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Die Rückkehr der Kastengesellschaft

Der Sklave trat in die Freiheit; er stand einen Augenblick in der

Sonne; und schon ging es wieder zurück in die Sklaverei.

W.E.B. Du Bois, Black Reconstruction in America

Seit mehr als hundert Jahren schreiben Historiker über den illusorischen Charakter der Emanzipations-Proklamation, mit der Präsident Abraham Lincoln die Sklaven in den Konföderierten Staaten befreien wollte. Tatsache ist, dass dadurch kein einziger schwarzer Sklave seinen Herrn verlassen konnte. Bevor die Schwarzen in den Südstaaten ihre Freiheit erhielten, musste erst ein Bürgerkrieg gewonnen werden, der Hunderttausende das Leben kostete. Doch auch diese neue Freiheit entpuppte sich als illusorisch. Die ehemaligen Sklaven genossen »einen Augenblick in der Sonne«, wurden aber bald wieder in einen Zustand ähnlich dem der Sklaverei gezwungen, wie W. E. B. Du Bois plastisch schildert. Als die Gegenreaktion der Weißen auf die sogenannte Reconstruction, die Wiedereingliederung der Südstaaten nach dem Bürgerkrieg unter Aufsicht der Nordstaaten, an Fahrt gewann, zeigte sich, dass die Zusatzartikel zur Verfassung, nach denen auch den Afroamerikanern »der Schutz durch das Gesetz« und das Wahlrecht garantiert werden sollten, genauso wirkungslos waren wie die Emanzipations-Proklamation. Die schwarze Bevölkerung war bald wieder so machtlos wie eh und je. Viele fanden sich in Strafgefangenenlagern wieder, die sie als Zwangsarbeiter vermieteten. Dieses System war in vielerlei Hinsicht noch schlimmer als die Sklaverei. Nach dem kurzen Augenblick der Sonne senkte sich wieder Finsternis herab, und ein neues System der Segregation entstand, das unter dem Schlagwort »Jim Crow« bekannt wurde – ein System, das die Schwarzen fast wieder auf ihren Ausgangspunkt zurückverwies, den einer aufgrund ihrer Rasse untergeordneten Kaste.

Dass dem Ende der Sklaverei ein System wie Jim Crow folgte, verwundert kaum jemand. In Geschichtsbüchern wird dies als zwar bedauerliche, aber angesichts des virulenten Rassismus des Südens und der politischen Dynamik jener Zeit vorhersehbare Entwicklung beschrieben. Viel beachtlicher ist da schon, wie nahezu unbemerkt in den Jahren nach dem Zusammenbruch von Jim Crow eine ganz ähnliche politische Dynamik bald wieder ein neues Kastensystem entstehen ließ – eines, das bis heute fortbesteht. Im »Black History Month«, alljährlich im Februar in den USA begangen, wird gewöhnlich eine Erfolgsgeschichte präsentiert: Offiziell gilt das System der rassisch definierten Kasten als überwunden und begraben. Wer das Gegenteil behauptet, erntet ungläubiges Staunen. »Wie kommen Sie darauf, dass heutzutage ein rassistisches Kastensystem existiert? Denken Sie mal an Barack Obama! Oder an Oprah Winfrey!«, heißt es dann.

Doch der Erfolg einiger Afroamerikaner bedeutet noch lange nicht, dass es so etwas wie ein rassisches Kastensystem nicht mehr gibt. Ein solches System hat in den Vereinigten Staaten nie für alle Schwarzen im gleichen Maß gegolten. Es gab immer »freie Schwarze« und Schwarze, die es in der Gesellschaft zu etwas bringen konnten, sogar in Zeiten von Sklaverei und Jim Crow. Wenn heute einige Schwarze auch in ehemals rein weißen Domänen sensationelle Erfolge erzielen, so bedeutet dies allenfalls, dass das alte Jim-Crow-System tot ist, aber nicht notwendigerweise das Ende des rassischen Kastensystems überhaupt. Wenn man irgendwas aus der Geschichte lernen kann, dann vielleicht dass das System einfach eine andere Form gefunden hat.

