Читать книгу: «Schrecken der Vergangenheit», страница 4

Шрифт:

Drei

Montag, 06. Mai, 06 Uhr 20

Schon sehr früh am Morgen, war Thea aufgebrochen, um in die Klinik zu fahren. Sie liebte es, um diese Zeit beinahe allein auf weiter Flur zu sein und das langsam immer stärker werdende Licht der aufgehende Sonne schenkte ihr ein Gefühl des Friedens und der inneren Ruhe.

Im Hintergrund hörte sie leise Musik, die von einer CD abgespielt wurde. Sie hatte die Titelauswahl selber ausgewählt und auf einen Rohling gebrannt. Allesamt Songs, die sie einfach nur gerne hörte und die ihr halfen, ihre Gedanken zu ordnen. Und davon gab es heute Morgen eine Menge zu sortieren. Obwohl sie in der letzten Nacht kaum ein Auge zugemacht hatte, fühlte sie sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Die Erinnerung an die letzten zwölf Stunden entlockten ihr ein Lächeln.

In Nikolas hatte sie das gefunden, was sie in den vergangenen Jahren vergeblich gesucht hatte. Jemanden, dem nicht nur sie hatte helfen können, sondern der im Gegenzug auch immer für sie da sein würde. Jemanden, der zuhörte und ihr, wenn nötig, eine starke Schulter zum Anlehnen bieten konnte. Bei dem Gedanken musste sie erneut schmunzeln, hatte sie doch letzte Nacht weit mehr als nur eine starke Schulter von ihm bekommen. Das gestern im Auto war nur Sex. Zwar eine wahnsinns Erfahrung, aber in erster Linie nur ein notwendiges Ventil für beide gewesen, um das, was dann folgte, mit allen Sinnen genießen zu können. Sie hatten sich geliebt. Hatten sich stundenlang festgehalten, miteinander geredet und die Zweisamkeit genossen.

In seiner Gegenwart hatte sie einfach das Gefühl, angekommen zu sein. Dass sie in den kommenden fünf Tagen nur mit seiner Stimme vorlieb nehmen musste, schob sie rasch beiseite und beschränkte sich darauf, sich einfach auf das nächste Wochenende zu freuen.

Wenn sie zurückfuhr an den Ort, der ab sofort ein zu Hause für sie bedeuten sollte.

Sie war jetzt Teil einer wunderbaren Familie, die stets füreinander einstanden. Und auch, wenn es ihr immer noch schwer fiel, sich dessen wirklich bewusst zu werden, er hatte es ihr gestern Nacht versichert. Dabei war sein Blick so anziehend, dass sie keine Chance mehr hatte, zu widersprechen.

Wie aus dem Nichts, tauchten hinter ihr plötzlich Scheinwerfer auf und holten Thea zurück ins Hier und Jetzt. Der Wagen, ein großer schwarzer Pick Up, fuhr so dicht auf, das sie instinktiv nervös wurde.

<<Du blöder Idiot!>>, fauchte sie. <<Überhol doch einfach.>>

Der Fahrer gehorchte und im nächsten Augenblick schoss das Ungetüm mit tosendem Gebrüll an ihr vorbei und zog davon. Als der Wagen außer Sichtweite war, entspannte Thea sich wieder.

Vollpfosten gibt es wirklich überall “, dachte sie und durchsuchte die Playlist auf der CD. Für einen kurzen Moment war sie dadurch abgelenkt, doch als sie wieder aufblickte, war der schwarze Wagen urplötzlich wieder da. Er stand direkt in einer Kurve, so dass ihn Thea erst sehr spät sehen konnte. Abrupt stieg sie auf die Bremse und riss das Steuer rum. Das Heck brach aus und krachte mit einem heftigen Aufprall gegen einen Baum am Straßenrand. Dann war alles ruhig.

Thea blieb einen Moment regungslos in ihrem Wagen sitzen, bevor sich der Nebel in ihrem Kopf langsam verzog. Vorsichtig bewegte sie sich und zuckte zusammen, als sie den Schmerz an der Stirn spürte. Anscheinend hatte sie sich bei dem Aufprall den Kopf gestoßen. Blut konnte sie keines feststellen, aber die Schwellung war schon jetzt deutlich spürbar. Mit einem Mal brach alles über sie herein.

