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Die Entstehung von Jim Crow

Nach den anfänglichen Fortschritten für die Afroamerikaner in der Zeit der Reconstruction kam der Gegenschlag rasch und heftig. Die Weißen reagierten mit Panik und Entsetzen, als die Afroamerikaner politische Macht errangen und sich auf den langen Marsch zu gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Gleichheit machten. Bald schworen die konservativen Kräfte im Süden, die Reconstruction ungeschehen zu machen, und strebten nichts weniger als die »Abschaffung des Freedmen’s Bureau und aller politischen Einrichtungen an, die dazu gedacht sind, die Vorherrschaft der Neger zu sichern«.17 Ihre Kampagne zur »Erlösung« des Südens, die sogenannte Redemption, wurde durch den wieder auflebenden Ku-Klux-Klan unterstützt, der eine Terrorkampagne gegen die Bundesvertreter und Lokalpolitiker der Reconstruction startete. Dazu gehörten Bombenanschläge, Lynchmorde und gewaltsame Ausschreitungen.

Die Terrorkampagne erwies sich als äußerst erfolgreich. Das Ergebnis der »Erlösung« war, dass sich die Bundessoldaten aus dem Süden zurückzogen und die Afroamerikaner sowie alle, die sich für die Gleichberechtigung der Rassen eingesetzt hatten, ihrem Schicksal überließen. Die US-Regierung stellte ihre Bemühungen ein, die Bürgerrechtsgesetze des Bundes durchzusetzen, und die Finanzierung des Freedmen’s Bureau wurde so stark zurückgeschraubt, dass die Behörde ihre Aufgaben praktisch nicht mehr erfüllen konnte.

Nun wurden auch wieder Gesetze gegen Landstreicherei und andere zu Straftatbeständen hochgeschraubte Dinge wie »unbotmäßiges Verhalten« und »beleidigende Gesten« mit aller Härte gegen Schwarze angewandt. Die aggressive Verfolgung dieser Vergehen eröffnete einen riesigen Markt für die Leiharbeit von Strafgefangenen, die an den Höchstbietenden vermietet wurden. Douglas Blackmon beschreibt in Slavery by Another Name, wie Zehntausende Afroamerikaner in dieser Zeit willkürlich verhaftet wurden. Häufig wurden ihnen dabei Gerichtskosten und Bußgelder auferlegt, die sie abarbeiten mussten, um ihre Freilassung zu erreichen.18 Strafgefangene, die keine Möglichkeiten hatten, ihre »Schulden« zu begleichen, verpflichtete man zu Zwangsarbeit als Holzfäller, Ziegeleiarbeiter, im Eisenbahnbau, auf Farmen, Plantagen und in Dutzenden Unternehmen überall im Süden. Die Sterblichkeitsrate war erschreckend hoch, denn den privaten Unternehmen waren Gesundheit und Wohlergehen dieser Zwangsarbeiter gleichgültig. Die Sklavenhalter hatten wenigstens noch ein Interesse daran gehabt, die Gesundheit ihrer Sklaven zumindest so weit zu erhalten, dass sie zu harter Arbeit fähig waren. Jetzt aber waren Peitschenhiebe an der Tagesordnung, und wer verletzt oder erschöpft zusammenbrach, wurde nicht selten einfach dem Tod überlassen.

Die Strafgefangenen hatten zu dieser Zeit keinerlei rechtlichen Schutz und galten buchstäblich als Sklaven in Staatseigentum. Der 13. Zusatzartikel zur Verfassung der USA hatte bei der Abschaffung der Sklaverei eine entscheidende Ausnahme zugelassen: Versklavung blieb als Bestrafung für Verbrechen zulässig. Auf dem Höhepunkt der Redemption traf der Oberste Gerichtshof von Virginia im Fall Ruffin v. Commonwealth die Grundsatzentscheidung, dass Strafgefangene rechtlich nicht von Sklaven zu unterscheiden seien:

