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VORBEMERKUNG

Dieses Buch ist nicht für jeden gedacht. Ich habe eine spezielle Leserschaft vor Augen – Menschen, die zutiefst um Rassengerechtigkeit besorgt sind, die aber aus vielerlei Gründen noch nicht die Ausmaße der Katastrophe erkannt haben, die aufgrund der Masseninhaftierung über die People of Color hereingebrochen ist. Mit anderen Worten, ich habe dieses Buch für Menschen wie mich geschrieben – für Menschen, die so denken wie ich vor zehn Jahren. Aber ich habe auch noch eine andere Leserschaft im Sinn, nämlich all diejenigen, die sich große Mühe geben, ihre Freunde, Nachbarn, Verwandten, Lehrer, Arbeitskollegen oder politische Repräsentanten davon zu überzeugen, dass unser Strafjustizsystem etwas seltsam Vertrautes hat, etwas, das sehr stark an eine Ära erinnert, die wir angeblich hinter uns gelassen haben, die aber nicht über die Fakten und Daten verfügen, mit denen sie diese Behauptung untermauern könnten. Ich hoffe inständig, dass dieses Buch all diesen Menschen die Kraft verleiht und das Material an die Hand gibt, mit mehr Überzeugung, Glaubwürdigkeit und Mut die Wahrheit auszusprechen. Und schließlich, aber bestimmt nicht an letzter Stelle, habe ich dieses Buch für alle geschrieben, die in Amerikas neuestem Kastensystem gefangen sind. Ihr sitzt vielleicht hinter Gittern oder seid aus der Gesellschaft ausgeschlossen, aber ihr seid nicht vergessen.

EINFÜHRUNG

Jarvious Cotton darf nicht wählen. Wie schon seinem Vater, seinem Großvater, seinem Urgroßvater und seinem Ururgroßvater wird auch ihm das Recht verweigert, an unserer Demokratie teilzuhaben. Cottons Stammbaum erzählt die Geschichte mehrerer Generationen schwarzer Männer, die in den Vereinigten Staaten geboren wurden, denen jedoch die elementarste Freiheit, die die Demokratie verspricht, vorenthalten wurde – die Freiheit, jene zu wählen, die die Regeln aufstellen und die Gesetze machen und damit das Leben der Menschen bestimmen. Cottons Ururgroßvater durfte nicht wählen, weil er Sklave war. Sein Urgroßvater wurde vom Ku-Klux-Klan erschlagen, weil er versucht hatte, an einer Wahl teilzunehmen. Sein Großvater wurde durch Einschüchterungen des Klans am Wählen gehindert. Sein Vater wurde durch die Wahlsteuer und Lese- und Schreibtests von der Wahl ausgeschlossen. Und Jarvious Cotton selbst kann nicht wählen, weil er, wie viele Schwarze in den Vereinigten Staaten, als Straftäter gebrandmarkt und momentan auf Bewährung ist.1

Auf Cottons Geschichte trifft in vielerlei Hinsicht das alte Sprichwort zu: »Je mehr sich die Dinge verändern, desto mehr bleiben sie, wie sie sind.« Jede Generation wendet neue Taktiken an, um dieselben Ziele wie die ihrer Vorfahren zu erreichen – die Ziele der Gründungsväter. Afroamerikanern die Bürgerrechte vorzuenthalten, galt als entscheidende Voraussetzung für die Bildung des ersten Staatenbunds. Heute, Hunderte Jahre später, ist Amerika immer noch keine egalitäre Demokratie. Die Argumente und Rationalisierungen, die aufgetischt werden, um die rassistische Exklusion und Diskriminierung in ihren verschiedenen Formen zu rechtfertigen, verändern sich und entwickeln sich weiter, aber das Resultat bleibt weitgehend dasselbe. In den Vereinigten Staaten wird heute einem außerordentlich hohen Prozentsatz schwarzer Männer wie während der gesamten amerikanischen Geschichte mit Billigung des Gesetzes das Wahlrecht verweigert. Und auch bei der Arbeits- und Wohnungssuche, in der Bildung, bei Sozialleistungen und bei der Besetzung von Geschworenenjurys werden sie genauso legal diskriminiert wie einst ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern.