<<Winston!>>, rief sie aufgeregt und suchte hektisch den Rücksitz, nach dem Hund ab. Aber er war nicht da. Natürlich nicht. Denn sie hatte ihn auf dem Hof gelassen, wie sie es schon seit einigen Wochen tat und wo er einfach besser aufgehoben war als in einem kleinen Büro.

Du musst dir ganz schön die Birne angeschlagen haben, wenn du das nicht mehr weißt “, dachte sie benommen.

Mit geschlossenen Augen atmete sie noch einmal tief durch und tastete nach dem Türgriff. Ohne Erfolg.

Die Tür war bereits geöffnet worden. Und noch bevor Thea verstand, was hier vor sich ging, spürte sie einen kleinen Einstich an ihrem Hals. Dann wurde es endgültig dunkel um sie herum.

Montag, 06. Mai, 08 Uhr 10

Noch immer etwas bleich um die Nase, startete Anni den Hauptrechner. Auch der heutige Tag begann, wie zu erwarten, über der Toilettenschüssel. Aber dank dieser scheußlich schmeckenden Tropfen, die ihr Chris aus der Apotheke besorgt hatte, ging es schon deutlich besser. Zwar hatte Maximilian darauf gedrängt, sie möge doch besser im Bett bleiben, aber Anni wollte sich diese Blöße nicht geben. Und der allmorgendliche Trott half ihr dabei, nicht ständig an die Übelkeit zu denken.

Im Augenblick war es noch ruhig, aber da heute Montag war, durfte sie sich sicher sein, genügend Ablenkung zu bekommen. Der Kalender zeigte sich schon jetzt gut gefüllt. Nur noch einzelne freie Termine für den Nachmittag konnte sie vergeben. Und die Erfahrung zeigte, dass sich das bis spätestens zehn Uhr auch erledigt haben sollte. Es war wirklich ein Phänomen. Anni hatte jeden Montagmorgen das Gefühl eines Déjà-vu. So, als ob die Welt Kopf stehen würde und es am nächsten Tag keine Tierärzte im Land mehr geben würde. Ironischerweise war es genau diese Art von Ablenkung, die sie sich jetzt wünschte.

Im hinteren Bereich hörte sie Chris, die mit tosendem Geklapper den OP für die bevorstehenden Termine herrichtete. Es war fast so wie früher, denn seit einigen Wochen bildeten sie wieder zusammen ein Team, was zur Folge hatte, dass die Heiterkeit und der Spaß an der Arbeit zurückgekehrt waren.

Ihre letzte Auszubildende, Julia, hatte sich für einen anderen Berufsweg entschieden und bisher wurde noch kein Ersatz gefunden.

Es geschah nicht selten, dass die jungen Mädchen völlig falsche Vorstellungen von dem hatten, was in Wirklichkeit in den meisten Praxen vor sich geht. Den ganzen Tag mit Tieren zu verbringen und ihnen zu helfen, war zweifelsohne ein starkes Motiv, nur leider zeigten sich die wenigsten Vierbeiner dankbar und kooperativ.

Und auch wenn sich Anni vor vielen Jahren genauso beratungsresistent gezeigt hatte, für sie war und sollte es wohl noch lange der schönste Beruf bleiben. Insgeheim war sie sowieso der Meinung, dass Julias Eltern nicht damit klar kamen, dass ihre Tochter weiterhin in einem Gebäude arbeitete, in dem sich vor einem Jahr, diese grausamen Szenen abgespielt hatten. Was sie ihnen auch nicht verübeln konnte. Hatte sie doch selber Zeit gebraucht, die ganzen schrecklichen Bilder zu verarbeiten.

Mittlerweile war das komplette Programm hochgefahren und der Rechner zeigte sich startklar. Blieben nur noch die drei anderen, die so miteinander verbunden waren, dass Behandlungen von allen Plätzen aus einsehbar sein konnten. Anni ging von Raum zu Raum und wiederholte die gleiche Prozedur. Der letzte Rechner befand sich im Büro, dass inzwischen nur von Maximilian benutzt wurde. Sie hatten es komplett verändert und nach seinen Bedürfnissen hergerichtet.