Während der Zeit im Strafvollzug befindet er sich im Zustand der strafrechtlichen Knechtschaft gegenüber dem Staat. Er hat, als Folge seines Verbrechens, nicht nur seine Freiheit verwirkt, sondern all seine persönlichen Rechte außer jenen, die ihm das Gesetz in seiner Menschlichkeit gewährt. Für diese Zeit ist er ein Sklave des Staates. Er ist im bürgerlichen Sinne tot; und sein Eigentum, sofern er welches hat, wird behandelt wie das eines toten Mannes.19

Der Bundesstaat Mississippi verzichtete schließlich darauf, Strafgefangene als Leiharbeiter zu vermieten, und richtete sein eigenes Arbeitslager ein, die Parchman Farm. Das war kein Einzelfall. In dem Jahrzehnt, das auf die Redemption folgte, stieg die Zahl der Strafgefangenen zehnmal stärker an als die der Allgemeinbevölkerung: »Die Gefängnisinsassen wurden immer jünger, es waren immer mehr Schwarze unter ihnen, und die Länge der Strafen stieg drastisch an.«20 Das war der erste Gefängnisboom des Landes, und genau wie heute waren überproportional viele Strafgefangene schwarz. Nach einer kurzen Periode des Fortschritts während der Reconstruction waren die Afroamerikaner wieder nahezu so schutzlos wie zuvor. Das Strafrecht wurde systematisch und strategisch genutzt, um sie wieder in ein System extremer Unterdrückung und Kontrolle zu zwingen. Eine Taktik, die sich über Generationen als erfolgreich erweisen sollte. Die Leiharbeit von Strafgefangenen verlor schließlich an Bedeutung, dafür tauchten neue systematische Formen von Ausbeutung und Unterdrückung auf. »Das offensichtliche Ende … der Leiharbeit von Gefangenen schien der Vorbote einer besseren Zeit. Aber die harte Realität im Süden war, dass sich die nach dem Bürgerkrieg entstandene neue Sklaverei weiterentwickelte – nicht dass sie verschwand«, schreibt Blackmon.21

Die Redemption markierte einen Wendepunkt in der Suche der Weißen nach einem neuen Verhältnis zwischen den Rassen, das ihre wirtschaftlichen, politischen und sozialen Vorteile auch in einer Welt ohne Sklaverei wahrte. Allerdings war man sich nicht einig, wie dieses neue Rassenverhältnis aussehen sollte. Die Protagonisten der Redemption, die gegen die Reconstruction gekämpft hatten, neigten dazu, die Praktiken der Rassentrennung so zu erhalten, wie sie bereits existierten, versuchten aber nicht, das System auszudehnen oder zu generalisieren.

Schließlich schälten sich drei alternative Denkrichtungen über die Rassenbeziehungen heraus, die miteinander um die Vorherrschaft in der Region konkurrierten: Liberalismus, Konservativismus und Radikalismus. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung des extremen Rassismus, den einige Vertreter der Redemption verfolgten.22 Die liberale Denkrichtung stellte das Stigma der Segregation und die Heuchelei einer Regierung in den Vordergrund, die Freiheit und Gleichheit huldigte, sie jedoch Menschen einer bestimmten Rasse verweigerte. Diese Schule, im Norden entstanden, fasste im Süden weder unter den Weißen noch den Schwarzen richtig Fuß.

Die konservative Denkrichtung hingegen fand weithin Zustimmung und wurde in verschiedenen Bereichen über eine beträchtliche Zeit umgesetzt. Konservative warfen den Liberalen vor, die Schwarzen über ihre Möglichkeiten zu fördern und sie damit in Positionen zu bringen, die sie nicht ausfüllen könnten, was ihnen letztlich nur Nachteile einbringe. Sie warnten die Schwarzen, dass sich einige Verfechter der Redemption nicht damit zufrieden geben würden, die Reconstruction ungeschehen zu machen, sondern bereit seien, einen Krieg gegen die Schwarzen im gesamten Süden zu führen. Damit hatten die Konservativen sogar bei einigen schwarzen Wählern Erfolg: Sie erklärten ihnen, sie hätten nicht nur etwas zu gewinnen, sondern auch zu verlieren, und die Fokussierung der Liberalen auf die politische und wirtschaftliche Gleichheit gefährde nur, was die Schwarzen bislang erreicht hätten.