Was sich seit dem Zusammenbruch von Jim Crow verändert hat, hat weniger mit der grundlegenden Struktur unserer Gesellschaft zu tun als mit der Sprache, in der wir es rechtfertigen. In der Ära der »Farbenblindheit«, in der die Hautfarbe angeblich keine Rolle mehr spielt, ist es gesellschaftlich nicht mehr zulässig, Diskriminierung, Exklusion und soziale Missachtung explizit mit der Hautfarbe zu begründen. Also tun wir es nicht mehr. Stattdessen etikettieren wir People of Color mithilfe unseres Strafrechtssystems als »Kriminelle« und bedienen uns dann all der Methoden, die wir angeblich hinter uns gelassen haben. Heute ist es völlig legal, Kriminelle auf jede mögliche Art und Weise zu benachteiligen, wie es einst rechtens war, schwarze Amerikaner zu benachteiligen. Sobald jemand einmal als Verbrecher gilt, werden die alten Diskriminierungsformen – Benachteiligung in der Arbeitswelt und bei der Wohnungssuche, die Verweigerung des Wahlrechts und des Rechts auf Bildung, von Lebensmittelmarken und anderer Sozialleistungen sowie der Beteiligung an Geschworenengerichten – plötzlich legal. Ein verurteilter Straftäter hat kaum noch Rechte und genießt unter Umständen weniger Respekt als ein schwarzer Mann, der auf dem Höhepunkt von Jim Crow in Alabama lebte. Wir haben die auf Rasse beruhenden Kasten in Amerika nicht abgeschafft, wir haben sie lediglich umdefiniert.

Die in diesem Buch dargelegten Schlussfolgerungen sind mir nicht leichtgefallen. Vor zehn Jahren hätte ich mich hartnäckig gegen die hier getroffene zentrale Aussage gewehrt – nämlich, dass es heute eine Art rassisches Kastensystem in den Vereinigten Staaten gibt. Wäre Barack Obama damals schon Präsident gewesen, hätte ich dem entgegengehalten, dass seine Wahl den Sieg des Landes über die rassisch definierte Kaste beweise und der letzte Sargnagel für Jim Crow sei. Meine Freude darüber wäre zwar durch den Gedanken gedämpft worden, dass wir noch eine große Strecke zurücklegen müssten, um das gelobte Land der Rassengleichheit in Amerika zu erreichen, aber meine Überzeugung, dass nichts auch nur annähernd Ähnliches wie Jim Crow mehr in diesem Land existiere, wäre unerschütterlich gewesen.

Heute wird meine Begeisterung über Obamas Wahl durch eine viel größere Ernüchterung eingedämmt. Als Afroamerikanerin mit drei kleinen Kindern, die nie eine Welt kennenlernen werden, in der ein Schwarzer nicht Präsident der Vereinigten Staaten werden könnte, war ich am Wahlabend mehr als begeistert. Doch als ich die Feier zu diesem Anlass voller Hoffnung und Enthusiasmus verließ, wurde ich sofort mit der brutalen Realität des Neuen Jim Crow konfrontiert. Ein Schwarzer kniete im Rinnstein, die Hände hinter dem Rücken in Handschellen, während mehrere Polizisten um ihn herumstanden, sich unterhielten, Witze rissen und seine Menschenwürde in den Staub traten. Aus dem Gebäude strömten Leute, viele starrten einen Augenblick lang den Schwarzen an, der vor ihnen auf der Straße kauerte, wandten dann aber den Blick ab. Was bedeutete für ihn die Wahl Barack Obamas?

Wie viele Bürgerrechtsanwälte wurde ich durch die in den 1950er und 1960er Jahren errungenen Siege angeregt, Jura zu studieren. Selbst angesichts des wachsenden sozialen und politischen Widerstands gegen Fördermaßnahmen wie die »Affirmative Action«, hielt ich an meinem Glauben fest, dass die Übel von Jim Crow hinter uns lagen, es aber noch ein weiter Weg zu einer egalitären, multiethnischen Demokratie war, wir bereits echte Fortschritte gemacht hatten und nun kämpfen mussten, um auf den Siegen der Vergangenheit aufbauen zu können. Ich hielt es für meine Aufgabe als Bürgerrechtsanwältin, mich mit den Verfechtern des Rassenfortschritts zu verbünden, um Angriffe auf die Affirmative Action abzuwehren und die Reste der Jim-Crow-Segregation zu beseitigen, vor allem unser immer noch segregiertes und ungerechtes Bildungssystem. Ich hatte begriffen, dass die Probleme, die die armen People of Color plagten – unter anderem auch die Kriminalität und die zunehmenden Inhaftierungsraten, die eine Folge von Armut und fehlendem Zugang zu einer guten Ausbildung waren –, eine Folge des Erbes von Sklaverei und Jim Crow sind. Keinen Augenblick habe ich damals ernsthaft die Möglichkeit erwogen, dass in diesem Land ein neues rassisches Kastensystem wirksam sein könnte. Das neue System war rasch entwickelt und umgesetzt worden, und es war weitgehend unsichtbar, selbst für Menschen wie mich, die den Großteil ihrer Zeit mit dem Kampf um Gerechtigkeit verbrachten.