Früher gehörte es seinem Vater. Vor diesem tragischen Tag, an dem er hier beinahe sein Leben verloren hätte. Als sie die angelehnte Tür ein Stück weiter aufdrückte, umspielte sie eine kühle Brise. Die große Terrassentür stand speerangelweit offen. Anni verdrehte die Augen. Wahrscheinlich hatte Chris sie geöffnet, um frische Luft herein zu lassen. Das war nicht nur ein Tick von ihr, sie schien darin beinahe fanatisch zu sein. Eine Eigenschaft, die sie sich mit Sicherheit von Nik abgeschaut hatte. Anni hingegen war eher so der wärmeliebende Typ. Frischluft war ja gut und schön, aber eine Zimmertemperatur von gefühlten 10 Grad war alles andere als angenehm.

Sie hatte bereits den Türgriff in der Hand, als eine Bewegung am Rande ihres Sichtfeldes sie aufschrecken ließ.

Sie wirbelte herum und konnte nicht glauben, was oder besser wen sie da sah. Mit weit aufgerissenen Augen und eine Hand auf den Mund gelegt, starrte sie auf das Regal an der gegenüberliegenden Wand. Nik stand mit dem Rücken zu ihr und kratzte sich am Hinterkopf. Er schien etwas zu suchen und hatte von ihrer Anwesenheit noch nichts mitbekommen. Nur langsam schaffte sie es, sich aus ihrer Schockstarre zu befreien. Darauf bedacht, keine unnötigen Geräusche von sich zu geben, schlich sie auf leisen Sohlen aus dem Zimmer. Ihr Herz schlug ihr immer noch bis zum Hals. Auf diesen Moment hatten sie so lange gewartet. Jetzt würde alles wieder seinen normalen Gang nehmen. Das hatte sie im Gefühl.

Und Chris würde gleich vor Freude ausrasten, wenn sie das zu sehen bekam. Die ersten Schritte, Richtung OP war sie noch geschlichen, aber jetzt rannte sie beinahe und kam schlitternd an einem der Tische zum Stehen. Verwundert zog Chris die Stirn in Falten, als sie von dem Besteck aufschaute und in das bleiche Gesicht ihrer Freundin blickte.

<<Ist dir wieder schlecht?>>, fragte sie. <<Wehe, du kotzt mir hier auf den Boden.>> Noch immer außer Stande, einen vernünftigen Satz von sich zu geben, schüttelte Anni langsam den Kopf. <<Das... das… musst du dir ansehen>>, stammelte sie und zog Chris am Arm mit sich. Es hätte nicht viel gefehlt und das Tablett mit dem OP-Besteck wäre auf dem Boden gelandet.

<<Was ist denn los?>>, rief Chris und versuchte irgendwie das Gleichgewicht zu halten.

<<Schsst…>>, zischte Anni. <<Komm einfach.>> Chris verstand die ganze Aufregung nicht, aber es musste etwas Wichtiges sein, so komisch, wie sich Anni verhielt. Sie stoppte abrupt vor dem Büro und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. Dann nickte sie in Richtung Regalwand. Die Stirn immer noch kraus gezogen, spähte Chris neugierig hinein. Und dann war sie es, die die Hand vor ihren Mund presste, um einen Schrei zu unterdrücken. Ihr Kopf schoss nach links, wo sich ihre und Annis Blicke trafen. Ein unbeschreibliches Gefühl der Freude und Ergriffenheit durchfuhr ihr Innerstes.

Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und suchte sich den Weg über ihre Wange. Mit einem Lächeln spürte sie Annis Hand auf ihrer Schulter. Das war der schönste Anblick seit Langem. Besser noch. Es schien Nik nichts auszumachen, sich in diesem Zimmer aufzuhalten. Er summte unaufhörlich eine Melodie vor sich hin, während er akribisch die einzelnen Regalböden durchsuchte, aber allem Anschein nach, nicht das fand, was er suchte. <<Mhhh.. wo hat er nur…>> Nik brach den Satz ab, als er sich umdrehte und die beiden erspähte, die ihn immer noch unverhohlen anstarrten. <<Herrgott nochmal. Was schleicht ihr denn hier so rum? Mir wäre fast das Herz stehen geblieben.>>

<<Uns auch>>, flüsterte Chris. <<Geht’s dir gut?>>

Er zog die Augenbrauen zusammen. <<Abgesehen davon, dass es seit neuestem ein Trend von euch zu sein scheint, mich in einen Nervenzusammenbruch zu treiben, alles bestens.>>

<<Gut>>, stammelte Anni wenig überzeugend. Ihre Blicke ruhten weiterhin auf seiner Person und lasteten jetzt beinahe tonnenschwer auf seinen Schultern. Die beiden standen mit gefalteten Händen vor ihm. Bereit einzugreifen, wenn die Situation es von ihnen verlangte. Und plötzlich fiel es auch ihm wie Schuppen von den Augen. Warum sich die beiden so komisch benahmen und wo er sich befand. Er hatte diesen Raum seit einem Jahr nicht mehr betreten. Weil er es einfach nicht konnte. Weil schon der Gedanke an diese vier Wände genügten, ihn in Angst zu versetzten. Aber etwas in ihm hatte sich verändert. Kaum zu sehen, holte er tief Luft und zwang sich einen Blick auf die Stelle zu riskieren, wo er vor gut zwölf Monaten stundenlang um sein Leben gekämpft hatte. Zu seiner Überraschung schlug sein Herz ganz normal und nicht wie üblich bis zum Hals. Endlich. Der letzte Punkt auf seiner To-do Liste. Abgehakt.

Er hatte gestern einen mehr als turbulenten Tag erlebt. Mit einem wundervollen Abschluss und einer noch wundervollere Nacht.

Und das Glück, dass er immer noch in seinem Herzen trug, hatte wohl ausgereicht, ihn diesen letzten Schritt, ohne dass es ihm großartig bewusst gewesen wäre, gehen zu lassen.

Eine schlüssige Erklärung, wie er fand, fühlte er sich doch immer noch unbesiegbar und unheimlich stolz. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen und endlich entspannten sich auch Chris und Anni.

<<Wo ihr schon hier seid>>, fragte er um die Situation weiter zu besänftigen. <<Hat einer von euch den neuen Pschyrembel, den Maximilian sich geborgt hat, gesehen? Ich hab gleich einen Termin bei Wagners und muss dringend noch was recherchieren. Und hier findet man ja nichts mehr wieder.>>

Chris verdrehte die Augen, während Anni zweideutig grinste. <<Ja. Das liegt wohl in der Familie. Die Ordnung und so>>, fügte sie hinzu und zog das grüne, dicke Buch aus einem Stapel auf dem Schreibtisch hervor.

<<Ah, sehr gut. Danke. Ich bin dann auch gleich unterwegs>>, sagte Nik und klemmte sich das Buch unter den Arm. Pfeifend ging er an den beiden vorbei. <<Falls was ist, ihr erreicht mich auf dem Handy. Also bis später.>>

<<Bis später >>, antworteten beide im Chor und sahen ihm nach.

<<Jetzt wird alles wieder wie früher>>, flüsterte Chris. Eine schöne Vorstellung und plötzlich empfand sie eine so starke Sehnsucht, dass es ihr im Herzen wehtat. Einen kurzen Moment später hörten sie Niks tiefe Stimme.

<<Ähm… Sind wir eigentlich offiziell im Urlaub?>> Sein Gesicht spähte durch die angelehnte Tür.

<<Nein. Wieso?>>, fragte Anni irritiert.

<<Nicht? Okay. In dem Fall macht doch bitte den Anrufbeantworter aus>>, antwortete er mit spielerischer Leichtigkeit. Alle sollten es sehen. Er fühlte sich seit gestern, wie neu geboren. Sein Leben machte endlich wieder Sinn.

Und dieses Gefühl mit seinen Liebsten zu teilen, bedeute ihm alles, auch wenn er sich dabei im Augenblick etwas übermütig benahm. Völlig egal, denn damit mussten heute wohl alle klar kommen.