Für viele Afroamerikaner war die radikale Philosophie am vielversprechendsten. Sie beruhte auf einer scharfen Kritik an Großunternehmen, insbesondere den Eisenbahngesellschaften, sowie den reichen Eliten im Norden und Süden. Die Radikalen des späten 19. Jahrhunderts, die dann die Populist Party oder People’s Party, wie sie offiziell hieß, bildeten, vertraten die Ansicht, die privilegierten Klassen hätten sich verschworen, um die armen Weißen und Schwarzen politisch und ökonomisch zu unterdrücken. Viele afroamerikanische Wähler überzeugten die Argumente der Populisten mehr als die der Liberalen, die sie als paternalistisch empfanden. Die Populisten sprachen von einem »Egalitarismus in Mangel und Armut, der Verwandschaft in einem gemeinsamen Missstand unter einem gemeinsamen Unterdrücker«.23 Tom Watson, ein prominenter Politiker der Populisten, argumentierte in einer Rede, in der er zu einem Zusammenschluss von schwarzen und weißen Farmern aufforderte: »Man bringt euch auseinander, damit man euch getrennt um euren Verdienst bringen kann. Sie säen Hass zwischen euch, weil auf diesem Hass der finanzielle Despotismus errichtet wird, der euch alle versklavt. Ihr werdet getäuscht und geblendet, damit ihr nicht seht, wie dieser Rassenantagonismus ein finanzielles System verewigt, das euch alle zu Bettlern macht.«24

Um zu zeigen, dass sie wirklich eine multirassische Arbeiterbewegung gegen die weißen Eliten auf die Beine stellen wollten, bemühten sich die Populisten um die Integration der Rassen, für sie ein Symbol des Zusammenschlusses auf Grundlage der gemeinsamen Klassenzugehörigkeit. Bei den Afroamerikanern im gesamten Süden weckte dies große Hoffnungen, und so engagierten sie sich begeistert als Partner im Kampf für soziale Gerechtigkeit. Wie Woodward schreibt: »Man kann mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass während der kurzen Zeit in den 1890er Jahren, in der die Bewegung der Populisten blühte, die Neger und die Weißen eine größere Annäherung und Übereinstimmung in der politischen Zielsetzung entwickelten, als es sie jemals zuvor oder danach im Süden gegeben hatte.«25

Die von den Populisten anvisierte Allianz stellte eine große Herausforderung dar, waren doch gerade bei den Weißen der unteren Einkommensschicht die Rassenvorurteile besonders ausgeprägt. Trotzdem erzielte die populistische Bewegung, beflügelt durch die Unzufriedenheit, die die schwere Krise in der Landwirtschaft in den 1880er und 1890er Jahren hervorrief, anfangs beachtliche Erfolge im Süden. Die Populisten griffen schonungslos die als Partei der Privilegierten geltenden Konservativen an und erzielten in der gesamten Region beachtliche Wahlerfolge. Aufgeschreckt durch den Erfolg der Populisten und die offensichtliche Stärke einer Allianz zwischen armen Weißen und Afroamerikanern, appellierten die Konservativen wieder an die weiße Überlegenheit und griffen zu den altbewährten Taktiken der Redemption: Betrug, Einschüchterung, Bestechung und Terror.

Mit Segregationsgesetzen versuchte man ganz bewusst einen Keil zwischen die armen Weißen und die Afroamerikaner zu treiben. Diese Diskriminierung legte es darauf an, bei den Weißen der unteren Klassen ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Schwarzen zu wecken, was es sehr viel unwahrscheinlicher machte, dass sie sich mit ihnen politisch gegen die weiße Elite verbündeten. Das war wieder eine »Racial Bribe«, eine bereits bewährte Taktik. »Solange die armen Weißen ihren Hass und ihre Enttäuschung auf die schwarzen Konkurrenten richteten, blieb den Pflanzern eine gegen sie gerichtete Klassenfeindschaft erspart«, schrieb William Julius Wilson.26 Um die wohlbegründeten Befürchtungen der armen und ungebildeten Weißen zu zerstreuen, dass auch sie, nicht anders als die Schwarzen, ihr Wahlrecht verlieren könnten, führten die Führer der Bewegung vor der Rechtsenteignung der Schwarzen zunächst in allen Bundesstaaten eine aggressive Kampagne durch, in der sie die Überlegenheit der weißen Rasse zum Thema machten.