Wer die Geschichte der amerikanischen Rassenbeziehungen kennt, der weiß, wie wandlungsfähig Rassismus ist. Die Regeln und Begründungen, mit denen das politische System gesellschaftliche – auch rassische – Hierarchien durchsetzt, wandeln sich mit dem Lauf der Zeit. Die heroischen Anstrengungen, Sklaverei und Jim Crow zu Fall zu bringen und für mehr Gleichheit unter den ethnischen Gruppierungen zu sorgen, veränderten stark das rechtliche Rahmenwerk der amerikanischen Gesellschaft – sie sorgten sozusagen für neue »Spielregeln«. Diese neuen Regeln wurden von neuen Schlagworten, einer neuen Sprache und einer neuen gesellschaftlichen Übereinkunft begleitet, während im Ergebnis vieles beim Alten blieb. So kam es zum »Stillstand durch Veränderung« – dem Prozess, der die weiße Vorherrschaft auch unter veränderten Rahmenbedingungen und mit einer gewandelten Rhetorik aufrechterhält.1

Was man für die heutige Zeit oft nicht so leicht erkennt, ist im Rückblick deutlicher zu sehen. Seit Gründung der USA wurden Afroamerikaner immer wieder durch Systeme wie die Sklaverei und Jim Crow unterdrückt. Ließen sich diese Systeme nicht mehr halten, erstanden sie alsbald in veränderter Form wieder, angepasst an die Erfordernisse einer neuen Ära. Das Muster ist immer gleich: Auf den Zusammenbruch eines solchen Kontrollsystems folgt stets eine Zeit der Unsicherheit und des Übergangs, in der die Verfechter einer Rassenhierarchie Möglichkeiten ersinnen, sie auch unter den neuen Spielregeln zu etablieren. In dieser Phase tastender Versuche verstärkt sich der Widerstand gegen die Veränderungen, und neue Formen rassistischer Sozialkontrolle schlagen Wurzeln. Unvermeidlich ist die Entstehung eines neuen Kontrollsystems sicher nicht, wenn sie auch bis heute noch nie vermieden worden ist. Die Verfechter einer Rassenhierarchie konnten sich am Ende immer durchsetzen. Dieses Kunststück vollbrachten sie weitgehend durch Appelle an den Rassismus und die Ängste der weißen Unterschicht, eine Gruppe, der verständlicherweise daran gelegen ist, sich nicht selbst am untersten Rand der amerikanischen Gesellschaft wiederzufinden.

Solche Kontrollsysteme entstehen nur scheinbar aus dem Nichts. Die Geschichte lehrt, dass sie stets aus einer lang zuvor ausgebrachten Saat erwachsen. So folgte Jim Crow der Reconstruction keineswegs auf dem Fuß, sondern entwickelte sich in einem komplexen Prozess. Und während die Gegenbewegung zur Bürgerrechtsbewegung hauptsächlich in der Beschneidung von Fördermaßnahmen für Minderheiten wie der sogenannten Affirmative Action und der Aushöhlung der Bundesgesetzgebung zu den Bürgerrechten durch eine feindliche Judikative gesehen wird, wurde ein neues Kontrollsystem – die Masseninhaftierung – bereits im Kern angelegt, als die Bürgerrechtsbewegung noch aktiv war und klar wurde, dass das alte Kastensystem in Auflösung begriffen war.

Mit jeder Reinkarnation wird das rassische Kastensystem »weniger total, weniger fähig, die ganze Rasse zu umfassen und zu kontrollieren«.2 Doch in dieser Entwicklung einen linearen Fortschritt zu sehen, ist töricht, denn ob es besser ist, wegen eines kleinen Drogenvergehens sein ganzes Leben im Gefängnis zu verbringen, als unter der Herrschaft von Jim Crow im Kreis seiner Familie ehrlich sein Einkommen zu verdienen, ist durchaus fraglich – selbst wenn man berücksichtigt, dass einem dabei ständig auch noch der Ku-Klux-Klan im Nacken saß. Zudem haben sich die Kontrollsysteme weiterentwickelt und perfektioniert, sie sind widerstandsfähiger gegen Herausforderungen geworden und können sich so über viele Generationen perpetuieren. Ein Blick auf die politischen und wirtschaftlichen Fundamente der Staatsgründung wirft einiges Licht auf dieses Dauerthema der amerikanischen Geschichte und zeigt, warum immer wieder neue rassische Kastensysteme entstehen.