Montag, 06. Mai, 10 Uhr 55

<<Also dann sehen wir uns am Donnerstag wieder>>, sagte Nik und streckte dem Pferdebesitzer seine Hand entgegen.

<<Danke Dr. Berger. Und sie glauben immer noch, dass wir die alte Dame wieder fit kriegen? Meine Enkelin liebt das Pony und ich würde ihr nur ungern erklären müssen, warum Dolly nicht mehr bei uns ist.>>

Nik lächelte. <<Ich kann Ihnen nicht garantieren, dass Sie beim nächsten Anflug von jugendlichem Leichtsinn vorsichtiger sein wird, aber die Wunde sieht gut aus und für den Moment bin ich mehr als zufrieden.>>

<<Schön>>, antwortete der Mann knapp und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck. Froh über den glücklichen Ausgang dieser Geschichte, räumte Nik sämtliche Behandlungsgegenstände zurück in seine Tasche. Er betreute die kleine Stute schon von Anfang an und in der vergangenen Woche hatte diese wirklich einen Schutzengel dabei gehabt. Sie war auf der Weide aus ungeklärter Ursache ausgerutscht und hatte sich in einem Stück Stacheldraht verfangen. Und hätten die Besitzer nicht so schnell reagiert, hätte die ganze Sache viel schlimmer enden können. Er schloss die Kofferraumklappe seines Wagens und setzte sich hinter das Steuer.

Langsam rollte der SUV von Wagners Auffahrt zurück auf die Landhauser Straße Richtung Stadtzentrum. Ein Anruf der Praxis ging ein und unterbrach die Stille im Wageninneren.

<<Was gibt´s Anni?>>, meldete sich Nik sofort.

<<Chris hat eben den alten Pröpper am Telefon gehabt.>>

<<Macht der Jungbulle wieder Probleme?>>

<<Nein. Angrenzend zu einer seiner Weiden gab es wohl einen Autounfall und dabei soll vermutlich ein Wildtier zu Schaden gekommen sein. Kannst du dir das mal ansehen?>>

<<Mach ich. Ich bin sowieso gerade fertig. Und ihr kommt klar?>>

<<Ohne dich? Das wird schwer.>>

<<Das dachte ich mir. Ciao>>, sagte er und beendete das Gespräch.

Eine Viertelstunde später hatte Nik den kleinen, etwas in die Jahre gekommenen Hof, erreicht. Gerd und Maria gingen beide steil auf die Siebzig zu und die jahrelange, harte Arbeit zollte nun langsam ihren Tribut. Sie taten ihr Möglichstes, waren aber körperlich nicht mehr unbedingt in der Lage, den Hof zu bewirtschaften. Die beiden Söhne hatten keine Lust, das Werk des Vaters fortzuführen. Was man ihnen in Anbetracht der heutigen Situation auch nicht verübeln konnte.

Marius, der ältere, lebte in Hamburg. Seinen Bruder Hendrik zog es nach Stuttgart, wo er inzwischen selbst eine Familie gegründet hatte. Fern der eigentlichen Heimat. Ein Zustand, der vor allem für Maria nicht leicht war. Gerne hätte sie ihre Enkelkinder öfter um sich gehabt. Aber alles aufgeben, um in einer kleinen Wohnung in einer Großstadt zu leben? Das wäre für ihren Mann niemals in Frage gekommen.

Gerd Pröpper hatte diesen Hof von seinem Vater übernommen. Etwas anderes kannte er nicht und wollte auch jetzt nicht mehr damit anfangen. Nik wusste um die familiären Spannungen und irgendwie taten die beiden ihm leid. Schon allein deshalb hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, zwischendurch immer mal wieder bei dem älteren Ehepaar vorbeizuschauen, um nach dem Rechten zu sehen.

Für gewöhnlich stand die Tür zum Haupthaus tagsüber offen. Nik klopfte höflich gegen den Rahmen.