Am Ende gaben die Populisten dem Druck nach und ließen ihre früheren Verbündeten im Stich. »Auf dem Höhepunkt der Bewegung [der Populisten] hatten die beiden Rassen einander und ihre Gegner mit ihrer Eintracht und guten Zusammenarbeit überrascht«, bemerkte Woodward.27 Aber als klar wurde, dass die Konservativen vor nichts zurückschreckten, um dieses Bündnis zu zerstören, löste sich die rassenübergreifende Partnerschaft auf, und die Führer der Populisten reihten sich bei den Konservativen ein. Selbst Tom Watson, einer der stärksten Befürworter einer Allianz der Farmer gleich welcher Hautfarbe, kam zu dem Schluss, dass die Prinzipien der Populisten vom Süden nur angenommen würden, wenn die Schwarzen aus der Politik ausgeschlossen wurden.

Die Krise der Landwirtschaft sowie eine Reihe gescheiterter Reformen und gebrochener politischer Versprechen hatten zu einem starken Anstieg der sozialen Spannungen geführt. Die herrschenden Weißen sahen nun, dass es in ihrem politischen und wirtschaftlichen Interesse lag, die Schwarzen zu Sündenböcken zu erklären. So wurde die »Erlaubnis zum Hass« gegeben. Ihr schlossen sich auch Kräfte an, die sich zuvor einer solchen Politik verweigert hatten, darunter die Liberalen aus dem Norden, die sich mit dem Süden aussöhnen wollten, die Konservativen aus dem Süden, die einst den Schwarzen versprochen hatten, sie vor rassistischen Extremisten zu schützen, und die Populisten, die ihre dunkelhäutigen Verbündeten im Stich ließen, als die Partnerschaft mit ihnen unter Beschuss geriet.28

Die Geschichte schien sich zu wiederholen. So wie die weiße Elite nach Bacons Rebellion erfolgreich einen Keil zwischen die armen Weißen und Schwarzen getrieben hatte, indem sie die Institution der schwarzen Sklaverei erfand, tauchte beinahe zwei Jahrhunderte später ein neues rassisches Kastensystem auf, teilweise aufgrund der Bemühungen der weißen Eliten, eine multirassische Allianz der Armen zu verhindern. Um 1900 hatten sämtliche Staaten des Südens Gesetze erlassen, die die Schwarzen entrechteten und sie in praktisch allen Bereichen des Lebens diskriminierten. Die rassistische Ausgrenzung erfasste Schulen, Kirchen, das Wohnungswesen, den Arbeitsplatz, Toiletten, Hotels, Restaurants, Krankenhäuser, Waisenhäuser, Gefängnisse, Beerdigungsinstitute, Leichenhallen und Friedhöfe. Politiker wetteiferten miteinander um immer strengere Diskriminierungsmaßnahmen und erließen manchmal geradezu lächerliche Gesetze (beispielsweise ein Verbot für Schwarze und Weiße, miteinander Schach zu spielen). Über das gesamte politische Spektrum hinweg unterstützten die Weißen öffentliche Symbole, die ständig an die Unterjochung der Schwarzen erinnerten. An den Nöten der armen Weißen änderte sich unterdessen nichts. Die »Racial Bribe« zahlte sich für sie allenfalls psychologisch aus.

Die neue Rassenordnung, die unter dem Namen Jim Crow bekannt wurde – der Ausdruck stammt von der Karikatur eines Schwarzen aus einer Minstrel Show – wurde als »abschließende Lösung«, »Rückkehr zur Vernunft« oder als »das dauerhafte System« betrachtet.29 Natürlich hatte auch das vorherige System auf Rasse gegründeter Gesellschaftskontrolle – die Sklaverei – bei seinen Unterstützern als unabänderlich, vernünftig und ewig gegolten. So wie das vorherige System schien auch Jim Crow »natürlich«, und man konnte sich kaum noch daran erinnern, dass Alternativen nicht nur schon einmal möglich gewesen, sondern beinahe sogar umgesetzt worden waren.