Die Entstehung der Sklaverei

Damals, vor Jim Crow, vor der Erfindung des Negers und des Weißen und all der Worte und Begriffe, mit denen sie beschrieben wurden, war die Bevölkerung in den Kolonien hauptsächlich eine große Masse weißer und schwarzer Leibeigener, die wirtschaftlich ungefähr alle auf derselben Stufe standen und von den Plantagenbesitzern wie den Gesetzgebern mit derselben Verachtung behandelt wurden. Seltsam unbekümmert um ihre Hautfarbe arbeiteten und lebten diese Menschen Seite an Seite.3

Lerone Bennett

Die Idee der »Rasse« ist eine relativ neue Entwicklung. Erst in den letzten Jahrhunderten und hauptsächlich als Folgeerscheinung des europäischen Imperialismus wurden die Menschen der Welt nach rassischen Gesichtspunkten klassifiziert.4 In Amerika entwickelte sich die Idee der Rasse, um den Besitz von Sklaven – und die Auslöschung der amerikanischen Ureinwohner – mit den Freiheitsidealen in Einklang zu bringen, die die Weißen in den neuen Kolonien predigten.

In der frühen Kolonialzeit, als die Siedlungen noch relativ klein waren, sorgte hauptsächlich das System der Schuldknechtschaft für billige Arbeitskräfte: Viele Kolonisten bezahlten die Überfahrt, indem sie sich für eine gewisse Zahl von Jahren verdingten. Weiße wie Schwarze rackerten sich gleichermaßen ab und hatten einen gemeinsamen Gegner, »den großen Apparat der Plantagenbesitzer und ein Gesellschaftssystem, das Terror gegen schwarze und weiße Leibeigene erlaubt«.5 Anfangs wurden nicht alle nach Amerika gebrachten Schwarzen als Sklaven betrachtet; viele wurden wie Schuldknechte behandelt. Mit der Ausdehnung der Plantagenbewirtschaftung, insbesondere mit dem verstärkten Anbau von Tabak und Baumwolle, stieg dann der Bedarf an Arbeitskräften und Land erheblich.

Der Landhunger wurde durch die Besetzung und Eroberung immer größerer Gebiete befriedigt. Die amerikanischen Ureinwohner erwiesen sich dabei zunehmend als Hemmnis für den »Fortschritt«, den die weißen Europäer brachten. Just in dieser Zeit wurden auch die Darstellungen der amerikanischen Ureinwohner in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften zunehmend negativ. Es erzeugt eben weniger moralische Skrupel, wenn man diejenigen, die man auslöscht, bloß als »Wilde« und nicht als menschliche Wesen betrachtet. Also deklarierte man die amerikanischen Ureinwohner zu einer Rasse von geringerem Wert – zu unzivilisierten Wilden – und rechtfertigte damit ihre Ausrottung.6

Die wachsende Nachfrage nach Arbeitskräften auf den Plantagen wurde durch die Sklaverei gedeckt. Die amerikanischen Ureinwohner kamen dafür nicht in Frage, denn sie wussten sich zu wehren. Europäische Immigranten kamen ebenfalls nicht in Betracht – nicht etwa wegen ihrer weißen Hautfarbe, sondern schlicht, weil sie zu wenige waren und ihre Versklavung das Ende der freiwilligen Einwanderung in die Kolonien bedeutet hätte. Schließlich erkannten die Plantagenbesitzer in den weitgehend wehrlosen Afrikanern die idealen Sklaven. Also wurde die systematische Versklavung von Afrikanern, deren Kinder man ebenfalls als Sklaven betrachtete, unter Hochdruck vorangetrieben – noch beschleunigt durch Ereignisse wie Bacons Rebellion.