Dass es ein neues rassisches Kastensystem geben könnte, kam mir erstmals vor über zehn Jahren in den Sinn, als mir ein hellorangefarbener Zettel in die Augen fiel. Ich bemerkte ihn, als ich rannte, um meinen Bus zu erwischen. Er war an einem Telefonmasten befestigt, und darauf stand in großen schreienden Buchstaben: DER KRIEG GEGEN DIE DROGEN IST DAS NEUE JIM CROW. Ich blieb kurz stehen und überflog hastig den Text. Eine radikale Gruppe hielt ein Gemeindetreffen zum Thema Polizeibrutalität, das neue »Three Strikes«-Gesetz in Kalifornien und die Ausweitung des amerikanischen Gefängnissystems ab. Die Veranstaltung sollte in einer kleinen Kirche ein paar Häuserblocks entfernt stattfinden, in der es nur Platz für fünfzig Besucher gab. Ich seufzte und dachte: »Ja, das Strafjustizsystem ist in vielerlei Hinsicht rassistisch, aber es ist wirklich nicht hilfreich, einen so absurden Vergleich anzustellen. Die Leute werden doch denken, ihr seid verrückt.« Dann überquerte ich die Straße und sprang in den Bus. Ich fuhr zu meinem neuen Arbeitsplatz als Leiterin des Racial Justice Project of the American Civil Liberties Union (ACLU) in Nordkalifornien.

Ich trat meine Arbeit bei der ACLU in der Annahme an, dass es in unserem Strafjustizsystem wie in allen größeren Institutionen unserer Gesellschaft bewusste wie unbewusste rassistische Vorurteile gab. Als Anwältin, die an zahlreichen Sammelklagen wegen Diskriminierung am Arbeitsplatz beteiligt gewesen war, kannte ich die vielen Formen, in denen Rassenklischees die subjektiven Entscheidungsfindungsprozesse auf allen Ebenen einer Organisation beeinflussen können und welche verheerenden Folgen das haben kann. Ich war vertraut mit den Herausforderungen bei der Reformierung von Institutionen, in denen rassisch bestimmte Hierarchien als normal galten – als die natürliche Folge unterschiedlicher Bildung, Kultur, Motivation und, wie manche immer noch glauben, angeborener Fähigkeiten. In meiner Zeit bei der ACLU konzentrierte ich mich statt auf die Diskriminierung am Arbeits platz mehr und mehr auf eine Strafjustizreform und arbeitete gemeinsam mit anderen daran, rassistische Vorurteile zu benennen und zu beseitigen, wann und wo immer sie ihr hässliches Gesicht zeigten.

Als ich meinen Posten bei der ACLU aufgab, hatte ich den Verdacht, dass ich mich hinsichtich des Strafjustizsystems geirrt hatte. Es war nicht nur eine unter vielen mit Vorurteilen behafteten Institutionen, sondern eine völlig andere Geschichte. Die Aktivisten, die den Zettel an den Telefonmast geheftet hatten, waren nicht verrückt; ebenso wenig die vereinzelten Anwälte und Bürgerrechtsvertreter, die Verbindungen zwischen der Masseninhaftierung und früheren Formen der sozialen Kontrolle herstellten. Ziemlich spät erkannte ich, dass die Masseninhaftierung in den Vereinigten Staaten ein erstaunlich umfassendes und gut verschleiertes System rassistischer Gesellschaftskontrolle ist, das verblüffend ähnlich wie Jim Crow funktioniert.