Das Ende von Jim Crow

Akademiker streiten sich seit langem darüber, wann die Reconstruction begann und endete, auch darüber, wann Jim Crow endete und die Bürgerrechtsbewegung oder »zweite Reconstruction« begann. Für die Ära der Reconstruction gibt man in der Regel den Zeitraum von 1863 bis 1877 an, in dem die Truppen der Nordstaaten den Süden besetzt hielten. Viel weniger klar ist, wann die Ära von Jim Crow begann und wann sie endete.

Die Öffentlichkeit verknüpft das Ende von Jim Crow gewöhnlich mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im Fall Brown v. Board of Education, die zum Verbot der Rassentrennung an den Schulen führte, obwohl das System schon Jahre vorher Schwächen zeigte. Um das Jahr 1945 kamen immer mehr Weiße im Norden zu der Überzeugung, dass sich das Jim-Crow-System dringend ändern müsse, wenn nicht gar ganz abgeschafft gehöre. Dieser Konsens hatte eine ganze Reihe von Gründen, darunter die gewachsene politische Macht der Schwarzen infolge einer starken Abwanderung nach Norden sowie die steigenden Mitgliedszahlen und den zunehmenden Einfluss des NAACP, insbesondere seine äußerst erfolgreiche Kampagne, vor Gerichten gegen die Jim-Crow-Gesetze zu Felde zu ziehen. Viele Forscher hielten jedoch den Einfluss des Zweiten Weltkriegs für viel bedeutender. Der offenbare Widerspruch zwischen dem Widerstand des Landes gegen die Verbrechen des Dritten Reichs an den europäischen Juden mit der andauernden Existenz eines rassischen Kastensystems in den Vereinigten Staaten war peinlich und beschädigte den Anspruch des Landes, Führer der »freien Welt« zu sein. Zudem befürchtete man, die Schwarzen könnten angesichts von Russlands Einsatz für rassische und wirtschaftliche Gleichheit empfänglich für den Einfluss der Kommunisten sein, wenn man nicht für größere Gleichheit sorgte. Gunnar Myrdal hielt 1944 in seinem einflussreichen Buch An American Dilemma ein leidenschaft liches Plädoyer für die Integration der Schwarzen. Der inhärente Wider spruch zwischen der »American Creed«, dem Glaubensgrundsatz der USA an Freiheit und Gleichheit, und der Behandlung der Afroamerikaner, so Myrdal, sei nicht nur unmoralisch und zutiefst ungerecht, sondern schade auch den wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen des Landes.30

Das schien auch der Oberste Gerichtshof so zu sehen. Im Jahr 1944 beendete er mit seinem Urteil im Fall Smith v. Allwright die Praxis, dass nur Weiße an den Vorwahlen der Parteien, in denen die Kandidaten für die eigentliche Wahl bestimmt wurden, teilnehmen durften; und im Jahr 1946 entschied dasselbe Gericht, dass die Gesetze der Bundesstaaten, die Rassentrennung im Fernbusverkehr vorschrieben, verfassungswidrig seien. Zwei Jahre später erklärte das Gericht alle Immobiliengeschäfte für nichtig, die Käufer wegen ihrer Hautfarbe diskriminierten, und 1949 verkündete es, dass das allein Schwarzen vorbehaltene Jurastudium in Texas grundsätzlich nicht dem der Weißen entspreche, sondern in jeder Hinsicht schlechter sei. 1950 verfügte es im Fall McLaurin v. Oklahoma, dass der Bundesstaat die Rassentrennung im Jurastudium aufheben müsse. Der Oberste Gerichtshof hatte also schon vor dem Brown-Urteil wichtige Schritte zur Aufhebung der Rassentrennung unternommen.

