Читать книгу: «Der Finder», страница 3

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„Aber als Soldat bist du trotzdem nützlich“, meinte ich.

„Schön, dass du das so siehst. Ich wüsste nicht, wieso.“

„Du kannst im Freien überleben. Du kannst Feuer machen, Flöße bauen, all sowas.“

Er lachte bitter. „Warst du beim Bund?“

„Ja.“

„Noch Fragen?“

„Na, ich denke, du warst etwas länger da als ich.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, wirklich nicht. Wenn es darum ginge, unseren Platz im Bergischen gegen Luftangriffe zu verteidigen, dann könnte ich helfen. Aber das wird wohl nicht nötig sein. Und was meine Survival-Fähigkeiten angeht, schlage ich vor, dass wir aus irgendeinem Trekking-Laden ein paar entsprechende Bücher mitnehmen. Die sind besser als alles, was ich euch beibringen kann.“

Am Ende fragte er uns, ob wir mitmachen würden. Wir bejahten alle, erleichtert, etwas zu tun zu haben, ein Ziel, eine Perspektive. Wir beschlossen, uns um acht Uhr abends wieder vor der Kirche zu treffen.

„Bis dahin nehmt alles mit, was ihr für nötig haltet. Nötig, versteht ihr? Ihr müsst es tragen können. Besorgt euch Rucksäcke und Schlafsäcke. Esther, du solltest alles besorgen, was wir deiner Meinung nach als Grundstock für eine medizinische Versorgung brauchen. Oder besser – wir gehen zuerst nach Hilden, zu meiner Kaserne. Da können wir uns mit Werkzeug, Medizin und Waffen ausrüsten.“

„Waffen?“, fragte Eva.

„Ja, Waffen. Nein, versteht das nicht falsch.“ Er sah unsere Gesichter. „Wir werden, glaube ich, kein Problem mit anderen Menschen haben. Jeder in unserer Situation wird froh sein, sich einer Gruppe anschließen zu können. Aber die Tiere. Denkt an Hunde. Rudel von verwilderten Haushunden. Die, die überleben, werden gefährlich sein. Und es wird auch wieder Wölfe geben in ein paar Jahren und Bären. Ich halte es sogar für möglich, dass ein paar Tiere aus den Zoos ausbrechen.“

„Und wir werden jagen müssen“, meinte Lars.

„Aber keine Feuerwaffen“, überlegte ich laut. „Bald wird es keine Munition mehr geben.“

„Die reicht noch für ein paar Generationen“, entgegnete Jan.

„Wir sollten uns nicht dran gewöhnen.“

„Besorg dir was anderes, wenn du willst. Ich kann nur Gewehre und Pistolen beschaffen.“

„Ich finde ja“, sagte David gedehnt, „dass nicht nur die Munition noch für ein paar Generationen reichen wird.“

Jan grinste und sah ihn an. „Noch nicht überzeugt?“

„Nicht die Spur“, sagte David, ebenfalls grinsend. Wir anderen sahen verwirrt von einem zum anderen.

„Wir haben eben schon eine Weile darüber gesprochen“, erklärte David. „Während ihr … ein spöttisches Lächeln huschte über sein Gesicht, „ähm … Theorien diskutiert habt.“

Matthias schaute ihn säuerlich an, sagte aber nichts.

„Was die Prioritäten betrifft“, er nickte Jan zu, „da bin ich ganz bei dir, Jan. Ich will es gar nicht wissen. Ich will auch gar nicht darüber nachdenken, ehrlich. Mir reichen meine Träume. Ich habe gestern Nacht von meiner Freundin geträumt, und …“ Er schluckte. „Na, egal. Ihr seht – das führt zu nichts, das macht uns nur fertig. Jan hat Recht: Wir müssen als erstes klären, wie wir überleben. Und ich finde auch, wir sollten zusammenbleiben. Warum wir dafür aber gleich das Mittelalter neu eröffnen müssen, das ist mir nicht klar. Ehrlich, Leute: Hier stehen überall Autos herum. Die Supermärkte sind voller Konserven. Die halten nicht ewig, aber während wir die verspeisen, können wir doch, sagen wir, fünf bis zehn Jahre darüber nachdenken, wie wir weiter machen wollen. Anstatt irgendwo in der Pampa einen auf Bauer zu machen, würde ich erstmal fahren, fahren, fahren um das halbe Land nach Menschen zu erkunden und alle Tanken leermachen, die es gibt. Dabei könnten wir in Villen und den nobelsten Hotels der Welt leben. Warum, in Gottes Namen, sollten wir eine Kommune gründen und uns den Hintern wieder mit Gras abwischen?“

„Niemand will das Klopapier abschaffen“, sagte Jan sanft.