Meiner Erfahrung nach sehen Menschen, die einmal im Gefängnis gesessen haben, meist schnell die Parallelen zwischen diesen Systemen sozialer Kontrolle. Nach ihrer Entlassung wird ihnen oft das Wahlrecht verweigert, sie dürfen nicht als Geschworene tätig sein und werden auf eine segregierte und entwürdigende Existenz reduziert. Durch ein ganzes Dickicht von Gesetzen, Vorschriften und informellen Regeln, die allesamt durch ein soziales Stigma enorm verstärkt werden, werden sie an den Rand der Gesellschaft verwiesen und aus der Arbeitswelt ausgeschlossen. Per Gesetz wird ihnen das Recht auf Arbeit, eine Wohnung und öffentliche Fürsorge versagt – so, wie Afroamerikaner in der Ära von Jim Crow einst durch Rassentrennung zu Bürgern zweiter Klasse degradiert wurden.

Wer aus bequemer Distanz auf diese Welt blickt – und zugleich Mitgefühl mit der sogenannten Unterschicht empfindet –, interpretiert die Erfahrungen der in die Mühlen der Strafjustiz geratenen Menschen meist vorwiegend durch die Brille einer popularisierten Sozialwissenschaft und schreibt den erschreckenden Anstieg der Inhaftierungsraten unter den People of Color den vorhersehbaren, wenn auch bedauerlichen Folgen von Armut, Rassentrennung, ungleichen Bildungschancen und dem Drogenmarkt zu, wie man ihn sich eben vorstellt, nämlich als einen, in dem die meisten Drogenhändler schwarzer oder brauner Hautfarbe seien. Gelegentlich höre ich bei meiner Arbeit, dass der Krieg gegen die Drogen womöglich ein rassistischer Plan sei, die Schwarzen auf ihren Platz zu verweisen. Solche Bemerkungen waren meist von einem Augenzwinkern begleitet, das den Eindruck vermitteln sollte, dieser Gedanke sei einem zwar tatsächlich schon mal in den Sinn gekommen, doch das nehme man wie jeder vernünftige Mensch natürlich nicht ernst.

Die meisten glauben, der Krieg gegen die Drogen sei die Reaktion auf den Niedergang der Innenstädte durch die Ausbreitung von Crack. Aus dieser Sicht betrachtet spiegeln die rassisch bedingten Unterschiede bei den Verurteilungen und Strafen wegen Drogendelikten sowie die explosionsartige Zunahme der Gefängnispopulation nur die übereifrigen – aber wohlgemeinten – Bemühungen des Staates wider, der grassierenden Drogenkriminalität in den armen Minderheitenvierteln Herr zu werden. Angesichts der sensationslüsternen Medienberichte über Crack in den 1980er und 1990er Jahren ist diese Ansicht vielleicht verständlich, aber sie ist schlichtweg falsch.

Es stimmt zwar, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für Crack zu einer drastischen Steigerung der Ausgaben für den Krieg gegen die Drogen (und für die Strafmaßnahmen, die die Unterschiede bei den Inhaftierungsraten verschärft haben) geführt haben, es stimmt aber nicht, dass dieser Krieg eine Antwort auf die Crack-Problematik ist. Präsident Ronald Reagan verkündete den bis heute geführten Krieg gegen die Drogen im Jahr 1982, das heißt, bevor Crack zum Thema in den Medien wurde beziehungsweise in armen schwarzen Communitys zu katastrophalen Verhältnissen führte. Ein paar Jahre später breitete sich Crack rasch in den armen schwarzen Communitys von Los Angeles und später in allen Städten des Landes aus.2 Im Rahmen ihrer Strategie, von der Öffentlichkeit und der Legislative Unterstützung für den Krieg zu erhalten, stellte die Regierung Reagan 1985 dann zusätzliches Personal ein, das öffentlich über das Auftauchen der neuen Droge Crack berichten sollte.3 Die Medienkampagne war außerordentlich erfolgreich.

Fast über Nacht waren die Zeitungen und Fernsehsender angefüllt mit Bildern von schwarzen »Crack-Huren«, »Crack-Dealern« und »Crack-Babys« – von Bildern, die die schlimmsten rassistischen Klischees über die armen Innenstadtbewohner zu bestätigen schienen. Der Medienhype um die »neue Teufelsdroge« trug dazu bei, dass aus einem ambitionierten Bundesprojekt zur Drogenbekämpfung ein echter Krieg wurde.