Trotzdem war der Fall Brown v. Board of Education von ganz besonderer Bedeutung. Er nahm dem Süden die Möglichkeit, in Rassenfragen seine eigene »Hausordnung« aufzustellen. Auch frühere Entscheidungen hatten bereits an der Devise »getrennt, aber gleich« gekratzt, doch immer wieder war es Jim Crow gelungen, sich an die jeweils neue Rechtslage anzupassen, und die meisten Menschen in den Südstaaten waren weiterhin zuversichtlich, dass die Institution als solche überleben würde. Die Brown-Entscheidung drohte nun nicht nur, die Rassentrennung in öffentlichen Schulen ganz zu Fall zu bringen, sondern mit ihr zugleich das gesamte System legalisierter Rassentrennung im Süden. Nach mehr als fünfzig Jahren der Duldung und Nichteinmischung in die Rassenangelegenheiten des Südens leitete dieses Grundsatzurteil einen neuen Kurs ein.

Der weiße Süden war in hellem Aufruhr, nicht unähnlich der Reaktion auf die Befreiung der Sklaven und die Reconstruction nach dem Bürgerkrieg. Wieder einmal wurde dem Süden die Rassengleichheit von der Bundesregierung aufgezwungen, und 1956 entlud sich die weiße Gegnerschaft in einer hässlichen Gegenreaktion. Sam Ervin, Senator von North Carolina, entwarf ein rassistisches Protestschreiben, das sogenannte »Southern Manifesto«, mit dem Schwur, dafür zu kämpfen, Jim Crow mit allen legalen Mitteln zu erhalten. Ervin konnte 101 von 128 Senatoren und Mitgliedern des Repräsentantenhauses der elf ehemaligen konföderierten Bundesstaaten als Unterstützer gewinnen.

Eine neue Welle weißen Terrors schwappte über die Gegner von Jim Crow. Überall im Süden bildeten sich sogenannte White Citizens’ Councils, deren Mitglieder zum größten Teil der Mittel- und Oberschicht aus weißen Geschäftsleuten und dem Klerus entstammten. In den Jahren nach der Entscheidung im Fall Brown v. Board verabschiedeten Parlamente in fünf Südstaaten an die fünfzig neue Gesetze im Geist von Jim Crow, eine Neuauflage der Black Codes, die einst als Reaktion auf die ersten Schritte der Reconstruction formuliert worden waren. Auf der Straße wurde der Widerstand auch gewaltsam. Der Ku-Klux-Klan meldete sich als mächtige Terrororganisation zurück. Menschen wurden kastriert und ermordet, Bomben in Häusern und Kirchen von Schwarzen gelegt. Führer des NAACP wurden attackiert, niedergeknüp pelt, erschossen. Kaum hatte die Aufhebung der Rassentrennung begonnen, kam sie im ganzen Süden schon wieder zum Stillstand. Im Jahr 1958 war die Rassentrennung in 13 Schulbezirken aufgehoben worden; 1960 war diese Zahl auf lediglich 17 gestiegen.31

Ohne eine breite Graswurzelbewegung wäre Jim Crow vielleicht heute noch quicklebendig. Doch in den 1950er Jahren entstand mit dem Rückenwind der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs und eines Wandels im nationalen und internationalen politischen Klima eine Bürgerrechtsbewegung. Unter großem persönlichem Einsatz organisierten Bürgerrechtsaktivisten und progressive Geistliche Boykotte, Protestmärsche und Sit-ins gegen das System von Jim Crow. Sie trotzten Wasserwerfern, Polizeihunden, Bombenanschlägen und den Prügeln des weißen Mobs und der Polizei. Wieder einmal mussten im Süden Soldaten anrücken, um die Schwarzen zu schützen, die versuchten, ihre Bürgerrechte auszuüben. Im Norden löste die gewalttätige Reaktion der weißen Rassisten Entsetzen aus.

