meine Schultern und die Kapuze etwas tiefer ins Gesicht. Der Eingang des Waldes wurde von zwei knorrigen Eichen gekennzeichnet. Sie hatten dicke Stämme, und unzählige Äste und Blätter bildeten ihre Baumkronen. Wie zwei Wächter standen sie da und schienen mich zu beobachten. Trotzdem lief ich zielstrebig weiter, immer weiter in die Dunkelheit des Waldes hinein. Es war zwar helllichter Tag und doch schien es, als ob das Licht nicht durch die Blätterdecke hindurchdringen würde.

Es war nicht nur die Beinahedunkelheit, die mir einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ, es war die Stille, die mir Unbehagen bereitete. Ich hörte nur meine eigenen Schritte auf dem Wald­boden. Selbst das Rauschen des Windes war verschwunden. Ich verdrängte die Angst und lief immer weiter geradeaus. Solange ich nirgends abbog oder vom Weg abkam, konnte ich mich auch nicht verirren.

So lief ich, bis meine Beine schmerzten und sich Blasen an meinen Füßen bildeten. Inzwischen konnte ich nicht einmal mehr sagen, wie viel Zeit vergangen war. Meine Augen hatten sich an die schwachen Lichtverhältnisse gewöhnt. Wirklich viel zu sehen gab es nicht. Wald, so weit das Auge reichte. Ich seufzte, lehnte mich an den Stamm eines Baumes. Langsam rutschte ich daran herunter und legte meinen Kopf auf die Knie. Ich war müde vom Laufen und auch hungrig. In meiner Tasche hatte ich zwar eine Notration, aber wer wusste schon, wie lange ich mich hier aufhalten würde. Wenn ich nur …

»Drei Meter groß war er!«

»Deine Nase wird nur noch länger, wenn du weiterhin so einen Unsinn redest.«

Ich erstarrte. Wer war das? Ich dachte, hierher würden sich keine Menschen verirren. Eilig kroch ich hinter den Baum und duckte mich etwas. Die Kapuze rutschte mir dabei wieder nach hinten.

»Wenn ich es dir sage! Du glaubst mir so oder so nichts.« Die Stimme gehörte einem Mann, während die andere unbekannte Person eine Frau sein musste.

»Das tue ich tatsächlich nicht, du erfindest ständig irgend­welche Märchen, um andere zu beeindrucken«, antwortete die Frau. Die beiden kamen immer näher. Sosehr ich mich auch anstrengte, ich erkannte nicht wirklich viel. Was zum einen an den schlechten Lichtverhältnissen und zum anderen an ihrer Kleidung lag. Sie trugen Kapuzen, die sie sich bis ins Gesicht gezogen hatten, und dunklen Stoff. Ihre Bewegungen waren geschmeidig, fast lautlos schlichen sie über den Waldboden, und würden sie sich nicht miteinander unterhalten, so hätte ich sie gar nicht gehört.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Was, wenn sie mich ent­decken würden?

»Und funktioniert es?«, fragte der Mann und lachte. Er war größer als die Frau und hatte breitere Schultern. Außerdem trug er ein Schwert um die Hüften, während es aussah, als ob seine Begleiterin unbewaffnet unterwegs war.

»Was?«, fragte die Frau. Sie wirkte etwas genervt. Ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, wie sie unter der Kapuze ihre Augen verdrehte.

»Das mit dem Beeindrucken.« Er blieb stehen. Nun standen die beiden im Grunde direkt vor meinem Baum und ich wagte kaum noch zu atmen.

Sie murmelte irgendetwas, was ich nicht wirklich verstand. Ich wandte den Kopf ab und duckte mich noch etwas mehr Richtung Waldboden. Sobald die beiden verschwunden waren, würde ich rennen. Ich würde meine Beine in die Hand nehmen und um mein Leben rennen. Mein einziger Schutz war das stumpfe Küchenmesser in meinem Stiefel. Gegen ein Schwert würde ich damit wohl nicht ankommen, zumindest nicht in diesem Leben.

»Irgendetwas ist eigenartig.« Die Stimme des Mannes ließ mich zusammenzucken.

»Es ist nichts eigenartig«, seufzte die Frau und lehnte sich nun direkt an den Baum, hinter dem ich kauerte.

»Hörst du mir überhaupt zu?« Jetzt wirkte er genervt.