Der Zeitpunkt der Crack-Kampagne nährte Verschwörungstheorien und allgemeine Spekulationen, der Krieg gegen die Drogen sei womöglich Teil eines Plans der Regierung, den schwarzen Bevölkerungsteil in den Vereinigten Staaten auszulöschen. Von Beginn an kursierten auf den Straßen Gerüchte, Crack und andere Drogen würden von der CIA in die schwarzen Communitys eingeschleust. Schließlich nahm sogar die Urban League die Völkermordvorwürfe ernst. So hieß es 1990 in ihrem Bericht »The State of Black America«: »Es gibt einen Begriff, dem man sich nicht verschließen kann, wenn man den alles durchdringenden und heimtückischen Charakter des Drogenproblems für die Afroamerikaner zur Kenntnis nehmen will. So schwer es zu akzeptieren ist, es handelt sich um den Begriff des Völkermords.«4 Wie sich herausstellen sollte, waren die zunächst als abwegig verworfenen Verschwörungstheorien dann doch nicht völlig falsch. Im Jahr 1998 räumte die CIA ein, dass von ihr unterstützte nicaraguanische Guerilla-Armeen Drogen in die USA schmuggelten – Drogen, die dann auf den Straßen der innerstädtischen Viertel in Gestalt von Crack landeten. Des Weiteren bekannte die CIA mitten im Krieg gegen die Drogen, Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden gegen Drogennetzwerke behindert zu haben, die ihren verdeckten Krieg in Nicaragua mitfinanzierten.5

Die CIA gab, das muss betont werden, nie zu (und es wurde auch nie bewiesen), dass sie die Zerstörung der schwarzen Communitys beabsichtigte, indem sie Drogen in die Vereinigten Staaten schmuggeln ließ. Trotzdem ist der kühne Völkermordvorwurf von Verschwörungstheoretikern gewiss verzeihlich, bedenkt man die verheerenden Folgen des Crack-Konsums und des Kriegs gegen die Drogen sowie den seltsamen Zufall, dass es unter den Afroamerikanern plötzlich zu einem schwerwiegenden Crack-Problem kam, nachdem – nicht bevor – dieser Krieg verkündet worden war. Er begann sogar zu einer Zeit, als der Drogenkonsum zurückging,6 und führte zu einer sprunghaften Zunahme von Verhaftungen und Strafurteilen wegen Drogendelikten vor allem für People of Color.

Die Folgen des Kriegs gegen die Drogen sind schockierend. In weniger als dreißig Jahren stieg die Gefängnispopulation in den USA von etwa 300.000 auf über zwei Millionen, woran Verurteilungen wegen Drogendelikten den größten Anteil hatten.7 Inzwischen haben die Vereinigten Staaten die höchste Inhaftierungsrate der Welt und stellen damit die fast aller anderen entwickelten Länder in den Schatten, sogar die in äußerst repressiven Regimen wie dem russischen, chinesischen und iranischen. In Deutschland kommen auf 100.000 Einwohner, Erwachsene und Kinder, 93 Häftlinge, in den Vereinigten Staaten ist die Rate mit 750 pro 100.000 etwa achtmal so hoch.8

Der Aspekt der Hautfarbe bei der Masseninhaftierung ist besonders augenfällig. Kein anderes Land der Welt steckt einen so hohen Anteil seiner Minderheiten ins Gefängnis. In Washington, der Hauptstadt unseres Landes, landen Schätzungen zufolge drei von vier jungen schwarzen Männern (und fast 100 Prozent in den ärmsten Vierteln) irgendwann einmal im Gefängnis.9 Ähnliche Inhaftierungsraten verzeichnen die schwarzen Communitys in ganz Amerika.

Diese unübersehbare Einseitigkeit lässt sich nicht mit der Zahl der Drogendelikte erklären. Studien zeigen, dass Menschen aller Hautfarben im selben Maß Drogen konsumieren und dealen.10 Wenn in Stu dien ein signifikanter Unterschiede erkennbar ist, dann der, dass Weiße, insbesondere weiße Jugendliche, eher Drogendelikte begehen als People of Color.11 Allerdings würde das keiner vermuten, der eins unserer Gefängnisse besucht, denn sie sind voll von schwarzen und braunen Drogendelinquenten. In manchen Bundesstaaten ist die Zahl schwarzer Männer, die wegen Drogenvorwürfen ins Gefängnis gesteckt werden, 20-bis 25-mal so hoch wie die weißer Männer.12 Und in vom Krieg gegen die Drogen zerstörten Großstädten haben heute 80 Prozent der jungen Afroamerikaner Vorstrafen und sind deshalb für den Rest ihres Lebens einer durch das Gesetz legitimierten Diskriminierung ausgesetzt.13 Diese jungen Männer sind Teil einer wachsenden Unterkaste, die dauerhaft eingeschlossen und aus der Gesellschaft ausgeschlossen ist.