Der dramatische Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung ereignete sich 1963. Aus dem friedlichen Kampf einer kleinen Gruppe schwarzer Studenten war die größte Massenbewegung für eine Reform der Rassenbeziehungen und der Bürgerrechte des 20. Jahrhunderts erwachsen. Zwischen Herbst 1961 und Frühjahr 1963 waren 20.000 Männer, Frauen und Kinder verhaftet worden. Allein im Jahr 1963 landeten weitere 15.000 im Gefängnis, und es kam zu 1000 Protestkundgebungen in mehr als 100 Städten der Region.32

Am 12. Juni 1963 kündigte Präsident Kennedy an, dass er dem Kongress ein starkes Bürgerrechtsgesetz vorlegen werde. Mit dieser Erklärung wurde er über Nacht zum weithin anerkannten Verbündeten der Bewegung. Nach der Ermordung von Kennedy übernahm Präsident Johnson das Ziel der »vollen Gleichstellung von mehr als zwanzig Millionen Negern in das amerikanische Leben« und sorgte für die Annahme entsprechender umfassender Gesetze. Der Civil Rights Act von 1964 beendete formell das Diskriminierungssystem von Jim Crow in öffentlichen Einrichtungen, am Arbeitsplatz, bei Wahlen, in Schulen und Universitäten sowie sämtlichen mit Bundesmitteln finanzierten Einrichtungen. Von noch größerer Bedeutung war womöglich der Voting Rights Act von 1965, da er zahlreiche Schranken für illegal erklärte, die die Afroamerikaner an einer wirksamen politischen Beteiligung hinderten, und eine Überprüfung sämtlicher zukünftiger Wahlrechtsänderungen durch den Bund auf Wahlrechtsdiskriminierung vorschrieb.

Fünf Jahre später waren die Auswirkungen der Bürgerrechtsrevolution schon deutlich zu spüren. Zwischen 1964 und 1969 nahm die Zahl der Afroamerikaner, die sich als Wähler registrieren ließen, sprunghaft zu. In Alabama stieg die Rate von 19,3 Prozent auf 61,3 Prozent, in Georgia von 27,4 Prozent auf 60,4 Prozent, in Louisiana von 31,6 Prozent auf 60,8 Prozent und in Mississippi von 6,7 Prozent auf 66,5 Prozent.33 Plötzlich konnten Schwarze in Warenhäusern einkaufen, in Restaurants gehen, Wasserspender benutzen und Vergnügungsparks besuchen, die ihnen einst verwehrt waren. Gesetze, die sexuelle Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe verboten, wurden als verfassungswidrig erklärt, und die Zahl der Eheschließungen zwischen Weißen und Schwarzen stieg.

Auf dem politischen und gesellschaftlichen Feld waren also große Fortschritte zu verzeichnen. Doch die Führer der Bürgerrechtsbewegung fürchteten zunehmend, dass die große Mehrheit der Schwarzen ohne einschneidende Wirtschaftsreformen weiterhin in Armut leben würde. Folglich wandten sie die Aufmerksamkeit mehr und mehr den wirtschaftlichen Problemen zu. Die Wechselwirkung zwischen sozioökonomischer Ungleichheit und Rassismus, so argumentierten sie, führe zu lähmender Armut und damit zusammenhängenden sozialen Schwierigkeiten. »Unter den Schwarzen wuchs die Unzufriedenheit mit ihrer Lage – nicht nur, weil sie eine unterdrückte ethnische Minderheit in einer weißen Gesellschaft, sondern auch, weil sie arm in einer wohlhabenden Gesellschaft waren.«34 Mit Boykotten, Streiks und Demonstrationen versuchte man auf die Diskriminierung bei der Vergabe von Arbeitsplätzen und die insgesamt schlechten wirtschaftlichen Chancen der Schwarzen aufmerksam zu machen.

Die größte Demonstration für mehr wirtschaftliche Gerechtigkeit war sicherlich der Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit Ende August 1963. Die Welle des Protests veranlasste Präsident Kennedy, genauer auf Armut und schwarze Arbeitslosigkeit zu schauen. Im Sommer 1963 ließ er eine Reihe von Studien zu diesen Themen erstellen und erklärte die Beseitigung der Armut zu einem der Hauptziele des Jahres 1964.35 Nach Kennedys Ermordung übernahm Präsident Johnson mit großem Engagement diese Verpflichtung. In seiner Rede zur Lage der Nation im Januar 1964 rief er einen »bedingungslosen Krieg gegen die Armut« aus. Einige Wochen später schlug er dem Kongress die Economic Opportunities Bill vor.