„Du weißt, was ich meine.“

„Gegenfrage“, meinte Esther. „Warum sollten wir mit Autos durch die Gegend fahren? Wohin? Gibt es noch irgendeinen Ort, an den wir schnell müssen? Wir haben alle Zeit der Welt, und wir haben kein Ziel. Es wird viel wichtiger sein, alles genau zu erkunden. Was wissen wir denn über die Welt, wie sie jetzt ist? Gar nichts. Ich hätte einfach Angst, irgendetwas zu übersehen, wenn ich mit hundertzwanzig Sachen daran vorbeirase. Gerade, wenn … also falls es noch andere Menschen gibt.“

„Aber Esther“, sagte David, „mal ehrlich – wie stellst du dir das vor? Willst du im Märzen die Rösslein anspannen? Das ist doch völlig sinnlos.“

Sie lachte. „Also gegen einen Trecker hätte ich nichts.“

„Hast du schon mal versucht, Auto zu fahren? Seit … seit alle weg sind, meine ich?“, fragte Lars.

David sah ihn erstaunt an. „Nein. Warum, das war nicht nötig. Aber wo soll das Problem liegen?“

Eva schüttelte mit bitterer Miene den Kopf. „Wir haben es versucht. Also … nicht nur versucht, gemacht. Unser eigener Wagen steht leider völlig unerreichbar in unserer Garage – elektronisches Rolltor. Aber wie du gesagt hast – es stehen ja genug rum. Also haben wir uns gedacht, wir nehmen einfach irgendeinen Wagen und fahren zu meiner Schwester, die Schlüssel stecken ja alle. Das Dumme war nur – wo die Schlüssel steckten, waren fast überall die Batterien leer, weil die Radios noch an gewesen waren oder das Licht oder beides. Und außerdem sind die meisten Autos, die da rumstehen, irgendwo gegen gefahren, ineinander oder in den Bordstein oder in ein Haus oder einen Baum. Die … die Fahrer sind wohl … also es sieht aus, als ob die alle während der Fahrt …“ Sie schluckte schwer und atmete ein paarmal zitternd ein, dann sprach sie weiter: „Die meisten sind nicht wirklich schlimm kaputt, aber irgendwie beschädigt und ich traue denen dann jedenfalls nicht mehr.“

„Schließlich haben wir doch einen Wagen gefunden, der ging“, nahm Lars den Faden auf. „Und damit sind wir dann nach Leichlingen gefahren. Das war übrigens auch nicht so einfach, die Straßen sind an den unmöglichsten Stellen von herumstehenden Autos blockiert. Und dann …“, er hustete und sprach heiser weiter, „na ja, dann sind wir wieder nach Hause gefahren. Ich brauche kein Auto mehr. Ich will auch keins mehr. Mir ist wichtig, dass wir zusammenbleiben. Wenn ihr derselben Meinung seid wie David, klar, dann fahre ich mit. Aber eigentlich will ich nichts mehr von der Welt sehen. Nicht mehr als nötig.“

„Ich will auch, dass wir zusammenbleiben“, sagte Susi. „Ehrlich“, sie warf einen fast panischen Blick in die Runde, „lasst uns zusammen bleiben. Aber David hat doch Recht. Du redest von Blockhäusern, Jan – und es gibt Millionen von festen, sicheren Häusern und bequemen Betten, in denen wir schlafen können. Lasst uns die Welt erkunden. Lasst uns vielleicht irgendwohin fahren, wo es warm ist, wo es schöner ist als hier. Wart ihr schon mal in Norditalien, oder im Ardèche? Wenn wir uns schon irgendwo ansiedeln, warum nicht da? Klar, irgendwann ist wahrscheinlich das Benzin alle und das Zeug aus den Supermärkten ist vergammelt, aber dann haben wir immer noch Zeit, wieder Bauern und Jäger und Sammler oder sowas zu werden.“

„Warum es aufschieben?“, fragte Esther leise.

„Esther …“, sagte Susi gequält.

Wir saßen eine ganze Weile still beisammen.

„Ich fürchte, wir werden uns nicht einigen“, sagte Jan schließlich.

„Nein“, meinte David unglücklich. „Was sollen wir machen?“

„Abstimmen!“, sagte Matthias. David sah ihn finster an. Es war offensichtlich, dass er eine Abstimmung verlieren würde. Esther schüttelte den Kopf.

„Quatsch, abstimmen. Wir können David und Susi doch kein Leben aufzwingen, das sie nicht wollen.“

„Nein!“, rief Matthias erschrocken. „Natürlich nicht.“

„Ich schlage Folgendes vor“, sagte Jan. „Wir sind so oder so zu wenige, ob wir jetzt Bauern sein wollen oder Nomaden der Landstraße oder was auch immer. Aber es scheint doch so, als ob alle, die noch da sind, auf der Party waren, oder?“

„Das ist Blödsinn“, sagte Lars. „Wieso …“ Jan hob die Hand.