Nathaniel Bacon war ein weißer Plantagenbesitzer aus Jamestown in Virginia, der Sklaven, Schuldknechte und verarmte Weiße in einer Revolution gegen die herrschende Elite der weißen Pflanzer anführte. Die Lage der Schuldknechte war kaum besser als die der Sklaven, die zweifellos die niedrigste Stellung in der Gesellschaft innehatten, und auch die Mehrheit der freien Weißen lebte in bitterer Armut. In Kolonien wie Virginia war die Elite der Plantagenbesitzer mit ihren riesigen Ländereien allen Arbeitern gleich welcher Hautfarbe himmelhoch überlegen.7 Die Pflanzer ersannen viele Mittel und Wege, Menschen in Knechtschaft zu bringen und zu halten, und sie horteten ungenutztes Land, was den freien Arbeitskräften jede Entwicklungschance nahm. Die Verbitterung über diese Zustände ließ eine revolutionäre Stimmung entstehen.

Es gibt zahlreiche, unterschiedliche Berichte über Bacons Rebellion, aber die grundlegenden Fakten sind folgende: Bacon plante 1675, den amerikanischen Ureinwohnern Land für sich und andere wegzunehmen und damit gleichzeitig die Gefahr von Indianerüberfällen zu bannen. Als sich die Pflanzer von Virginia weigerten, seine zu diesem Zweck aufgestellte Miliz zu unterstützen, startete Bacon einen Feldzug gegen die Elite, ihre Häuser und ihr Eigentum. Er warf den Reichen offen vor, die Armen zu unterdrücken, und rief damit eine Allianz weißer und schwarzer Schuldknechte sowie Sklaven ins Leben. Doch die Revolte wurde niedergeschlagen, und trotz Amnestieversprechen hängte man eine Reihe der Beteiligten. Die Revolution von Jamestown schürte die Angst der Plantagenbesitzer vor einer rassenübergreifenden Allianz aus Knechten und Sklaven, zumal sich Nachahmer fanden, die ähnliche Aufstände anzettelten.

Die Folge war, dass die Pflanzer in Zukunft weniger auf weiße Schuldknechte setzten und dafür mehr schwarze Sklaven ins Land brachten. Dabei bevorzugten sie Sklaven aus Afrika, denn die englischsprechenden Sklaven aus der Karibik waren bereits mit der europäischen Sprache und Kultur vertraut und somit eher geneigt und in der Lage, sich mit den armen Weißen zu verbünden.

Zusätzlich weiteten die Pflanzer ganz gezielt die Privilegien der armen Weißen aus, um einen Keil zwischen sie und die schwarzen Sklaven zu treiben – eine Politik, die später mit dem Schlagwort »Racial Bribe« (»rassische Bestechung«) bezeichnet wurde. Die weißen Siedler erhielten Land der amerikanischen Ureinwohner, weißen Knechten wurde gestattet, Sklaven durch Patrouillen und Milizen zu schikanieren, und Gesetze sorgten dafür, dass freie Arbeit nicht in Konkurrenz zu Sklavenarbeit geriet. Diese Maßnahmen beseitigten wirksam das Risiko eines Bündnisses zwischen schwarzen Sklaven und armen Weißen, weil diese nun selbst ein Interesse am Fortbestand des Systems der Rassentrennung und Sklaverei hatten. Gemäß der Logik, die sich aus der Spaltung der arbeitenden Bevölkerung durch die Pflanzerelite ergab, waren die Weißen nun vor allem daran interessiert, die ihnen aufgrund ihrer Hautfarbe zustehenden Privilegien zu erweitern.8

Um 1775 hatte sich das System der Schuldknechtschaft endgültig zu einem rassistischen Kastensystem gewandelt, das auf Sklaverei beruhte. Den niedrigen Status der Afrikaner rechtfertigte man mit der Behauptung, die »Neger« gehörten einer unzivilisierten, niedrigeren Rasse an, genau wie die Indianer, womöglich schrieb man ihnen noch geringere Intelligenz und menschliche Qualitäten zu als den Ureinwohnern. Die Behauptung der Überlegenheit der Weißen rationalisierte die Versklavung der Afrikaner und verschleierte den Widerspruch, dass eben jene Weißen ein neues Land auf den Idealen von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit für alle aufzubauen versuchten. Vor der Demokratie wurde die Sklaverei in Amerika geboren.