Diese Schwerpunktverlagerung näherte die Ziele der Bürgerrechtsbewegung jenen der weißen Unterschicht an, die ebenfalls ökonomische Reformen forderte. Damit begann die Entwicklung der Bürgerrechtsbewegung zu einer »Bewegung der Armen«, die versprach, nicht nur gegen die Armut der Schwarzen, sondern auch gegen die der Weißen zu kämpfen – was das Gespenst einer Solidarisierung der Benachteiligten über alle Rassengrenzen hinweg heraufbeschwor. Martin Luther King und andere Führer der Bürgerrechtsbewegung erklärten die Beseitigung von Armut zum nächsten großen Ziel einer »Menschenrechtsbewegung«. Eine wirkliche Gleichberechtigung der Schwarzen erforderte nach King einen radikalen Umbau der Gesellschaft, der die Bedürfnisse der schwarzen und weißen Armen im ganzen Land berücksichtigte. Kurz vor seiner Ermordung arbeitete er noch an Plänen für eine Großdemonstration in Washington, zu der sich in einer alle Rassen übergreifenden Allianz Schwarze vom Land und aus den Gettos, Weiße aus den Appalachen, Amerikaner mexikanischer Herkunft und Puerto Ricaner sowie Ureinwohner zusammenschließen sollten, um Arbeit und Einkommen zu fordern – kurz, das Recht zu leben. In einer Rede im Jahr 1968 erkannte King an, dass das Bürgerrechtsgesetz von 1964 zu Fortschritten geführt habe, betonte aber, dass es weitere Herausforderungen gebe, die noch mehr Entschlossenheit verlangten, und sich die gesamte Nation wandeln müsse, wenn ökonomische Gerechtigkeit für Arme jeglicher Hautfarbe mehr als bloß ein Traum sein solle. »King verfolgte nicht weniger als eine radikale Umwandlung der Bürgerrechtsbewegung in einen Kreuzzug des Volkes zur Umverteilung der ökonomischen und politischen Macht. Amerikas einziger Bürgerrechtsführer konzentrierte sich nun auf die Klassenfragen und plante, mit einer Armee der Armen nach Washington zu marschieren, um die Fundamente der Macht zu erschüttern und die Regierung zu zwingen, auf die Bedürfnisse der vernachlässigten Unterschicht einzugehen.«36

Die Bürgerrechtsbewegung und der Start der Poor People’s Campaign hatten die tiefen Gräben in der amerikanischen Gesellschaft offensichtlich gemacht. Doch wieder einmal standen die Schwarzen nur einen »kurzen Augenblick in der Sonne«. Konservative Weiße begannen bald, nach einer neuen, an die Zeit angepassten Rassenordnung zu suchen. Klar war nur, dass diese Ordnung formal rassenneutral sein musste – die Rassendiskriminierung durfte weder explizit noch allzu durchsichtig sein. Da der ausdrückliche Bezug auf die Hautfarbe verboten war, mussten die Vertreter einer Rassenhierarchie nach Wegen suchen, die den neuen Spielregeln der amerikanischen Demokratie entsprachen.

Die Geschichte zeigt, dass die Grundlagen des neuen Kontrollsystems lange vor dem Ende der Bürgerrechtsbewegung geschaffen worden waren. Die neue rassenneutrale Sprache appellierte an die alten rassistischen Gefühle und wurde nun von einer politischen Bewegung aufgegriffen, der es schließlich gelang, die große Mehrheit der Schwarzen an ihren alten Platz zu verweisen. Die Verfechter einer Rassenhierarchie fanden heraus, wie sie ein neues rassisches Kastensystem etablieren konnten, ohne das Gesetz oder die neuen Grenzen des akzeptierten politischen Diskurses zu verletzen: Indem sie statt »Rassentrennung für immer« die neue Parole »Recht und Ordnung« ausriefen.

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