<<Hallo. Jemand da?>>, rief er und musste den Kopf einziehen, als er durch den niedrigen Flur trat um in eine Art Waschraum zu gelangen. Der Geruch von herzhafter Erbsensuppe stieß ihm in die Nase und sofort merkte er, dass sein Magen knurrte und das heutige halbe Brötchen definitiv zu wenig Frühstück für ihn gewesen war. Noch einmal klopfte er gegen eine Tür um auf sich aufmerksam zu machen. <<Maria!>>

<<Hier hinten>>, hörte er eine Stimme rufen und trat in den großzügigen Küchenraum ein. Vor dem Herd kniete die alte Frau und inspizierte das frisch gebackene Brot.

Über ihrem grauen Rock und dem beigefarbenem Pullover, trug Sie eine mit Rüschen besetzte Schürze. Sie war nicht sehr groß und ihre rundlichen Formen verliehen ihr ein warmherziges Auftreten.

<<Das riecht ja wieder ganz hervorragend. Hallo Maria.>>

<<Hallo mein Junge>>, antwortete sie voller Freude und schloss die Ofentür. Schwerfällig zog sie sich an der Arbeitsplatte nach oben um ihn zu begrüßen. Besuche, auch wenn sie noch so kurz ausfielen, waren für Maria eine willkommene Abwechslung. <<Gerd hat mir gar nicht erzählt, dass du heute kommen wolltest.>>

<<War auch nicht so geplant>>, sagte Nik und riskierte einen Blick in den riesigen Kochtopf. <<Ich bin wegen dem Unfall hier.>>

<<Was für ein Unfall?>>, fragte sie erschrocken.

Nik zuckte mit den Schultern. <<Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er in der Praxis angerufen hat. Jemand hat wohl was angefahren.>>

<<Ach so.>> Erleichtert stieß sie die Luft aus. <<Wie gesagt, er hat mir nichts erzählt. Allerdings ist Gerd schon den ganzen Vormittag draußen unterwegs, um Pia zu suchen>>, entfuhr es ihr. Nik schaute über seine Schulter und zog eine Braue hoch.

<<Ach, bitte nicht schon wieder. Wie oft hab ich euch schon gesagt, dass ihr den Hund während der Läufigkeit nicht frei herum laufen lassen sollt?>>

<<Ich weiß. Und wenn ich entscheiden könnte, hätten wir deinen Rat befolgt und der Hund wäre schon längst kastriert. Aber du kennst ja Gerds altmodische Ansichten.>> Sie drehte ein Geschirrtuch zusammen und man sah ihr an, dass sie sich ein wenig unbehaglich fühlte.

<<Allerdings>>, seufzte Nik. <<Dann schau ich mal, wo ich deinen bockigen Gatten finde.>>

<<Mach das>>, bemerkte sie trocken und kramte einen großen Löffel aus der Schublade. <<Möchtest du gleich etwas mit uns essen?>>

<<Wenn es keine Umstände macht.>>

<<Natürlich nicht. Du bist bei uns immer willkommen. Das weißt du>>, antwortete sie.

Er grinste. <<Ich hatte gehofft, dass du das sagst.>>

Ein dröhnendes Motorengeräusch drang von der Hintertür aus in die Küche. Nik musste sich auf seine Ellbogen stützen, um durch das kleine Fenster einen Blick nach draußen zu erhaschen. Gerd Pröpper bog mit seinem alten Traktor um die Hausecke und parkte den grünen Deutz vor der Scheune. Er schaltete den Motor ab, packte seine Hündin am Halsband und hievte sich behäbig von seinem Gefährt. Missmutig wandte er den Blick in Richtung Auffahrt und entdeckte Niks Wagen. Aber seine Miene blieb unergründlich. Auch dann noch, als er Pia an ihre Hütte gebunden hatte und mit schlurfenden Schritten in die Küche trat. Noch bevor Nik etwas sagen konnte, schnitt der Hausherr ihm mit einer deutlichen Handbewegung, dass Wort ab. <<Lass es einfach. Ich habe keine Lust auf Diskussionen.>>

<<Ich hab doch gar nichts gesagt.>> Nik hob belustigt eine Augenbraue, beließ es aber dabei.

<<Was machst du hier?>>, fragte er immer noch schlecht gelaunt und zog sich seine dreckigen Gummistiefel aus.