Die Bedeutung des Rassegedankens für die Grundstruktur der amerikanischen Gesellschaft kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Aufbau und Inhalt der ursprünglichen Verfassung sind wesentlich von dem Bemühen geprägt, ein rassisches Kastensystem – die Sklaverei – aufrechtzuerhalten und den Weißen, allen voran den begüterten Weißen, politische und wirtschaftliche Rechte zu gewähren. Die Sklavenhalterkolonien im Süden wollten der Union nur beitreten, wenn die Bundesregierung in Washington ihr Recht auf Sklavenbesitz unangetastet ließ. Die Eliten im Norden hatten ein offenes Ohr für diese Forderung nach »Eigentumsrechten«, denn auch sie wollten von der Verfassung Garantien für ihr Eigentum. James Madison erklärte, die Union solle »die Minderheit der Wohlhabenden vor der Mehrheit schützen«.9 Die Folge war, dass die Verfassung so angelegt wurde, dass die Bundesregierung schwach war, nicht nur in Bezug auf Eigentumsfragen, sondern auch gegenüber den einzelnen Bundesstaaten, denen große Freiheiten bei der Regelung ihrer Angelegenheiten eingeräumt wurde. Die Verfassung vermeidet bewusst jeden Bezug auf Hautfarbe (die Worte Sklave oder Neger sucht man darin vergebens), dennoch stellt das Dokument einen Kompromiss dar, der dem Erhalt des herrschenden rassischen Kastensystems diente. Der Föderalismus – die Teilung der Macht zwischen den Bundesstaaten und der Bundesregierung – war das Mittel der Wahl, um die Institution der Sklaverei und die politische Macht der Sklavenhalterstaaten zu bewahren. Sogar die Methode zur Bestimmung der proportionalen Vertretung der einzelnen Bundesstaaten im Kongress und im Wahlmännergremium für das Präsidentenamt war auf die Interessen der Sklavenhalter zugeschnitten: Das Gründungsdokument legte fest, Sklaven zur Bevölkerungszahl der Staaten hinzuzuzählen, wenn auch nicht als vollwertige Personen, sondern sozusagen als »Drei-Fünftel-Menschen«. Diese rassistische Fiktion bildet das Fundament der gesamten amerikanischen Demokratie.

Das Ende der Sklaverei

Wäre die Idee, dass es Rassen von Menschen gibt, mit der Sklaverei untergegangen, hätte das Ende des amerikanischen Bürgerkriegs auch das Ende des rassischen Kastensystems in den USA bedeutet. Aber in vier Jahrhunderten Sklaverei hatte sich der Rassegedanke in den Köpfen der Menschen festgesetzt. Und so überlebte die Ideologie ungleicher Rassen – und insbesondere die der grundsätzlichen Überlegenheit der weißen Rasse – die Institution, die sie überhaupt erst hervorgebracht hatte.

Die Behauptung der natürlichen Überlegenheit der Weißen wurde mit der Zeit zu einem quasi religiösen Glauben, der die Afrikaner eher auf der Stufe von Tieren sah. In diesem Denken war die Sklaverei letztlich eine Einrichtung zum Besten der Schwarzen. Das beruhigte das Gewissen der Sklavenhalter und löste den Widerspruch zwischen der Sklaverei und den demokratischen Idealen auf, die die Weißen in der sogenannten Neuen Welt propagierten. Wenn die Afrikaner eigentlich gar keine richtigen Menschen waren, geriet Thomas Jeffersons kühne These, dass »alle Menschen gleich geschaffen« seien, nicht in Widerspruch zur Sklaverei. Der Rassismus bildete ein tief verwurzeltes Glaubenssystem, das sich auf »Wahrheiten« stützte, die nicht hinterfragt oder angezweifelt wurden. Dieser Glaube rechtfertigte ein wirtschaftliches und politisches System, in dem die Plantagenbesitzer Land und Reichtümer durch Brutalität, Folter und Zwang erwarben. »Die Schranke zwischen den Rassen war eine Folge, nicht eine Bedingung der Sklaverei, aber sobald sie einmal etabliert war, löste sie sich von ihrer ursprünglichen Funktion ab und entfaltete ihre eigene gesellschaftliche Wirksamkeit.«10

Das Konstrukt der Rassen überlebte das Ende der Sklaverei.