Manch einer mag überrascht sein, dass die Drogenkriminalität ab- und nicht zunahm, als den Drogen der Krieg erklärt wurde. Historisch betrachtet ist es nichts Neues, wenn zwischen Verbrechen und Strafe keinerlei Korrelation besteht. Soziologen stellen immer wieder fest, dass der Staat Bestrafung vorwiegend als Mittel der sozialen Kontrolle benutzt und daher Ausmaß und Schwere der Bestrafung mit den tatsächlich begangenen Verbrechen nichts zu tun haben.14 So erklärt beispielsweise Michael Tony in seinem Buch Thinking About Crime: »Regierungen entscheiden, wie viel Strafe sie wünschen, und diese Entscheidungen stehen in keinem einfachen Zusammenhang mit den Kriminalitätsraten.«15 Dies, so betont er, wird am deutlichsten sichtbar, wenn man internationale Vergleiche anstellt. Obwohl die Kriminalität in den Vereinigten Staaten kaum höher ist als in anderen westlichen Ländern, ist die Inhaftierungsrate dort sprunghaft angestiegen, woanders hingegen stabil geblieben oder gesunken. Zwischen 1960 und 1990 beispielsweise waren die Kriminalitätsraten Finnlands, Deutschlands und der USA nahezu identisch. Die Inhaftierungsrate in den USA vervierfachte sich jedoch, in Finnland fiel sie um 60 Prozent, und in Deutschland blieb sie gleich.16 Trotz nahezu identischer Kriminalitätsraten fiel also das staatlich verordnete Strafmaß völlig unterschiedlich aus.

Die Kriminalitätsrate in den USA liegt gegenwärtig unter dem internationalen Durchschnitt, und dennoch weist das Land heute eine Inhaftierungsrate auf, die die anderer Industrienationen um das Zehnfache übersteigt17 – eine Entwicklung, die unmittelbar auf den Krieg gegen die Drogen zurückzuführen ist. Das einzige Land der Welt, das ähnliche Inhaftierungszahlen zu vermelden hat, ist Russland, und nirgendwo sonst auf der Welt landet ein so erschreckender Prozentsatz ethnischer Minderheiten im Gefängnis wie in den USA.

Die nüchterne Wahrheit lautet, dass das amerikanische Strafsystem aus Gründen, die im Großen und Ganzen nichts mit der gegenwärtigen Kriminalitätsentwicklung zu tun haben, eine in der Weltgeschichte beispiellose Methode sozialer Kontrolle darstellt. Man könnte meinen, dass schon allein aufgrund von dessen Dimensionen die Mehrheit der Amerikaner davon tangiert sein müsse, doch es trifft vor allem Minderheiten. Diese Entwicklung verblüfft, vor allem wenn man bedenkt, dass Mitte der 1970er Jahre die angesehensten Kriminalwissenschaftler voraussagten, das Gefängnissystem werde bald verschwunden sein. Haftstrafen würden nur minimal vor Verbrechen abschrecken, schlussfolgerten viele Experten. Wer sinnvolle wirtschaftliche und soziale Chancen habe, begehe wahrscheinlich auch ohne eine drohende Gefängnisstrafe kein Verbrechen, und diejenigen, die ins Gefängnis wanderten, würden in der Zukunft mit höchster Wahrscheinlichkeit wieder straffällig. Den zunehmenden Konsens unter Fachleuten spiegelte wohl am besten eine Empfehlung der National Advisory Commission on Criminal Justice Standards and Goals aus dem Jahr 1973 wider, in der es hieß, dass »keine neuen Haftanstalten für Erwachsene gebaut und bestehende Jugendhaftanstalten geschlossen werden sollten«.18 Diese Empfehlung beruhte auf der Erkenntnis, dass »das bundesstaatliche und staatliche Gefängnis und die Besserungsanstalt nur Misserfolge gebracht haben. Es gibt überwältigende Beweise dafür, dass diese Institutionen zu Kriminalität führen, statt sie zu verhindern«.19