„Bitte – wir wollten uns mit dem Wieso doch später beschäftigen. Alle, die hier sind, waren auf unserer Party. Andere Menschen hat keiner von uns gesehen. Es klingt irre, aber es ist nun mal so. Und David und Matthias haben die Party doch organisiert. Also wisst ihr doch auch am besten, wo man die Leute eventuell finden kann, oder? Habt ihr eure Listen noch?“

Die beiden sahen sich an. „Klar“, sagte David. „Alles fein säuberlich ausgedruckt, liegt bei mir zu Hause immer noch auf dem Schreibtisch.“

„Dann klappert die Leute doch ab. Sucht so viele ihr könnt, erzählt ihnen von unseren Ideen, und dann treffen wir uns heute Abend hier. Vielleicht finden wir dann eine Lösung. Und wenn nicht, können wir ja vielleicht zwei Gruppen bilden, die beide groß genug sind.“ Er seufzte. „Obwohl ich es besser fände, wenn wir uns nicht trennen würden.“

„Ich auch“, sagte David. „Was meint ihr, um acht wieder hier? Heute Abend?“

Wir nickten. David wandte sich zum Gehen. „Kommst du, Matthias?“

„Wartet“, sagte Susi und sprang auf. „Ich komme auch mit.“

Als sie gegangen waren, sah Jan in die Runde.

„Sehe ich das richtig? Nur Bauern hier geblieben?“

Wir lachten, aber nicht besonders fröhlich. Er nickte.

„Also, David hat zumindest Recht, was die Probleme angeht. Ich möchte daraus keinen Glaubenskrieg machen. Mir geht es mehr um das, was Esther gesagt hat: Keine Eile, dafür viel Sorgfalt und besser jetzt anfangen als später. Aufschieben bringt nichts. Aber wenn wir, was weiß ich, schwere Lasten transportieren müssen oder so, dann würde ich auch nicht gerne auf Lkw und all das verzichten. Aber was die alltägliche Fortbewegung angeht …“

„Was ist mit Pferden?“, fragte Daniela. Es war das erste Mal, dass sie etwas sagte.

Jans Gesicht hellte sich auf. „Ja, genau. Kannst du mit Pferden umgehen? Könntest du uns welche besorgen?“

„Ja. Ich bringe Kindern Reiten bei. Am Gut Reuschenberg, nach der Arbeit. Ich meine, bevor …“

„Schon klar, das ist super. Du wirst uns allen das Reiten beibringen. Aber hol erstmal nur ein oder zwei Pferde, als Lasttiere, okay?“

Sie nickte.

Wir planten und verteilten Aufgaben. Das tat gut. Es stellte sich heraus, dass ich der Einzige war, der die Gegend, in die wir wollten, gut kannte. Auf meiner Suche nach gruseligen Plätzen war ich zu Fuß weit herumgekommen. Ich würde also so eine Art Scout sein. Es tat mir gut, auf diese Art auch eine sinnvolle Aufgabe zu haben, und das sagte ich Esther, als wir später in ihrer Wohnung ein paar Sachen zusammenpackten.

„He, du bist auch so nützlich“, lachte sie. „Du musst mir viele starke Siedlersöhne machen.“

„Ich meine das ernst, Esther. Du wirst auch gebraucht, bitter nötig sogar. Aber wofür bin ich gut?“

„Ich meine es auch ernst. Ich brauche dich.“ Sie schloss die Augen, zog die Luft scharf ein und sprach stockend weiter. „Von allen Menschen, die ich geliebt habe, gibt es nur noch dich. Ich habe auf der ganzen Welt nur noch dich.“

„Zweckgemeinschaft also?“

Sie wirbelte herum und zischte mich an: „Mach es nicht herunter, du Arschloch. Ich liebe dich, und ich will dich. Egal ob es sechs Milliarden Menschen auf der Welt gibt oder sechzig. Ist das klar?“

„Es tut mir leid, Esther.“

„Das sollte es auch.“ Sie lehnte sich an die Wand und ich sah, dass sie zitterte. „Das sollte es auch.“ Ich nahm sie in den Arm.

„Entschuldige bitte.“ Die Kälte war wieder da. Aber bei ihr fror ich nicht. Sie seufzte und schmiegte sich an mich.

„Mach sowas nicht nochmal. Wir sind zwar erst zweieinhalb Tage zusammen, aber du wirst mir schon vertrauen müssen. Wir beide sollten immer zusammenhalten. Willst du das?“

Ich schaffte ein halbes Lächeln. „Ist das ein Heiratsantrag?“

„Von mir aus“, sagte sie sehr ernst.