Einer der aufschlussreichsten Berichte über die Zeit nach der Emanzipations-Proklamation ist The Strange Career of Jim Crow von C. Vann Woodward aus dem Jahr 1955.11 Martin Luther King bezeichnete das Buch, bis heute ein Standardwerk zu diesem Thema, als die »historische Bibel der Bürgerrechtsbewegung«. Woodward zufolge stellte das Ende der Sklaverei die weiße Gesellschaft des Südens vor enorme Probleme. Ohne die Arbeitskraft der ehemaligen Sklaven drohte der Wirtschaft der Region der sichere Zusammenbruch, und ohne die Institution der Sklaverei gab es formell nichts mehr, was die rassische Hierarchie erhalten und die »Verschmelzung« der Weißen mit einer Gruppe verhindert hätte, die ihrem Verständnis nach minderwertig war. Diese Situation hatte fast anarchische Zustände und eine Stimmung an der Grenze zur Hysterie zur Folge, besonders unter der Elite der Plantagenbesitzer. Doch auch für die armen Weißen war der Zusammenbruch der Sklaverei eine bittere Pille. Selbst der Geringste unter ihnen besaß in den Südstaaten vor dem Bürgerkrieg immer noch seine weiße Haut – ein Zeichen der Überlegenheit auch gegenüber einem noch so qualifizierten Sklaven oder wohlhabenden freien Afroamerikaner.

Während die Weißen der Südstaaten, ob arm oder reich, zutiefst empört waren über die Emanzipations-Proklamation, gab es doch keine eindeutige Lösung für das Dilemma, mit dem sie sich konfrontiert sahen. Der Bürgerkrieg hatte die wirtschaftliche und politische Infrastruktur des Südens zerstört. Die Plantagenbesitzer standen auf einen Schlag mittellos da, die Südstaaten brachen unter der Last von Kriegsschulden zusammen. Zahllose Gebäude und andere Besitztümer waren durch den Krieg zerstört worden, die Industrie lag am Boden, Hunderttausende Männer waren gefallen oder kamen als Kriegsversehrte zurück. Zu all dem gesellte sich die depressive Stimmung eines verlorenen Kriegs und die ungeheure Herausforderung des Wiederaufbaus. Die vier Millionen auf einen Schlag befreiten Sklaven verkomplizierten die Lage zusätzlich. Die Weißen des Südens, so Woodward, waren fest davon überzeugt, dass ein neues System der Rassenkontrolle vonnöten war – aber es war nicht unmittelbar klar, wie es aussehen sollte.

Während der Sklaverei wurde die Rassenhierarchie sehr effektiv durch den engen Kontakt zwischen den Sklavenhaltern und den Sklaven aufrechterhalten. Damit wurde ein Höchstmaß an Überwachung und Disziplinierung gewährleistet und das Potenzial für aktiven Widerstand und Rebellion minimiert. Eine strikte Trennung der Rassen hatte weder im Interesse der Sklavenhalter gelegen, noch war sie nötig gewesen, um die soziale Distanz zu den Sklaven zu wahren.

Nach dem Bürgerkrieg wusste zunächst niemad, welche Institutionen, Gesetze oder Konventionen nötig waren, um die weiße Vorherrschaft auch ohne Sklaverei aufrechtzuerhalten. Doch dass die meisten Weißen in den Südstaaten leidenschaftlich nach einer neuen Rassenordnung suchten, darin sind sich die Historiker einig. Gerüchte über einen bevorstehenden großen Aufstand versetzten die Weißen in Schrecken, und Schwarze wurden zunehmend als bedrohlich und gefährlich gesehen. Das noch immer herrschende Stereotyp des schwarzen Mannes als aggressives und wildes Raubtier kann bis in diese Zeit zurückverfolgt werden, in der Weiße fürchteten, eine wütende Masse schwarzer Männer könnte rebellieren und sie angreifen oder ihre Frauen vergewaltigen.