<<Ich versteh die Frage nicht.>> Er drehte sich irritiert zu Maria um. <<Du hast doch angerufen.>>

Der kahle Kopf des Bauern schoss nach oben. <<Ich hab nicht bei dir angerufen>>, protestierte er und rückte sich die Brille auf der Nase zurecht. <<Ich wüsste auch nicht warum.>>

<<Jemand soll ein Tier an unseren Weiden angefahren haben>>, erklärte ihm seine Frau die Situation.

<<Vielleicht hat Anni da mit dem Anruf auch etwas durcheinander gebracht. Die ist im Augenblick ein wenig durch den Wind>>, fügte Nik mit einem breiten Lächeln hinzu.

<<Nikolas Berger! Was ist da los bei euch?>>, rief Maria vom Herd aus und hob den Löffel.

<<Na was schon>>, knurrte Gerd dazwischen. <<Der Storch steht vor der Tür. Das ist los.>>

<<Woher weißt du denn davon?>>, fragte Nik erstaunt.

<<Wusste ich nicht. Aber ich schätze, dein dummes Gesicht hat dich verraten.>>

<<Ach, das sind ja wunderbare Neuigkeiten. Du kannst uns ja alles beim Essen erzählen.>>

<<Der bleibt auch noch zu Mittag?>>

<<Herrgott! Sei nicht immer so unfreundlich. Der Junge kann nichts dafür, dass du Pia nicht im Griff hast.>>

Nik lachte auf. Obwohl es sich für ihn seltsam anhörte, immer noch als der Junge tituliert zu werden. Schließlich dauerte es nicht mehr lange und er würde bald selbst ein Großvater sein. Aber er nahm es ihnen nicht übel. Auch Gerd Pröppers ruppige Art nicht. War er es doch gewesen, der ihn in den vergangenen Monaten oft besucht und von seinen Schmerzen, ganz egal ob körperlich oder seelisch, mit einer Runde Schach abzulenken versucht hatte.

<<Trotzdem würde ich mich gerne dort oben etwas umsehen. Nur für alle Fälle. Falls da doch ein Reh oder etwas anderes liegen sollte. Und dir ist nichts aufgefallen?>>

Der Bauer strich sich über das Kinn. <<Mh. Vorhin bin ich an einem BMW vorbei gekommen. Hing mit dem Heck ziemlich unglücklich an einem Baum.>>

<<Wo war das?>>, hakte Nik nach.

<<Direkt unten an der Straße, Richtung Heidermühle. Soll ich mitkommen?>>

<<Nicht nötig. Das finde ich schon. Und bitte lass mir etwas von der Suppe übrig.>>

<<Dann solltest du aber so langsam mal in die Hufen kommen.>>

Es dauerte wirklich nicht lange, bis Nik die Stelle des Unfalls gefunden hatte. Er drosselte das Tempo und parkte seinen Mercedes direkt vor dem ramponierten Heck des anderen Fahrzeuges. Er wusste noch nicht warum, aber irgendetwas störte ihn an der Szenerie, die sich ihm hier bot. Es gab keine Warnschilder.

Eigentlich gab es überhaupt keine Hinweise darauf, dass weder die Polizei noch sonst jemand Notiz von der Unfallstelle genommen hätte.

Man hatte noch nicht einmal versucht, den Wagen zu sichern und von der Fahrbahn zu nehmen. Und wo war der Fahrer? Ohne sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, ging Nik auf die andere Straßenseite und suchte den Rand der Böschung nach Spuren ab, die auf ein verletztes Tier hin deuteten. Ohne Erfolg. Aber so schnell gab er nicht auf und ging ein Stück in den Wald hinein, nur um wirklich sicher zu gehen, nicht doch etwas übersehen zu haben.

Nach gut zehn Minuten gab Nik die Suche auf. Sein Magen knurrte und der Gedanke an einen vollen Teller Suppe machte die Entscheidung leichter. Er trat aus dem Dickicht hervor und klopfte sich mit den Händen, einzelne Blätter von seiner Jeans.

Um wieder zu seinem Wagen zu gelangen, musste er die Straße ein paar Meter bergab laufen. Automatisch kam er an der Front des Unfallwagens vorbei, als sein Blick das Kennzeichen streifte.