Ich küsste sie. „Ja. Und danke.“

„Bitte. Jetzt lass uns packen. Und dann shoppen gehen.“

5

Als wir am Abend wieder zur Kirche kamen, war eine kleine Menschenmenge zusammengekommen. Matthias, Susi und David waren die Liste der Partygäste durchgegangen, denn es war offensichtlich, dass – warum auch immer – nur wir übrig geblieben waren, unser Abijahrgang. Sie hatten so viele abgeklappert wie möglich und mehr als vierzig gefunden, von denen die meisten froh waren, sich uns anschließen zu können. Aber sie hatten auch anderes gefunden. Einige hatten sich umgebracht. Und einige wollten alleine bleiben. Aus einem Fenster, hinter dem die ehemalige Schlagzeugerin unserer Schulband mit ihrer Familie gewohnt hatte, waren sie mit Geschirr und Messern beworfen worden. Matthias und David luden alle, die nicht mitkommen wollten, ein, nachzukommen. Sie hatten außerdem ein paar Zettel geschrieben und unterwegs aufgehängt. Dann hatten sie sich getrennt – David und Susi hatten noch etwas besorgen wollen, wie David gesagt hatte.

Esther und ich hatten gerade unsere Rucksäcke an die Kirchenwand gelehnt, als wir sahen, was er gemeint hatte. Aus der Maurinusstraße bogen hupend ein gewaltiger Mercedes, ein Abschleppwagen mit Kran und zum Schluss ein wirklich unverschämt komfortabel wirkender, großer Reisebus. Susi steuerte den Mercedes, David den Bus und hinter dem Lenkrad des Abschleppwagens saß Doris Jovic – bis vor wenigen Tagen Juniorchefin des größten Abschleppunternehmens Leverkusens. Ich kannte sie seit dem Kindergarten und war irgendwann, als ich vierzehn oder fünfzehn war, mal einige verlegene Monate mit ihr zusammengewesen. Als sie ihr Gefährt zischend vor der Kirche zum Stehen brachte, trat ich an das Fahrerhäuschen. Sie lehnte sich grinsend aus dem Fenster.

„Na?“, fragte sie. „Was sagst du?“

„Ich frage mich, was du damit willst. Ich habe meine Kameras zu Hause gelassen.“

„David hat mir von Lars’ und Evas Problem mit liegengebliebenen Autos erzählt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Na ja – kein Problem für mich.“

Ich nickte anerkennend. „Gute Idee.“

„Willst du wirklich Farmer werden? Klingt gar nicht nach dir.“

„Ja, will ich. Ich bin zu platt, um durch die Welt zu reisen, Doris. Ich glaube, ich muss sie erstmal neu kennen lernen. Und das lieber gründlich und in kleinen Schritten.“

Sie grinste. „Und eine gewisse rothaarige Dame hat gar nichts damit zu tun?“

Ich erwiderte ihren Blick vielleicht etwas zu ausdruckslos. „Wir sind uns da einig.“

Esther kam hinzu und lehnte sich an mich. „Hübscher Wagen“, sagte sie zu Doris.

Doris lachte. „Danke. Aber ich bewundere dich. Daniel häuslich zu machen in … wie viel Tagen? Das ist ’ne Leistung.“

Esther lächelte sie an. „Ich habe gar nichts Besonderes gemacht.“

Doris zwinkerte ihr zu. „Jede Wette.“

Jan und David erklärten uns allen noch einmal ihre unterschiedlichen Standpunkte. Es war deutlich, dass es keinen Kompromiss geben würde – unsere erste Handlung als Gruppe Überlebender würde sein, dass wir uns gleich wieder trennten, in zwei Gruppen. Viele von uns waren immer noch so geschockt und verstört, dass sie eigentlich gar nicht in der Lage waren, etwas alleine zu tun oder irgendeine Entscheidung zu treffen, aber jeder und jede von den Geschockten hatte irgendwen gefunden, an den sie sich hängten und dessen Entscheidung sie mitmachten. Bei allen Differenzen waren wir bemüht, uns im Frieden zu trennen. Wir luden uns ein, gegenseitig, scherzhaft und freundschaftlich, einander wieder zu besuchen, falls wir uns umentscheiden würden – wie auch immer das klappen sollte. Aber uns war allen klar, dass die Trennung wahrscheinlich endgültig war. Esther und Susi hielten sich lange im Arm. Sie weinten beide.

„Schick mir ’ne Mail“, sagte Susi. „Oder blip mir mal ein Lied.“

Esther nickte schluchzend. „Mach’s gut.“

Hatte David noch am Nachmittag eine Mehrheit gegen sich gehabt, so hatte er nun mehr Leute überzeugen können als Jan. Als sie hupend die Quettinger Straße hinunter in Richtung Autobahn davon fuhren, waren wir, die wir winkend zurückblieben, die kleinere Gruppe.

Von denen, die fortgefahren waren, sah ich keinen je wieder.

Wir waren neunzehn, die gemeinsam aufbrachen.

Es war ein schöner, kühler Abend, der bessere Teil des Sommertages begann für mich gerade erst. Auf meinem Rücken trug ich einen Rucksack, wie alle. Daran hatte ich einen Bogen aus Fiberglas befestigt, den ich in einem Waffengeschäft gefunden hatte, und einen Köcher mit Pfeilen.

„Ah“, sagte Jan grinsend, als er mich sah, „keine Patronen.“

Ich grinste zurück. „Keine Patronen“.

„Kannst du damit umgehen?“

„Ich werde es lernen.“

Wir hatten alle so ziemlich dasselbe eingepackt – Schlafsack, robuste Kleidung für verschiedenes Wetter, ein bisschen Proviant, mehr oder weniger umfangreiche Verbandskästen, ein paar persönliche Erinnerungen. Manche hatten Messer, einige Seile, ich hatte einen Kompass. Daniela führte zwei Pferde heran, vier schoben Fahrräder. Unsere Liste der brauchbaren Berufe war um eine Hebamme, eine Botanikerin und einen weiteren Architekten gewachsen – Stefan. Er hatte als Dreingabe auch eine Zimmermannslehre. Als alle bereit waren, es war inzwischen zehn Uhr abends, schaute Jan mich an.

„Du führst uns?“

„Wenn ihr wollt.“

„Gut. Dann den ganzen Weg, von hier an. Ich will keine große Marschordnung aufmachen, nur – wer ist schwach? Wer kann nicht gut marschieren und hat wenig Kondition, ganz ehrlich?“

Es gab eine kurze Stille. Dann meldete sich Ben, der bis vor Kurzem ein Computerfachmann gewesen war. Er hatte mindestens zwanzig Kilo Übergewicht und keuchte jetzt schon unter seinem – zugegeben riesigen – Rucksack. Aber er hatte Courage. Ich weiß nicht, ob ich mich gemeldet hätte. Ich grübelte erfolglos, in der Schule war er mir nie aufgefallen. Ich sah Esther an und sie nickte. Offenbar kannte sie ihn.

„Klasse. Danke, Ben.“ Jan legte ihm die Hand auf die Schulter. „Du gehst vorne mit Daniel und Esther. Du gibst das Tempo an. Daniel wird sich nach dir richten.“

Ich nickte.

„Ich gehe hinten. Keiner geht hinter mir. Okay? Dann los.“

Wir gingen zur Autobahnauffahrt und auf die A3.

Erst hier, auf der Autobahn, zwischen all den stummen Resten unserer eben noch so lebendigen Zivilisation, wurde mir klar, was wir wirklich verloren hatten. Alles, was gewesen war. Alles, was wir gelernt oder gewusst hatten. Ich hatte meine Eltern verloren und meine Schwester, aber der Verlust an Menschen war so allumfassend und gewaltig, dass ich kaum trauern konnte. Ich hatte wirklich eher das Gefühl, ich sei es, der fort sei, der Gedanke, dass all die Verschwundenen wirklich tot sein könnten, war zu groß, zu unfassbar und irreal. Aber die leeren, wie hingestreut herumstehenden Autos hier, die waren geradezu schmerzhaft real. Hier, über der Autobahn, lag wirklich Friedhofsstille. Wir sprachen wenig und wenn, dann leise. Hier war eine gespenstische, lauernde Stille über allem. Leere Autos. Eine Ratte, die über die Fahrbahn lief. Sonst nichts, nur das Klok, Klok der Hufe und das Quietschen der Fahrräder. Esther nahm irgendwann meine Hand.

Wir waren etwa eine Stunde unterwegs, als Ben unvermittelt sagte: „Ich komme mir vor wie ein Telefondesinfizierer.“

„Was?“ Ich glaubte, mich verhört zu haben, aber Esther lachte.

„Mach dir nichts draus. Daniel geht’s nicht anders.“ Sie drückte meine Hand und flüsterte mir ins Ohr: „Nicht böse sein.“

„Ich bin nicht böse. Was ist ein Telefondesinfizierer?“

„Kennst du Per Anhalter durch die Galaxis?“, fragte Ben.

„Ich erinnere mich dunkel.“

„In unserer Klasse hatten wir einen großen Anhalter-Fanclub, in der Neun oder Zehn“, erklärte Esther. „Ben und ich gehörten dazu. Es gab da im zweiten oder dritten Band dieses Raumschiff, voll mit Menschen, die nutzlose Berufe hatten. Telefondesinfizierer waren auch dabei.“

„Ach so. Ja, dann bin ich auch ein Telefondesinfizierer, stimmt.“

Esther schüttelte lächelnd den Kopf. „Ihr habt beide immer noch nicht begriffen, was das hier bedeutet. Wir sind so wenige, dass jeder irgendwie gebraucht wird, früher oder später. Du, mein Held, bist an einem Nachmittag vom Telefondesinfizierer zum Pfadfinder aufgestiegen.“

„Hm.“

„Du kannst auch irgendwas“, sagte sie zu Ben.

„Was?“

„Keine Ahnung. Wird sich zeigen.“

Er lachte. „Weißt du, was du bist?“, fragte er mich.

„Na?“

„Ein glücklicher Bastard.“

„Ich weiß.“

Ich schaute mich um, sah die Schemen der Gruppe hinter mir und fühlte mich plötzlich unsagbar lebendig.

Es war kurz nach halb eins, als wir an der Raststätte Ohligser Heide ankamen. Wir vergewisserten uns, dass von der Tankstelle keine Gefahr ausging und schlugen hinter dem Shop unser Lager auf – wenn man eine Ansammlung von Schlafsäcken so nennen will. Esther und ich nutzten ihren Schlafsack als Unterlage und meinen als Decke und hatten so ein recht komfortables Doppelbett. Kurz vor der Dämmerung wachte ich auf. Ich ging ein Stück die Autobahn hinunter, setzte mich auf eine der Spurmarkierungen, zündete eine Benson an und schaute in die verblassenden Sterne. Irgendwann spürte ich Esther hinter mir.

„Hast du Sorgen?“

„Ist das ein Traum, Esther?“

„Ich weiß es nicht, was glaubst du?“

„Ich weiß es auch nicht. Es ist komisch.“

Ich spürte ihre Hände auf meinen Schultern. „Ich bin so traurig, wegen Andy und allem. Aber ich will auch, dass es echt ist. Wegen uns.“

„Ja.“

„Dann ist es echt, oder?“

Wir gingen zurück. In meinem Traum sah ich einen Mann über einem Abgrund. Er sah ein bisschen aus wie ich. Aber ich war es nicht. Ich stand hinter ihm. Der Mann hatte keinen Kopf. Den Kopf hielt ich in der Hand. Er sah mich aus schwarzen, sehr lebendigen Augen an. Dann öffnete der Kopf den Mund und stieß einen grauenvollen, heulenden Schrei aus.

Davon wachte ich auf.

Wir beschlossen, erst am späten Nachmittag weiterzuziehen und bis in die Nacht hinein zu marschieren, um die Mittagshitze zu vermeiden. Ein Plan, der mir sehr zusagte. Jan und ich beratschlagten eine Weile über den besten Weg zur Waldkaserne, dann ging er zu Daniela. Die beiden hatten vor, auf einem der Pferde früher aufzubrechen, um in der Kaserne Vorbereitungen zu treffen.

Ich hatte fünf Bücher mitgenommen – eine schmerzliche Beschränkung, und ich hatte lange gezaudert. Letztlich hatte ich mich für Zen in der Kunst des Bogenschießens entschieden, weil es klein war, leicht, nützlich und gut. Dazu Das Buch der fünf Ringe aus der Feder des japanischen Schwertkämpfers Musashi, Tolkiens Herr der Ringe und Das Silmarillion. Das einzige Buch, das nicht aus meinem Regal, sondern aus einem Laden stammte, an dem Esther und ich auf unserer Shoppingtour vorbeigekommen waren, war ein Lehrbuch für Sportbogenschützen. Das steckte ich in die Tasche, hängte mir den Köcher mit den Pfeilen an den Gürtel, nahm meinen Bogen und ging üben. Etwas abseits versenkte ich mich in das Buch und übte die grundlegenden Griffe. Als ich glaubte, diese halbwegs zu beherrschen, nahm ich die fünf Pfeile aus dem Köcher, die laut ihrer Verpackung „Sportpfeile“ waren. Die anderen waren „Jagdpfeile“, verfügten über scharfe Spitzen und Widerhaken. Die Sportpfeile waren nur konisch zugespitzt. Ich suchte mir einen Baum als Ziel, legte den ersten Pfeil auf, spannte den Bogen und zielte. Dann versuchte ich ruhig zu atmen und wartete, bis der Schuss von mir abfiel, wie ich es in der „Kunst des Bogenschießens“ oft gelesen hatte. Der Moment kam. Ich sah den Baum, mein Blick drang in ihn ein, und meine Hand ließ die Sehne wie von selbst los. Der Pfeil schnellte davon.

Es war gar nicht so schwer, ihn danach wiederzufinden, ich suchte nur etwa drei Minuten. Ich hatte den Baum schon mehrmals gestreift und einmal getroffen, als Esther zu mir kam.

„Hallo, Robin Hood. Klappt’s?“

„Ich werde besser.“

Sie schaute meine Pfeile an. „Immerhin scheint noch keiner kaputt zu sein.“

„Danke, du bist ein Schatz.“

Sie umarmte mich. „Für dich gerne. Pack mal dein Zeug zusammen, wir wollen los.“

„Schon?“

„Es ist fast fünf.“

„Oh.“

Sie strich mir übers Haar. „Hast du irgendwas für deinen Kopf? Wenn wir jetzt so über die Autobahn spazieren?“

Warum grinste sie so?

„Nein, habe ich vergessen.“ Ich ärgerte mich, weil ich nicht daran gedacht hatte, aber sie zog zwei große Tücher aus der Tasche. Geblümte Tücher. Sie hatte es ja mit Geblümtem.

„Ich habe dran gedacht. Eins für dich, eins für mich.“ Sie schlang sich eines um den Kopf, hielt mir das andere vors Gesicht und feixte. „Steht dir sicher gut.“

Wir machten uns wieder auf den Weg. Jan und Daniela waren inzwischen wie geplant auf einem der Pferde vorausgeritten, um in der Kaserne schon ein paar Dinge rauszusuchen, das andere Tier führte jetzt Eva. Auf der A46 rochen wir zum ersten Mal Feuer. In Hilden schien es zu brennen. Nachdem wir die Autobahn im Hildener Kreuz verlassen hatten, rasteten wir. Der Anstieg der Straße einige Kilometer vor dem Kreuz hatte sich – mit Gepäck und Hitze – als anstrengender erwiesen, als wir gedacht hatten. Esther und Mark, der Medizinstudent gewesen war (ich hatte ihn hauptsächlich als reichen Sohn und Besitzer eines BMW-Cabrios sofort nach bestandenem Führerschein in Erinnerung), versorgten ein paar Wehwehchen, hauptsächlich Blasen. Carmen, die so gut Gitarre spielte, hatte sich den Fuß verstaucht. Esther sah sich die Bescherung an und kam zu mir.

„Sie sollte nicht weiterlaufen.“

„Ja, und?“

„Wir sollten sie auf das Pferd setzen und das Gepäck verteilen.“

„Dann macht das doch.“

Sie legte zwei Finger über die Nasenwurzel und schaute mich genervt an. „Sie will nicht, Daniel. Sie will laufen. Sag du es ihr bitte.“

„Warum ich? Du bist die Medizinerin.“

„Weil du unser Führer bist. Du bist für den Marsch verantwortlich, du bestimmst.“

„Quatsch.“

Sie seufzte. „Menschen sind halt so. Also bitte.“

Ich ging notgedrungen mit. Carmen saß auf dem Boden und fluchte. Ich hockte mich neben sie.

„Was ist?“

„Ich bin umgeknickt. Scheiße. Esther sagt, ich soll reiten, aber ich kann laufen.“

„Hast du was gegen Pferde?“

„Nein. Aber das ist doch zu blöd.“

Ich schüttelte den Kopf und hoffte, dass es entschieden aussah. „Nein, du bist zu langsam. Du würdest uns aufhalten.“

Das Wunder geschah — ich hatte Erfolg: Sie ließ sich aufhelfen, hüpfte von Esther gestützt zu dem Pferd (es hieß Django) und ließ sich von Ben und mir rauf helfen. Sie hatte zwei Gepäckstücke, einen Rucksack und die Gitarre. Den Rucksack legten wir vor sie auf das Pferd, die Gitarre nahm Ben.

Wir ließen uns jetzt Zeit, und als wir die Kaserne erreichten, dämmerte es schon. Daniela stand vor dem Tor und streichelte Fjalar, unser zweites Pferd. Sie hatte sich erstaunlich gemacht seit gestern, als sie verwirrt und ängstlich in die Kirche gestolpert war. Sie sprach ruhig mit dem Tier und lachte, als sie uns die Straße heraufkommen sah.

„Da seid ihr ja. Wir warten seit Stunden auf euch.“

An diesem Abend, soviel war klar, würden wir nicht mehr viel tun können, geschweige denn weiterziehen. Wir aßen gemeinsam aus unseren Vorräten zu Abend. Um uns herum konnten wir Brände sehen. Feuer in Haan, Wuppertal und Hilden. Ich glaubte sogar, Benzin riechen zu können und nickte Jan zu.

„Du hast Recht gehabt.“

„Womit?“

„Feuer. Überall.“

„Ja.“

Er betrachtete nachdenklich den Feuerschein in der Ferne.

„Meinst du, das kann uns gefährlich werden?“

„Hier? Nein, ich denke nicht. Habt ihr Brände bemerkt, als ihr hierher gekommen seid?

„Ja. Aber nur von weitem.“

„Rechts von euch? Als ihr auf der B8 wart?“

Ich überlegte kurz. „Ja.“

Jan nickte. „Das war im Westen von Hilden. Das Zentrum scheint zu brennen. Da ist die Autobahn zwischen, sollte mich wundern, wenn ein Feuer die überqueren kann.“

Um Mitternacht waren die meisten von uns eingeschlafen. Wir hätten es uns in den Gebäuden bequem machen können, aber nur wenige taten das. Vielleicht aus Scheu, vielleicht auch einfach, weil die Nacht so mild war und die Wiesen zwischen den Gebäuden so einladend. Esther und ich hatten uns wieder unser Zwei-Schlafsäcke-Sandwich Doppelbett gebaut, etwas abseits von den Grüppchen. Ich setzte mich neben sie auf den Schlafsack und zündete mir eine Zigarette an, die erste seit dem Morgen. Ich hatte ein seltsames Gefühl. Ich fühlte mich nicht sicher. Es hatte nichts mit den Bränden zu tun, die ich sehen und riechen konnte, Jan hatte mich von der Qualität der Autobahn als Feuerschneise überzeugt. Ich horchte angestrengt in die Nacht und wartete auf etwas. Ich hörte nichts, was nicht ins Bild passte, aber ich blieb unruhig. Sie merkte es.

„Ist was?“

„Ich weiß nicht. Ich habe so ein Gefühl. Wir sollten Wachen aufstellen.“

„Wozu?“

„Ich weiß es nicht.“

Sie setzte sich auch auf und horchte. Abgesehen vom fernen, rollenden Geräusch der Feuer, gedämpften Gesprächen und dem gelegentlichem Schnauben der Pferde, die in der Nähe grasten, war es still.

„Es ist genau wie letzte Nacht.“

„Nein, das ist es eben nicht.“

„Was ist denn jetzt anders?“

Ich versuchte es zu packen, erfolglos. „Ich habe so ein Gefühl. Irgendwas ist ganz anders.“

„Meinst du wirklich, wir sollen Wachen stellen?“

„Nein. Die anderen würden mir was husten. Ich weiß ja nicht mal, was mit mir los ist.“

„Komm her.“

Ich schlief in ihrem Arm ein, aber ich kam nicht zur Ruhe. Im Traum floh ich. Ich weiß nicht, wovor. Es war hinter mir in der Dunkelheit und heulte.

In dieser Nacht geschah nichts und am Morgen kamen mir meine nächtlichen Ängste albern vor.

Später sollte ich lernen, ihnen zu vertrauen.

Wir verbrachten den Großteil des nächsten Tages damit, uns einzudecken. Hier in der Kaserne gab es feste Kleidung, Schuhe, Riemen, Schlafsäcke, Decken, Konserven und allerlei nützlichen Kram im Überfluss. Ich nahm mir ein Taschenmesser, eine Schirmmütze um das Tuch loszuwerden, ein paar Handschuhe, vier Wasserflaschen und mehrere Riemen. Außerdem packte ich mehrere Feldjacken ein und ließ zwei Pullover dafür zurück. Den arg mitgenommenen Gürtel an meiner Jeans ersetzte ich durch ein Koppel. Esther und Mark plünderten den Sanitätsbereich. Jan hatte viele Gewehre getestet und fünfundzwanzig ausgewählt, die er für gut hielt. Dazu hatte er Unmengen an Munition und einen Klappspaten für jeden zusammengetragen. Wir sammelten Äxte, Hämmer, Hacken, Seile, Nägel, kurz, alles ein, was uns irgendwie nützlich oder notwendig erschien. Als wir unsere Sammlung betrachteten, war klar, dass die Pferde nicht reichen würden. Jan fuhr einen Unimog aus einer der Hallen und wir beluden ihn mit allem, was wir gefunden hatten. Danach war er noch nicht voll und wir sammelten weiter Kleidung, Munition, Werkzeug und Konserven, bis es fast nicht mehr ging. Dann warfen wir unsere Rucksäcke auf die Ladefläche. Wir übernachteten in der Kaserne und verließen sie am nächsten Mittag, alle halb in Uniform und Zivil, die meisten mit einem Gewehr über der Schulter. Esther, Ben und ich gingen wieder an der Spitze, der Rest der Gruppe kam locker hinterdrein, Daniela führte die Pferde, am Schluss fuhren Carmen und Jan mit dem Unimog im Schritttempo. Die perfekte Karikatur einer Soldateska.

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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392 стр. 5 иллюстраций
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9783942625234
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