Ebenso besorgniserregend war der Zustand der Wirtschaft. Die befreiten Sklaven verließen in Scharen die Plantagen, was unter den Pflanzern Empörung und Panik auslöste. In den ersten Nachkriegsjahren zogen Sklaven in großer Zahl über die Landstraßen. Manche ließen sich in den Städten nieder, andere schlossen sich den Milizen des Bundes an. Die meisten Weißen glaubten, dass es Afroamerikanern an Arbeitsmoral mangele, was die provisorischen Parlamente im Süden veranlasste, die berüchtigten »Black Codes« einzuführen, Gesetze auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene, die die Rechte der Schwarzen einschränkten. Ein Plantagenbesitzer aus Alabama formulierte es so: »Wir haben die Macht, strenge Kontrollgesetze zu erlassen, um die Neger zu regieren – das ist ein Segen –, denn irgendwie müssen sie kontrolliert werden, oder die Weißen können nicht unter ihnen leben.«12 Während einige dieser Gesetze darauf abzielten, Systeme der Leibeigenschaft ähnlich der Sklaverei zu errichten, handelte es sich bei anderen um Vorboten von Jim Crow. So wurden beispielsweise gemeinsame Abteile für Schwarze und Weiße in der ersten Klasse der Eisenbahn verboten und eine Rassentrennung in Schulen eingeführt.

Häufig wird übersehen, dass auch Bestimmungen für Strafgefangene, die in dieser Zeit erlassen wurden, als Teil der Black Codes betrachtet werden müssen. So meint der Historiker William Cohen: »Die Hauptaufgabe der Black Codes war es, die befreiten Sklaven unter Kontrolle zu bringen, und die Frage, wie man mit den verurteilten schwarzen Gesetzesbrechern verfahren sollte, stand ganz im Mittelpunkt dieser Kontrollbemühungen.«13 Neun Südstaaten erließen Gesetze gegen sogenanntes »Vagabundieren«, wonach es praktisch ein Straftatbestand war, keinen Arbeitsplatz zu haben. Diese Gesetze wurden ganz gezielt gegen Schwarze eingesetzt. Acht dieser Staaten erließen Gesetze, die es den Countys ermöglichten, Gefangene an Plantagenbesitzer und Privatunternehmer zu vermieten. Die Gefangenen mussten Zwangsarbeit verrichten, für die sie keinen oder nur einen sehr geringen Lohn erhielten. Ein Gesetz gegen das Vagabundieren bestimmte, dass »alle freien Neger und Mulatten über 18 Jahre« alljährlich einen Beschäftigungsnachweis vorzulegen hatten. Wer das nicht konnte, wurde als Landstreicher angesehen und verurteilt. Ziel der Black Codes im Allgemeinen und der Gesetze gegen Landstreicherei im Besonderen war ganz eindeutig, ein neues System von Zwangsarbeit einzuführen. »Die Codes sprachen für sich selbst. … Kein Jurastudent, der sie unvoreingenommen liest, kann übersehen, dass sie nur auf Versklavung in tagtäglicher Plackerei hinausliefen.«14

Doch schließlich wurden die Black Codes aufgehoben, und in der relativ kurzen Phase des Fortschritts für die Schwarzen während der Ära der Reconstruction verabschiedete die Bundesregierung eine ganze Reihe von Bürgerrechtsgesetzen zum Schutz der befreiten Sklaven. Zu den beeindruckenden Leistungen dieser Zeit gehören der 13. Zusatzartikel zur Verfassung, mit dem die Sklaverei abgeschafft wurde; der Civil Rights Act von 1866, der allen Afroamerikanern die vollen Bürgerrechte zuerkennt; der 14. Zusatzartikel zur Verfassung, der es den Bundesstaaten verbietet, Personen ein ordentliches Gerichtsverfahren oder »den gleichen Schutz durch das Gesetz« zu versagen; der 15. Zusatzartikel, der bestimmt, dass das Wahlrecht nicht aufgrund der Rassenzugehörigkeit entzogen werden darf; und die Ku Klux Klan Acts, die unter anderem Wahlbehinderung zum Verstoß gegen Bundesrecht erklärten und gewaltsame Verstöße gegen Bürgerrechte unter Strafe stellten. Die neue Gesetzgebung führte auch eine Aufsicht des Bundes über die Wahlen ein und autorisierte den Präsidenten, sowohl bestimmte Gerichtsbeschlüsse auszusetzen als auch die Armee in Gebiete zu schicken, die die Bundesregierung als aufständisch deklariert hatte.

Außer der Bürgerrechtsgesetzgebung des Bundes wurde in der Zeit der Reconstruction auch die Arbeit des Freedmen’s Bureau ausgeweitet, einer Behörde, die an mittellose ehemalige Sklaven Nahrung, Kleidung, Brennmaterial und andere Hilfsgüter verteilte. Im Süden entwickelte sich ein öffentliches Schulsystem, womit viele Schwarze (und arme Weiße) zum ersten Mal Gelegenheit erhielten, lesen und schreiben zu lernen.

Doch obwohl die Zeit der Reconstruction von Korruption belastet und durch das Ausbleiben einer Bodenreform zum Scheitern verurteilt war, kam es trotzdem zu gewaltigen wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die das Potenzial hatten, das rassische Kastensystem im Süden ernsthaft zu unterhöhlen, wenn nicht ganz zum Verschwinden zu bringen. Unter dem Schutz von Bundessoldaten konnten die Afroamerikaner in großer Zahl wählen und hier und da auf lokaler Ebene auch die Kontrolle über den politischen Apparat gewinnen. Deutlich mehr Menschen lernten lesen und schreiben, und gebildete Schwarze übernahmen Positionen als Abgeordnete, eröffneten Schulen und betätigten sich erfolgreich als Geschäftsleute. Im Jahr 1867, zu Beginn der Reconstruction, bekleidete im Süden noch kein Schwarzer ein politisches Amt, doch drei Jahre später waren 15 Prozent aller Gewählten im Süden Schwarze. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass 15 Jahre nach Verabschiedung der Wahlrechtsgesetze von 1965 – dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung – weniger als 8 Prozent der Volksvertreter im Süden Schwarze waren.15

Allerdings erwiesen sich viele der neuen Bürgerrechtsgesetze als weitgehend symbolisch.16 Besonders wirkte sich aus, dass der 15. Zusatzartikel den Bundesstaaten nicht untersagte, die Ausübung des Wahlrechts an Bedingungen wie Bildung, Wohnsitz oder andere Voraussetzungen zu knüpfen. Das ermöglichte ihnen, Wahlsteuern zu erheben, Lese- und Schreibtests einzuführen und andere Hürden zu errichten, um die Schwarzen von den Wahlurnen fernzuhalten. Andere Gesetze erwiesen sich eher als Absichtserklärungen, denn als direktes Eingreifen des Bundes in die Verhältnisse des Südens, weil Afroamerikaner ihre Fälle vor ein Bundesgerichte bringen mussten, damit sie durchgesetzt werden konnten – ein teures und zeitaufwendiges Verfahren und ein Ding der Unmöglichkeit für die große Mehrheit derer, die überhaupt Ansprüche hatten. Die Mehrzahl der Schwarzen war zu arm, um Bürgerrechte vor Gericht zu erstreiten, und eine Organisation wie die NAACP, die die Risiken und Kosten eines Rechtsstreits hätte auffangen können, existierte noch nicht. Hinzu kam, dass die Schwarzen durch Androhung von Gewalt von der Durchsetzung ihrer berechtigten Forderungen abgebracht wurden. Die »Bürgerrechte« existierten für die ehemaligen schwarzen Sklaven größtenteils nur auf dem Papier.

Inzwischen setzte sich im Süden die Rassentrennung zunehmend durch, vorangetrieben vor allem durch Plantagenbesitzer, die darauf hofften, ein neues Kontrollsystem errichten zu können, das ihnen billige, gefügige Arbeitskräfte sicherte. Tatsächlich hatte der Prozess der Rassentrennung schon Jahre zuvor im Norden eingesetzt, wo man sich bemüht hatte, jeder Rassenvermischung einen Riegel vorzuschieben und die Rassenhierarchie auch nach Abschaffung der Sklaverei aufrechtzuerhalten. Sie hatte sich hier allerdings nie zu einem umfassenden System entwickelt – sie funktionierte mehr oder weniger als alltägliche Selbstverständlichkeit und wurde mit unterschiedlicher Konsequenz durchgesetzt. Selbst die schärfsten Gegner der Reconstruction hätten kaum erwartet, dass sich die Rassentrennung bald zu einem derart umfassenden und repressiven rassischen Kastensystem auswachsen würde, wie es dann unter dem schlichten Namen Jim Crow bekannt wurde.

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