Und mit einem Male wusste Nik, was ihn die ganze Zeit über stutzig gemacht hatte. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Stromschlag und machte seine Glieder beinahe bewegungsunfähig. Sein Unterbewusstsein hatte ihm gerade die Antwort, mit voller Wucht gegen den Kopf gedonnert. Es war Theas Wagen. Doch wo war sie? Was war hier passiert? Und wieso hatte sie sich nicht bei ihm gemeldet? Er war kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen und drehte sich hektisch im Kreis. Plötzlich vernahm er das Klingeln seines Handys aus dem Wageninneren. Nur unter größter Anstrengung gelang es ihm, dass seine Beine ihm wieder gehorchten. Er stolperte zu seinem SUV, riss die Tür auf und suchte fieberhaft die Mittelkonsole nach dem Telefon ab. Endlich fand er das Gerät auf dem Beifahrersitz und stieß erleichtert den Atem aus, als er Theas Namen auf dem Display las.

<<Herrgott nochmal Thea!>>, schimpfte Nik drauf los. <<Bist du dir eigentlich im Klaren darüber, dass ich gerade den Schock meines Lebens erlitten habe? Wo zum Teufel bist du?>> Angespannt wartete er auf eine Erklärung, aber nichts dergleichen geschah.

<<Verflucht Thea. Könntest du bitte etwas dazu sagen?>> Nik wurde fast hysterisch.

<<Sehr gut. Dann haben sie den Wagen also gefunden, Dr. Berger. Das hat länger gedauert, als ich angenommen habe>>, hörte er eine Stimme sagen. Nur war es nicht Thea, die dort mit ihm sprach. Die Stimme war männlich und sie gehörte zweifelsohne zu einer älteren Person.

<<Was? Wer spricht da?>>

<<Das muss sie im Augenblick nicht weiter interessieren>>, antwortete der Mann selbstsicher.

<<Scheiße auch. Ich will sofort mit Dr. Meissner sprechen.>> Panik stieg jetzt in ihm auf. Er verstand einfach nicht, was hier gerade über ihn zusammenbrach.

<<Alles zu seiner Zeit, Nikolas. Ich darf doch Nikolas zu ihnen sagen?>>

<<Bitte. Sagen sie mir doch einfach, was passiert ist.>> Nik flehte jetzt.

<<Frau Dr. Meissner geht es den Umständen entsprechend gut. Sie können sich also erstmal beruhigen.>>

<<Ich soll mich beruhigen? Das reicht mir jetzt. Ich rufe die Polizei an.>>

<<Davon würde ich Ihnen dringend abraten, Nikolas. Sie sollten mir stattdessen einfach zuhören, wenn sie Frau Dr. Meissner wohlbehalten wieder zurück haben möchten.>>

<<Was wollen sie?>>, sprach Nik mit zitternder Stimme, fast schon unverständlich.

<<Sie haben genau zwei Möglichkeiten. Möglichkeit eins: Sie bewahren Ruhe und warten ab, bis ich mich wieder bei ihnen melde. Und bis dahin sagen sie nichts zu niemandem.>>

<<Und die zweite Möglichkeit?>>, fragte Nik krächzend. Mittlerweile hatte die Angst seine Stimmbänder lahm gelegt. Kaum ein Wort verließ gut verständlich seinen Mund. Es war, als ob ihm jeder Buchstabe im Hals stecken blieb.

<<Nun, Nikolas, dann sieht es so aus. Halten sie sich nicht an Möglichkeit ,Eins´ und Sie gehen zur Polizei, stirbt sie. Falls Sie versuchen sollten, mich auszutricksen, stirbt sie. Und falls Sie versuchen sollten, ihrem Freund Karsten von unserer Unterhaltung etwas zu erzählen, stirbt sie ebenfalls. Sie haben die Wahl. Denken sie gründlich darüber nach. Ich melde mich wieder bei ihnen.>>

<<Nein! Warten sie!>>, schrie Nik, doch die Leitung war bereits unterbrochen.

399
477,84 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
390 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783748589228
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают