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Ich erwachte und wusste sofort, wo ich mich befand. Jeden Morgen, vom ersten Tag an, als ich neben Esther aufgewacht war, hatte ich Schwierigkeiten gehabt, mich zu orientieren. Ob es in Betten gewesen war, auf der Autobahn oder noch gestern Morgen, als wir im Wald kampiert hatten – immer hatte ich mich einige Momente lang gefragt, wo ich eigentlich war und warum. Meine Hand wanderte zu Esther, die neben mir immer noch schlief. Ich berührte ihr Haar, vorsichtig bedacht, sie nicht zu wecken. Bei ihr war es anders gewesen. Die Orte hatte ich nicht erkannt – wer da neben mir lag, das wusste ich immer. Es gab keinen Zweifel, dass ich dort war, wo ich hingehörte. Neben ihr. War es mit diesem Raum in diesem Haus auf diesem Gehöft ebenso? War ich angekommen – wo auch immer? Es fühlte sich so an.

Ich schälte mich vorsichtig aus den Schlafsäcken. Jede Bewegung schmerzte. Die gestrige Arbeit hatte mir einen hübschen Muskelkater eingetragen – und der würde, aller Erfahrung nach, morgen noch schlimmer sein. Ich seufzte. Was sollte es. Je schneller ich mich an harte, körperliche Arbeit gewöhnte, desto besser.

Ich schaute auf Esthers Armbanduhr. Halb sieben. Ich angelte nach meiner Jeans und meiner Feldjacke, zog mich an, suchte kurz meine Schuhe und verließ dann leise, darauf bedacht, Esther und Simone nicht zu wecken, den Raum und die Wohnung, ging die Treppe hinunter und trat auf den Hof.

Für einen Moment war es völlig still und ich hatte das irritierende Gefühl, zurückgekommen zu sein an einen Ort, der nur für mich existierte – und schon vor langer Zeit existiert hatte. Der Hof, das Haus, der nahe Wald, diese ganze, leere Welt – als wäre ich vor zehn oder mehr Jahren schon einmal hier gewesen und nun zurückgekehrt, ohne mich zu erinnern, wo ich zwischendurch gewesen war. Dann gewöhnte ich mich an die Stille und merkte, dass sie keinesfalls still war. Vom Wald her kam Vogelgezwitscher, in der Wiese raschelte irgendein kleines Tier, es ging etwas Wind, die Bäume rauschten – was fehlte, waren die typischen, menschlichen Geräusche, an die ich gewöhnt war, und die ich sonst nie bemerkt hatte: Ein Auto in der Ferne, ein Flugzeug, eine Stimme. Die anderen waren noch nicht wach – und das machte mich womöglich zum einzigen Menschen bei Bewusstsein in Hunderten von Kilometern im Umkreis. In Deutschland? In Europa? Auf der ganzen Welt? Der Gedanke war zu groß, um ihn zu fassen. Ich ließ ihn.

Während ich solcherart grübelnd da stand, kam Stefan durch das Tor, sah mich, und kam grinsend auf mich zu. So viel zum Thema einziger Mensch bei Bewusstsein. Er hatte ein Handtuch locker um seinen nackten Oberkörper gehängt, sein Haar war nass.

„Morgen. Sind die anderen auch schon wach?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Wo warst du?“

„Schwimmen, im See. Ganz schön kalt. Und voller mistiger Unterströmungen, das war mir gar nicht klar.“ Er lachte. „Ich stehe gerne früh auf. Normalerweise jogge ich dann zum Schwimmbad. Na ja.“ Er schüttelte versonnen den Kopf.

„Es ist komisch, oder?“

Stefan zog die Schultern hoch. „Komisch? Keine Ahnung. Ich denke wirklich nicht darüber nach, sonst würde ich wahrscheinlich durchdrehen. Es ist, wie es ist. Ich versuche nicht, es zu verstehen.“

„Hm.“

„Du?“

„Was, ich?“

„Machst du dir Gedanken darüber, Daniel?“

Ich wusste für einen Moment keine Antwort. Wieder kam es mir zu groß vor. Ich versuchte, es in Worte zu fassen:

„Ich weiß nicht. Ich würde gerne, glaube ich. Aber ich kann nicht. Egal, wie ich mich der Sache nähere – sie ist zu groß, um sie zu begreifen. Alle Menschen … weg, die ganze Welt … leer? Das … da gibt es einfach keinen Punkt, an dem ich anfangen kann, oder?“

„Doch, den gibt es schon“, meinte er nachdenklich. „Du musst nur klein anfangen. Pragmatisch, so wie Jan. Die naheliegenden Fragen. Bleiben wir hier? Reisen wir weiter? Alles zu Fuß oder zu Pferd? Und so weiter.“

„Ich habe bestimmt gestern nicht diese ganze Kuhvernichtungsscheiße mitgemacht, um heute weiter zu ziehen. Dafür sucht euch ’nen anderen Scout.“ Ich lachte, gar nicht bitter, wie ich erstaunt feststellte. Es stimmte – ich würde hier bleiben. Ich war zu Hause. Und ich wäre nicht alleine. Esther würde bei mir bleiben. Das reichte.

Stefan nickte. „Keine Sorge, ich bin ganz deiner Meinung. Das hier ist ein guter Platz. Und wir sollten zusammenbleiben. Wir müssen uns nur überlegen, wie wir wohnen wollen.“

„Was meinst du?“

„Na ja, das Haus reicht nicht für alle, oder? Es geht zur Not, aber drei Wohnungen für neunzehn Leute, das ist eng. Und vielleicht kommen ja noch welche dazu. Wir werden mehr Raum brauchen.“

„Wir könnten die Scheune ausbauen.“

„Kaum. Die werden wir als Scheune brauchen. Wir werden Bauern sein, oder?“

Er hatte Recht. Die Berufswahl war sehr eingeschränkt, neuerdings. Wir würden alle hauptberufliche Bauern, Jäger und Sammler sein, mit dem einen oder anderen Nebenberuf für Leute wie Esther, die andere, nützliche Kenntnisse hatten. Dummerweise würden wir unsere Hauptberufe alle neu lernen müssen. Meine Gedanken kehrten zurück zur Wohnsituation.

„Denkst du an Zelte?“

Er wiegte nachdenklich den Kopf. „Vielleicht. Aber nicht die kleinen Dinger, in denen wir jetzt schlafen, die sind gut für ein paar Nächte, aber nicht auf Dauer. Nicht im Winter. Aber große, feste Zelte … also mir würde das gefallen. Ich dachte aber eher an Blockhäuser.“

„Blockhäuser? Hier? Wo denn? Und wer soll die bauen?“

Stefan grinste. „Ich. Zimmermann und Architekt, schon vergessen? Ich habe in meiner Lehre einige von den Dingern gebaut und mein Diplom darüber geschrieben. Da ging es allerdings mehr um Niedrigenergiebau. Aber ich habe schon mal darüber nachgedacht – ganz einfache Hütten, zwei oder drei Räume, eine Feuerstelle – das zu planen ist nicht schwer, vor allem, wenn Lars mitmacht. Der versteht sehr viel von Statik. Wir haben schon darüber gesprochen.“ Er klopfte an die Steinmauer, die den Hof umgab. „Die Mauer kann beim Stabilisieren helfen. Und wenn alle mitmachen, können wir da schnell einiges schaffen.“

„Und das Material? Aus dem Wald, oder wie?“

Er schaute nachdenklich zum Wald hinüber. „Später, ja. Wie man fällt und zuschneidet, kann ich euch zeigen. Man kann ein ganzes Haus ohne einen einzigen Nagel oder Winkel bauen.“ Er lachte über mein entsetztes Gesicht. „Aber erstmal werden wir auf Holzhandel und Baumärkte angewiesen sein. Bauholz muss lagern. Aber wir werden schon bald anfangen müssen, es einzulagern. Ich habe mich gestern und vorhin, auf dem Weg zum Fluss, schon mal umgesehen. Kiefern und Buchen gibt es hier genug. Buchen sind besonders gut.“

„Aber selber bauen? Für uns alle? Das dauert ewig.“

„Nein, nein, lass dich überraschen. Eine römische Legion war angeblich in der Lage, an einem Abend ein komplettes Feldlager zu errichten. Da werden wir ja wohl ein paar Hütten zu Stande bringen.“

Ich blieb skeptisch – aber andererseits war mir klar, dass er Recht hatte. Im Haus war jetzt schon nicht genug Platz. Wenn wir zusammen hier bleiben wollten, dann würden wir dazu bauen müssen. Und zusammenbleiben bedeutete nicht mehr, in wenigen Kilometern Entfernung zu wohnen, dass man sich schnell mal mit dem Auto besuchen konnte. Zusammen hieß wirklich: Zusammen. Einerseits gefiel mir der Gedanke von Gemeinschaft und Geborgenheit. Andererseits beunruhigte er mich. Ich war lieber allein, ich war kein Gemeinschaftsmensch. Ja, ich wollte mit Esther zusammen sein – aber am liebsten nur mit ihr. Der Gedanke, auf engstem Raum mit mindestens siebzehn weiteren Menschen zu leben, so ehrlich und gerne ich sie mochte, war nicht gerade verlockend. Stefan bemerkte meine Zweifel nicht.

„Stell dir das vor – eine richtige kleine Hofschaft, mit fünf, sechs oder mehr Hütten, je nachdem, wie viele Einzelwohner, Paare, Familien oder Gruppen wir haben. Wir alle, eine Gemeinschaft, ein Clan, wie früher, bevor es große Städte gab. Irgendwie ist das doch auch eine Chance, neu anzufangen.“

„Ja. Super.“

Er sah mich etwas irritiert an, aber bevor wir das Thema vertiefen konnten, kam Erkan aus dem Haus.

„Ah, ihr seid auch schon wach. Wie ist es mit Frühstück?“

„Kaffee schwarz, zwei Croissants und etwas Erdbeermarmelade für mich, danke Schatz“, sagte Stefan. Erkan sah ihn irritiert an.

„Hä?“

„Ich nehme schwarzen Tee“, sagte ich. „Zwei Brötchen. Nutella und Geflügelwurst.“

„Ihr seid blöd. Also, nochmal: Wisst ihr, ob die anderen auch schon wach sind? Sollen wir gemeinsam essen? Wann? Würdet ihr euch an den Vorbereitungen beteiligen?“

Ich versuchte eine konstruktive Antwort.

„Esther und Simone schlafen noch, glaube ich. Machst du das Frühstück? Wie können wir dir helfen?“

Zwei Stunden später hatten wir gegessen und saßen alle zusammen in dem großen Raum im Erdgeschoss, den wir bald nur noch den „Versammlungsraum“ oder „Gemeinschaftsraum“ nennen würden. Wir hatten aus den Vorräten des Hofes gefrühstückt, fast wie früher: Mit Tee und Kaffee, Dauerwurst, Käse und Marmelade, nur an Brötchen oder frischem Brot hatte es gefehlt. Wir hatten Knäckebrot genommen oder ganz darauf verzichtet. Dann hatte Jan uns gebeten, ins Erdgeschoss zu kommen. Wir saßen mehr oder weniger im Halbkreis, nur Carmen hatte sich auf eine der Fensterbänke gesetzt, um den Fuß hoch zu lagern, und Ben saß wieder neben ihr. Jan stand vor uns und suchte nach geeigneten Worten für den Start.

„Also“, sagte er grinsend, „schön, dass ihr alle so zahlreich erschienen seid.“

Gelächter.

„Ähm … gestern ist das ein wenig untergegangen, wegen den Kühen und allem, aber ich dachte, wir bedanken uns erst nochmal bei Daniel, dass er uns hierher geführt hat. Das ist echt ein guter Platz, wie du gesagt hast. Danke, Daniel.“

Sie johlten, pfiffen, klatschten und trampelten und ich erhob mich und verbeugte mich in alle Richtungen – auch in die, in der niemand saß. Als ich mich wieder setzte, legte Esther den Arm um mich und drückte mich.

„Telefondesinfizierer“, flüsterte sie mir ins Ohr. Ich küsste sie.

„Na ja“, fuhr Jan fort, als sich der Tumult legte, „und da wir uns einig sind, dass das ein guter Platz ist, frage ich mal in die Runde: Wollen wir erstmal hier bleiben? Oder ist jemand der Meinung, wir sollten einen anderen Ort suchen?“ Die Frage, ob wir überhaupt zusammenbleiben wollten, stellte er gar nicht – und auch keiner der anderen schien sie zu stellen. Wenn jemand zweifelte, so wie ich, dann sprach er nicht – so wie ich. Jan schaute in die Runde:

„Also – hier bleiben? Ich weiß nicht, sollen wir abstimmen?“

Matthias hob die Hand. Jan sah ihn irritiert an und nickte ihm dann zu.

„Vielleicht sollten wir, bevor wir abstimmen, einen Protokollführer wählen?“

Jan nickte. „Klar. Wir werden so viel besprechen müssen, das müssen wir auf jeden Fall aufschreiben. Willst du? Ich habe jetzt kein Papier, aber …“

„Oben im Wohnzimmer ist welches“, sagte Esther.

„Okay, dann …“

„Nein, Jan“, unterbrach Matthias ihn. „Ich meinte, wir sollten einen Protokollführer – wählen!“

„Was? Okay, wenn du willst – jemand dagegen, dass Matthias das macht?“ Er schaute Matthias an. „Wenn er will?“

Wir klatschten wieder, aber Matthias winkte ab. „Nein, darum geht es doch gar nicht. Aber du kannst dich doch nicht einfach hier hinstellen und sagen, tut dies, tut jenes …“

„Mache ich doch gar nicht!“

„Ja, nicht so richtig, aber wir hätten vielleicht schon vorher über eine Tagesordnung beraten sollen.“

Jan starrte ihn an wie etwas höchst Fremdartiges. Simone, die auf der anderen Seite neben Esther saß, stöhnte hörbar auf. Sie war nicht die Einzige. Matthias war beleidigt.

„Ja, ihr mögt ja glauben, dass das nicht wichtig ist. Aber wir sind eine Gemeinschaft, wir müssen uns doch Regeln geben, wenn wir zusammenleben wollen. Ich finde, wir sollten auf der Grundlage der Verfassung anfangen, und erstmal aufschreiben, was unsere unveräußerlichen Rechte sind. Dass die Würde des Menschen unantastbar ist, dass …

„Matthias“, sagte Jan, und er klang ehrlich belustigt, „niemand will deine Würde antasten, aber wir brauchen was zu futtern, wenn die Vorräte hier aufgebraucht sind. Wir müssen sehen, wie wir uns hier einrichten, wir sollten uns die Umgebung ansehen, wir müssen organisieren, wer was macht und kann, es … es gibt so unendlich viel zu tun. Praktisch, meine ich.“

„Oh ja, und zack, haben wir eine Diktatur der Pragmatiker. Du bestimmst doch schon alles, Herr Oberleutnant.“

Jan wurde rot. „Was? Was hat das denn damit zu tun, verdammt? Wir sind doch alle vernünftige Menschen, wir müssen doch nicht erst ausdiskutieren, was wir …“

„Doch, genau das müssen wir. Ich will jedenfalls nicht, dass wir den Neuanfang mit denselben alten Fehlern machen, dass einer bestimmt und alle anderen sich dem fügen. Fügen müssen.“

„Du musst nicht, Matthias. Niemand zwingt dich.“

„Oh, ja klar, aber wenn ich nicht will, dann kann ich gehen, was?“

„Das! Habe! Ich! Nicht! Gesagt!“

„Aber gemeint!“

„Könntet ihr jetzt bitte mal mit dieser Hahnenkampfscheiße aufhören?“

Die beiden drehten sich erstaunt zu Esther, die äußerlich immer noch ganz lässig auf ihrem Stuhl saß. Aber ich spürte, dass ihr Arm zitterte. Wir alle hatten relativ perplex das Schauspiel zwischen den beiden verfolgt.

„Esther“, sagte Matthias, „das hat mit Hahnenkampf nichts zu tun, aber wir müssen …“

„Klar ist das ein scheiß Hahnenkampf“, unterbrach sie. „Und wir müssen gar nichts. Wir können hier auch tagelang diskutieren, bis der erste verdurstet ist, aber das wäre irgendwie nicht optimal, da gebe ich Jan Recht.“

„Aber …“

„Und klar müssen wir uns Regeln geben, über die wir uns alle einig sind, sonst richten wir ganz pragmatisch ein Chaos an, da hast du Recht. Dass wir dazu als allererstes einen Grundrechtekatalog brauchen, wage ich mal zu bezweifeln, aber es kann auch nicht schaden, wenn wir uns darauf einigen, dass wir uns gegenseitig achten. Jetzt und in Zukunft. Aber wir sind alle erwachsene Menschen, oder? Jeder von uns ist in der Lage, sich genauso viele Gedanken zu machen wie ihr beide. Also …“

„Esther, ich wäre ja auch für eine basisdemokratische Lösung, aber dafür müssen wir …“

„Lass mich ausreden, verdammt!“

Matthias schwieg bestürzt.

„Ihr seid doch schon dabei, das alles hier zu sprengen, merkt ihr das nicht? Wenn wir zusammenbleiben wollen, müssen wir zusammenhalten. Kompromisse finden. Hier also mein Kompromissvorschlag: Wir planen jetzt, was wir erledigen müssen, in welcher Reihenfolge und wer was macht. Und da Jan sich darüber anscheinend die meisten Gedanken gemacht hat, soll er das Gespräch ruhig leiten, was spricht denn dagegen? Und heute Abend machen wir es uns gemütlich und beraten unsere künftige Staatsform, oder wie immer du das nennen willst. Oben im Wohnzimmer sind etwa zwanzig Liter harte Alkoholika, die werden uns dabei sicher helfen.“

Wir brachen in erleichtertes Gelächter aus und klatschten ihr Beifall.