»Bis auf das Mädchen hinter dem Baum gibt es hier aber nichts Eigenartiges«, schnurrte sie.

Ich schloss die Augen für einen kurzen Moment, holte tief Luft, öffnete sie wieder und stieß mich blitzschnell vom Boden ab. Dann rannte ich los.

»Jetzt hast du sie erschreckt«, hörte ich die Stimme des Mannes aus weiter Ferne. Doch ich kümmerte mich nicht darum und sprintete immer weiter. Der Boden zu meinen Füßen war uneben und ich geriet immer wieder ins Straucheln, fing mich so schnell es ging wieder. Zweige streiften mein Gesicht und verfingen sich in meinen Haaren. Ich keuchte und meine Lunge schien nach Luft zu schreien. Für gewöhnlich rannte ich nicht durch unebene Waldgebiete. Erst als ich mir sicher war, dass die beiden mir nicht folgten, hielt ich an. Ich kauerte auf dem Boden, inmitten von moosbewachsenen Steinen, und holte gierig Luft. Mein Mund fühlte sich staubtrocken an und meine Zunge klebte an meinem Gaumen. Ich schnappte mir meine Tasche und suchte nach dem kleinen Wasserschlauch. Gierig trank ich einige Schlucke, ehe ich wieder lauschte. Nichts war zu hören.

Ich stand wieder auf und setzte meinen Weg fort. Ich konnte nur hoffen, dass die beiden kein Interesse an mir hatten und ihren Weg in die andere Richtung fortsetzten.

Nach einiger Zeit kam der Regen. Die Blätter der Bäume fingen das meiste Wasser auf, aber es reichte nicht für einen vollständigen Schutz. Das wenige Licht wurde immer schwächer, da sich nun auch noch dicke Wolken vor die letzten Sonnenstrahlen geschoben hatten. Wasser durchnässte meinen Umhang und Kälte breitete sich in meinem Körper aus. Ich lief weiter, presste die Tasche an meine Kleidung und strich mir das nasse Haar aus dem Gesicht. Der Brief der Königin lag sicher verwahrt in der Tasche. Ich hatte ihn in ein kleines metallenes Kästchen gepackt und einen alten Schal darum gewickelt. Das Wasser sollte ihn also nicht erreichen.

Der Regen wurde immer kräftiger und nun blies auch noch ein störrischer Wind umher. Dieser zerrte die letzten Kräfte aus meinem Körper. Ich geriet ins Straucheln, stützte mich an einem Baumstamm ab und wollte weitergehen. Auf einmal schlang sich etwas um meinen Knöchel. Erschrocken schrie ich auf. Mein Schrei wurde vom Regen und dem Wind erstickt. Entsetzt blickte ich hinunter an meinem Körper, wo sich dicke Wurzeln um meinen Fuß wanden. Ich warf mir die Tasche über die Schulter und zog mit beiden Händen an der Wurzel. Sie lockerte sich etwas, sodass ich meinen Fuß befreien konnte.

Ehe ich erleichtert einen Schritt zurückmachen konnte, kroch bereits die nächste über meine Beine und wickelte sich darum wie eine Schlange um ihre Beute. Ich zog und zerrte, nun kamen neue Wurzeln und schlangen sich um meine Handgelenke. Keuchend gab mein Körper nach und ich fiel auf den harten Waldboden. Die hartnäckigen Dinger wanden sich um meinen Körper, zogen an mir, während ich kaum noch Luft bekam. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen und ich war mir nicht sicher, ob dies an der Anstrengung oder an dem prasselnden Regen lag, der mir die Sicht nahm.

In meinen Gedanken tauchten Bilder von Irena auf, wie sie verzweifelt nach mir rief. Ihre Hände umklammerten eine Maske, während sie in meinem leeren Zimmer stand.

Ich schüttelte den Kopf. Wut kochte in mir. Mit letzter Kraft richtete ich mich auf und zerrte die Wurzeln weg von mir. Ich schrie und zog, kämpfte dagegen an. Die engen Fesseln lösten sich. Erleichtert rappelte ich mich auf, strauchelte wieder, aber gab nicht auf. Ich lief wieder zurück zu dem Waldweg und ballte die Fäuste. Dann knickte ich vor Erschöpfung endgültig ein.

399
477,97 ₽
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322 стр. 5 иллюстраций
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9783959914192
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