Heute werden Aktivisten, die für »eine Welt ohne Gefängnisse« eintreten, häufig als Phantasten abgetan, doch noch vor wenigen Jahrzehnten bestimmte der Gedanke, dass es unserer Gesellschaft ohne Gefängnisse besser gehen würde – und das Ende der Gefängnisse mehr oder weniger unausweichlich sei –, nicht nur die zentrale kriminalwissenschaftliche Debatte, sondern löste auch eine landesweite Kampagne von Reformern aus, die einen Stopp des Gefängnisbaus forderten. Marc Mauer, der geschäftsführende Direktor des Sentencing Project, weist dar auf hin, dass im Rückblick das Bemerkenswerteste an der Moratoriumskampagne der Kontext war, in dem sie stattfand. Im Jahr 1972 saßen landesweit knapp 350.000 Menschen im Gefängnis, heute sind es zwei Millionen. Die Inhaftierungsrate befand sich 1972 auf einem so niedrigen Niveau, wie wir es heute nicht mehr für möglich halten, während sie für die Unterstützer der Kampagne unerhört hoch war. »Den Unter stützern des Moratoriumsbegehrens kann man ihre Naivität angesichts dessen, dass der bevorstehende Ausbau des Gefängnissystems in der Menschheitsgeschichte beispiellos war, nachsehen«, meint Mauer.20 Denn niemand konnte sich vorstellen, dass sich in der eigenen Lebenszeit die Gefängnispopulation mehr als verfünffachen würde. Für viel wahrscheinlicher hielt man die Abschaffung der Gefängnisse.

Doch nichts scheint gegenwärtig ferner zu liegen. Und trotz der nie da gewesenen Inhaftierungsraten in der afroamerikanischen Community verhält sich die Bürgerrechtsbewegung seltsam still. Wenn der gegenwärtige Trend anhält, wird einer von drei jungen afroamerikanischen Männern eine Zeit lang im Gefängnis verbringen, und in manchen Städten befindet sich gegenwärtig über die Hälfte aller schwarzen jungen Männer unter Kontrolle der Strafjustiz – das heißt, sitzt im Gefängnis oder steht unter Bewährung.21 Dennoch wird die Masseninhaftierung im Gegensatz zur Rassenjustiz oder den Bürgerrechten (beziehungsweise deren Krise) meist lediglich als Thema der Strafjustiz betrachtet.

Die Aufmerksamkeit der Bürgerrechtsbewegungen richtet sich vorwiegend auf andere Fragen wie die Affirmative Action. In den letzten zwanzig Jahren hat praktisch jede progressive, nationale Bürgerrechtsgruppe im Land für die Verteidigung der Affirmative Action mobilisiert und demonstriert. Der Kampf um diese Art der Minderheitenförderung in der höheren Bildung und somit für die Erhaltung der Vielfalt in den elitärs ten Colleges und Universitäten des Landes verschlingt einen Großteil der Ressourcen der Bürgerrechtler und beherrscht den Diskurs über Rassengerechtigkeit in den Massenmedien, was in der allgemeinen Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, die Affirmative Action sei die Hauptfront in den amerikanischen Rassenbeziehungen – obwohl sich unsere Gefängnisse mit schwarzen und braunen Männern füllen.

Ich kann diese Entwicklung aus eigener Erfahrung bestätigen. Als ich in die ACLU eintrat, glaubte niemand daran, dass sich das Racial Justice Project auf eine Reform des Strafrechts konzentrieren würde. Die ACLU hat sich an vielen entsprechenden Projekten beteiligt, aber niemand meinte, dass diese Arbeit einmal im Zentrum des Racial Justice Project stehen würde. Vielmehr ging man davon aus, dass sich dieses Projekt voll und ganz auf die Verteidigung der Affirmative Action stürzen würde. Kurz nach meinem Abschied von der ACLU wurde ich Mitglied im Vorstand des Lawyers’ Committee for Civil Rights (Anwaltkommission für Bürgerrechte) der San Francisco Bay Area. Obwohl die Organisation das Thema Rassengerechtigkeit zu ihren höchsten Prioritäten zählte, spielte die Reform des Strafjustizsystems innerhalb ihrer Arbeit für Rassengerechtigkeit keine große Rolle. Und damit stellte sie keine Ausnahme dar.