„Im Hofladen ist Bergisches Bauernbier!“, verkündete Christos, was den Beifall noch einmal aufbranden ließ. Zu meiner großen Erleichterung lachten auch Jan und Matthias.

Als wir dann darüber berieten, was wir tun mussten, wurde uns erst einmal klar, was wir alles nicht wussten. Niemand von uns hatte Ahnung von Ackerbau. Das es für eine Aussaat zu spät war, war uns allen klar – immerhin hatten wir alle im Kindergarten die Lieder aus der schönen alten Agrarwelt gesungen: „Im Märzen der Bauer …“ Jemand brachte den Begriff „Wintergetreide“, aber da niemand etwas damit anzufangen wusste, waren zwei Dinge klar: Frisches Obst, Getreide und Gemüse würden wir vorerst nur aus den bereits bestellten Feldern und Gärten der Umgebung bekommen können, beziehungsweise aus den Vorratsräumen der Häuser und Geschäfte. Wir würden uns also schnellstens einen Überblick über die Umgebung verschaffen müssen. Ebenso schnell mussten wir lernen, wie man Lebensmittel haltbar macht. Bis zur Ernte würden wir noch etwas Zeit haben – aber nicht viel. Wir durften uns nicht ausruhen, wir mussten schnell arbeiten und lernen.

Nachdem wir festgestellt hatten, wie schwer es sein würde, uns zu ernähren, war es eine Erleichterung, dass Stefan und Lars sich schon Gedanken über unsere Wohnsituation gemacht hatten. Stefan stellte den Blockhüttenplan noch einmal detailliert vor, und wir feierten die beiden begeistert für ihre Idee. Das klang doch schon sehr nach Zukunft. Meine Zweifel an meiner Eignung als Gemeinschaftswesen verschwanden fürs Erste hinter einer romantischen Wolke aus Gedanken an eine gemeinsame Blockhütte für mich und meine Liebste.

Die Notwendigkeiten bestimmten unsere Aufgaben. Grundsätzlich waren wir alle, wie Stefan gesagt hatte, erst einmal Sammler und Bauern, das mit den Jägern kam später. Esther, Mark – der Medizinstudent – und Simone, die Hebamme war, bildeten unseren medizinischen Stab. Ihr Wissen war von immensem Wert für uns. Kathrin und Erkan wurden unsere Köche. Nicht etwa, weil sie mehr als andere vom Kochen verstanden, da waren die meisten von uns interessierte Amateure. Aber die beiden konnten etwas viel Wichtigeres – sie kannten Methoden, Lebensmittel anders haltbar zu machen, als sie einzufrieren. Das hatte mit Hobbys und Interessen „vorher“ zu tun und es bewährte sich jetzt. Erkan konnte trocknen und räuchern, Kathrin verstand viel vom Pökeln und richtigen Einlagern. Es waren sowieso meist die ehemaligen Freizeitbeschäftigungen, die uns weiterhalfen, nicht die Berufe. Die einzige Ausnahme, neben unseren Medizinerinnen und Medizinern, bildeten Lars und Stefan, die Baumeister und Tanja, die Botanikerin. Aber die anderen mussten ihre Hobbys zum Beruf machen. Buchstäblich. Daniela kannte sich mit Pferden aus, Gina mit Hühnern. Damit war ein Anfang gemacht, der die beiden zu Fachfrauen für all unsere Tiere machte. Außerdem brachte Daniela uns das Reiten bei – mit unterschiedlichem Erfolg. Zu meiner eigenen Überraschung bewies ich dabei großes Talent. Im Leben „davor“ hatte ich um Pferde lieber einen großen Bogen gemacht.

Eva und Oliver hatten Gärten gehabt und bewirtschaftet – was sie neben Tanja zu Chefpflanzerin und Chefpflanzer machte. Michael, in dessen Profifußballerkörper sich ein leidenschaftlicher Sammler verbarg, wurde unser Lagerverwalter. Er verwaltete so inbrünstig, dass er mir später zuweilen schwer auf die Nerven ging, aber seine Leistung war von unschätzbarem Wert.

Unser abendliches politisches Symposion fand tatsächlich so statt, wie Esther es vorgeschlagen hatte. Genau so! Wir dezimierten Whisky, Cognac, Grappa und diverse edle Liköre ziemlich hemmungslos. Und im Gegensatz zu dem, was Matthias befürchtet hatte, nahmen wir die ganze Sache sehr ernst. Wie wollten wir zusammenleben? Wir waren uns darüber einig, dass wir keine Staatsform brauchten als die direkte Demokratie – wobei wir es uns zur Regel machen wollten, nur dann abzustimmen, wenn sich auch nach längerer Zeit kein Kompromiss finden ließ. Unsere Gesellschaft war klein genug dafür. Was die Gesetze betraf, so wollten wir über Streitfälle und Regelungen entscheiden, wenn sie anfielen – und dann unsere Entscheidungen aufschreiben, uns also sozusagen unser eigenes Rechtssystem by doing schaffen. Matthias übernahm die Aufgabe, unsere Sitzungen zu protokollieren und unsere Entscheidungen niederzuschreiben. Außerdem bot er an, unser Chronist zu sein – die Geschichte unserer Gemeinschaft zu schreiben und das, was andere schrieben, zu sammeln. Wir nahmen das Angebot dankbar an. Später dehnte Matthias seine Arbeit auf die Verwaltung unserer kleinen Bibliothek aus, viele Lehr- und Sachbücher fasste er handschriftlich zusammen. Jan andererseits baten wir, da weiterzumachen, wo er angefangen hatte – unsere Entscheidungen zu exekutieren, unsere Aufgaben zu planen, zu organisieren und zu ordnen. Am nächsten Mittag, als wir mehr oder weniger verkatert auf die Ergebnisse unserer nächtlichen Arbeit schauten, waren wir alle zufrieden. Jan setzte ein Dokument auf, in dem er unsere Beschlüsse zusammenfasste, wir unterzeichneten es feierlich und empfanden das schon als bedeutenden Moment. Ich hätte die Unterzeichnung gerne fotografiert.

Ben, Carmen und Christos wurden Jäger und lernten das, was sie gejagt hatten, auch zu schlachten. Der fette Computerfachmann, der neben mir gegangen war, um das langsamste Tempo anzugeben, wurde binnen Wochen ein stämmiger, ausdauernder Läufer. Das mochte mit dem Nahrungsmangel und der harten Arbeit zusammengehangen haben, aber auch mit der Tatsache, dass Carmen, sobald sie wieder richtig laufen konnte, ihr Gewehr nahm, in den nahen Wald ging und einen Tag später mit unseren ersten beiden Hasenbraten zurückkam (und mit sechzehn Patronen weniger, aber auch sie lernte). Ihr Vater war Metzger und Hobbyjäger gewesen. Gegen Ende des Herbstes tauschte sie ihre Hütte mit Matthias, der direkt neben Ben gewohnt hatte.

Die ersten Hütten wurden tatsächlich schneller fertig, als wir gedacht hatten, der Prototyp, in den Lars und Eva einzogen, stand zwei Wochen nach unserem Einzug, die anderen folgten schnell. Wie Stefan gesagt hatte: einfache, kleine Häuser mit einem oder zwei Räumen, meist an die Hofmauer gelehnt. Ich war glücklich, als ich endlich mit Esther in unser eigenes Heim ziehen konnte. Andere lebten lieber weiter als Gruppe – Mark, Oliver, Christos, Simone und Kathrin rissen ihre Hütten bald wieder ein und bauten sich mit Hilfe unserer Architekten ein Gemeinschaftshaus.

Das ehemalige Wohnhaus erfüllte bald mehrere Zwecke. Nachdem wir alle Besitztümer der früheren Bewohner entfernt hatten, die wir nicht brauchen konnten oder die uns unangenehm an die Zeit vorher erinnerten – und das waren die meisten – führten wir das Haus seiner neuen Bestimmung zu. Es wurde so etwas wie unser Verwaltungsgebäude. Oben hatten wir die Bibliothek untergebracht – alle Bücher, die wir mitgebracht hatten. In anderen Räumen planten Lars und Stefan unsere Bauten und Jan unser Leben. Auch die überzähligen Waffen und die Munition waren hier untergebracht, ebenso alles, was wir an Papier und Stiften zusammensammeln konnten. Unten blieb unser Gemeinschaftsraum. Wir besahen uns unser neues Leben und begannen, uns darin einzurichten.

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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392 стр. 5 иллюстраций
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9783942625234
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