Im Januar 2008 informierte die Leadership Conference on Civil Rights – ein Dachverband, der aus der Führung von über 180 Bürgerrechtsorganisationen besteht – ihre Bündnispartner und Unterstützer in einem Brief über eine groß angelegte Initiative zur Dokumentierung des Abstimmungsverhaltens der Kongressmitglieder. Darin wurde erklärt, dass der demnächst erscheinende Bericht zeigen werde, »wie die einzelnen Mitglieder des Repräsentantenhauses und Senatoren 2007 bei den zentralsten Bürgerrechtsthemen wie Stimmrecht, Affirmative Action, Einwanderung, Nominierungen, Bildung, Hasskriminalität, Beschäftigung, Gesundheit, Wohnen und Armut abgestimmt haben«. Fragen zur Strafjustiz hatten es nicht auf die Liste geschafft. Dieselbe breite Koalition organisierte im Oktober 2007 eine große Konferenz unter dem Titel »Why We Can’t Wait: Reversing the Retreat on Civil Rights« (Warum wir nicht warten können: Die Abkehr von den Bürgerrechten abwenden), mit Foren zu den Themen Integration in den Schulen, Diskriminierung bei der Einstellung, Diskriminierung bei der Bewerbung um eine Sozialwohnung und bei der Kreditvergabe, wirtschaftliche Gerechtigkeit, Umweltgerechtigkeit, Behindertenrechte, Altersdiskriminierung und Rechte der Einwanderer. Keine einzige Veranstaltung widmete sich der Reform der Strafjustiz.

Die gewählten Anführer der Afroamerikaner haben ein umfassenderes Mandat als Bürgerrechtsgruppen, doch auch sie klammern häufig das Problem der Strafjustiz aus. So bat der Congressional Black Caucus (Fraktion der schwarzen Kongressabgeordneten) im Januar 2009 in einem Brief Hunderte Anführer von schwarzen Communitys und Organisationen um Informationen über ihre Hauptanliegen. In dem Schreiben waren dazu mehr als drei Dutzend Themenfelder aufgelistet, darunter Steuern, Verteidigung, Einwanderung, Landwirtschaft, Wohnungsbau, Banken, höhere Bildung, Multimedia, Verkehr und Infrastruktur, Frauen, Senioren/Rentner, Ernährung, religiöse Gruppen, Bürgerrechte, Volkszählung, materielle Sicherheit und zukünftige Führungspersönlichkeiten. Die Strafjustiz wurde nicht erwähnt. »Resozialisierung« war ein Stichpunkt, aber wem an einer Reform des Strafjustizsystems lag, dem blieb nichts anderes übrig, als sein Kreuzchen bei »Sonstige« zu machen.

Das heißt nicht, dass im Hinblick auf eine Strafjustizreform bislang nicht viel Entscheidendes geschehen wäre. Bürgerrechtsvertreter haben heftige Proteste gegen bestimmte Aspekte des neuen Kastensystems organisiert. Ein denkwürdiges Beispiel hierfür ist der erfolgreich vom Legal Defense Fund der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People, Nationale Organisation für die Förderung farbiger Menschen) angeführte Widerstand gegen eine verdeckte Ermittlung in einer Drogensache in Tulia, Texas, die einen rassistischen Hintergrund hatte. Bei der Drogenrazzia im Jahr 1999 wurden fast 15 Prozent der schwarzen Einwohner der Stadt inhaftiert – auf Grundlage lediglich der Falschaussage eines einzigen Informanten, den der Sheriff von Tulia angeheuert hatte. In jüngerer Zeit haben Bürgerrechtsgruppen im ganzen Land juristische Verfahren und lebhafte Kampagnen gegen den Wahlrechtsentzug für Straftäter durchgeführt und Widerstand gegen die diskriminierenden harten Strafgesetze und Vorschriften für den Besitz und Verkauf von Crack sowie gegen die »Null-Toleranz«-Politik geleistet, die zur Folge hat, dass schwarze und braune Jugendliche nicht selten von der Schule direkt ins Gefängnis wandern. Die ACLU hat kürzlich ein Programm zur Rassengerechtigkeit entwickelt, in dem Fragen der Strafjustiz an oberster Stelle stehen, und ein vielversprechendes Projekt zur Reform der Drogengesetze auf die Beine gestellt. Und dank des offensiven Engagements von ACLU, NAACP und anderer Bürgerrechtsorganisationen im ganzen Land wird Racial Profiling weitgehend verurteilt, selbst von Teilen der Polizei, die früher diese Praxis offen begrüßten.

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