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Wir fanden Zutaten für ein fast komplettes Frühstück in meiner Küche. Ich würde ja gerne erzählen, wie ich ihr das Frühstück ans Bett gebracht habe, aber sie war zuerst wach und ich konnte sie gerade noch davon abhalten, mich zu bedienen. Sie stand entzückend nackt in der Küche und suchte den Kaffee. Ich holte ihn aus dem Wandschrank.

„Ich trinke fast nur Tee“, erklärte ich.

„Ach so. Ich finde mein Höschen übrigens nicht.“

„Oh.“

„Hast du eine Ahnung, was du damit gemacht hast?“

„Gefressen vermutlich. Ich wollte alles fressen.“

„Nein, ernsthaft. Es ist etwas“, sie zuckte mit den Schultern, „etwas blöd so.“

„So viel zu Männerphantasien.“

„Tut mir leid, dich zu enttäuschen.“

„Ich schlage vor, du suchst es, und ich mache das Frühstück.“

Sie fand es nicht, aber als sie aufgab, hatte ich den Tisch fertig gedeckt. Ich bot ihr an, sich bei meinen Shorts umzusehen und sie fand welche, die halbwegs saßen.

Wir saßen einander gegenüber und schauten uns lange an. Ich fand nichts in mir, das zweifelte, und langsam regte sich die Angst.

„Stimmt alles noch?“

„Ja.“

Natürlich sah sie den Felsblock, der mir vom Herzen fiel. Sie lächelte, beugte sich über den Tisch und küsste mich. „Guten Morgen, Liebster.“

Als ich wieder zu mir kam, strich sie gerade Marmelade auf ihr aufgebackenes Brötchen und sah sehr zufrieden mit sich und der Welt aus.

Ich saß wieder über meinen Landkarten, als sie kreischte. Sie war unter der Dusche und sie schrie dermaßen laut, dass ich vor Schreck meinen kalt gewordenen Tee über den Tisch schoss. Die Tasse fiel auf der anderen Seite polternd aufs Parkett, aber das hörte ich nur noch am Rande, weil ich in Rekordzeit im Bad war. Sie stand in der offenen Duschkabine, tropfte und schaute den Duschkopf anklagend an.

„Das Wasser ist kalt. Ganz plötzlich.“ Sie zitterte. „Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.“

„Ich kenne das. Aber ich dachte, dir wäre sonstwas passiert.“

„Kommt sowas hier öfter vor?“

„Eigentlich nur, wenn jemand gleichzeitig am Waschbecken heißes Wasser anmacht.“

„Hmmhm.“ Esther probierte das Wasser erneut aus – es blieb kalt. Sie seufzte. „Muss wohl so gehen.“

„Ich kann dich wärmen.“

Sie lachte. „Später.“

Immerhin durfte ich ihr ein Handtuch bringen. Während sie sich abtrocknete, starrte ich durch die Badezimmertür auf mein Faxgerät im Flur. Fax. Fax. Irgendwas stimmte nicht mit dem Fax. Ach ja. Keine Uhrzeit. Keine Uhrzeit. KEINE UHRZEIT. Ich ging zum nächsten Lichtschalter. Knipsknipsknips. Nichts. Radio. Auch nichts.

„Wir haben Stromausfall.“

„Was?“ Sie kam gerade aus dem Bad.

„Stromausfall. Deshalb ist das Wasser plötzlich kalt gewesen.“

„Das Wasser wird doch nicht kalt, wenn der Strom ausfällt. Du hast doch keinen Durchlauferhitzer, oder?“

„Nein …“

Ich fühlte mich ziemlich trottelig. Ich hatte keine Ahnung von Strom. Ich war Fotograf, kein Elektriker. Sie vermittelte Messehostessen. Trotzdem fand sie blitzschnell den Sicherungskasten und untersuchte ihn auf eine Weise, die mir sehr fachmännisch vorkam.

„Die Sicherungen sind alle in Ordnung.“

Ich ging ins Bad und probierte den Heißwasserhahn. „Das Wasser ist immer noch kalt.“

„Hm.“

„Wir können ja Wasser kochen und mit kaltem mischen. Dann kannst du warm baden.“

„Kochen? Ohne Strom, du Genie?“

„Ach ja.“

„Hast du Nachbarn, die du ein bisschen kennst?“

„Ja, Lebers unten.“

„Wenn es dir nichts ausmacht, gehe ich mal eben runter und frage, ob die Strom haben.“

„Ziehst du dir vorher was an?“

Sie schaute mich erstaunt und belustigt an. „Nein, ich tanze nackt durch euer Haus, Daniel, das mache ich gerne. Was ist los mit dir? Habe ich dir den Verstand rausgevögelt?“

Ich seufzte. „Ich glaube schon. Frag sie ruhig, ich halte derweil meinen Kopf unter Wasser. Kalt genug ist es ja.“

Sie lachte und gab mir einen schnellen Kuss auf den Mund. „Stell dich ans offene Fenster, du Gemüse, ich bin gleich wieder da.“

Sie tanzte schnell durch meine Wohnung, sammelte ihre (meine) Shorts, den Rock und eins von meinen T-Shirts ein, zog alles an und verschwand winkend durch die Tür.

Ich war zum ersten Mal seit gestern Nachmittag wieder alleine und atmete durch. Anstatt mich ans offene Fenster zu stellen, ging ich ins Bad, setzte mich auf den Boden und lehnte meinen Rücken an die wunderbar kalten Kacheln. Was war eigentlich passiert? Ich hatte mich verliebt und betrunken, hatte sie gehen lassen, sie hatte mich gefunden, ich hatte mehr Sex gehabt als in den letzten zwölf Monaten zusammen, und? Ich prüfte mich, so ruhig wie möglich und mit großer Vorsicht. Mein Verstand war mit Macht zurückgekommen. Es änderte nichts. Ich war glücklich.

So fand sie mich, im Badezimmer, mit geschlossenen Augen an den Kacheln lehnend.

„Alles in Ordnung, Daniel?“

„Ja, klar. Wie bist du herein gekommen?“

„Ich hatte die Tür nur angelehnt. Wirklich alles in Ordnung?“

Ich öffnete die Augen und sah, dass sie ehrlich besorgt war.

„Wirklich.“

Sie kniete sich neben mich. „Und weshalb siehst du so traurig aus?“

„Sehe ich traurig aus?“

„Ja.“

„Ich bin so glücklich wie lange nicht.“ Es war die Wahrheit, und sie merkte es.

„Das ist schön. Ich auch. Deine Nachbarn sind nicht da.“

„Nicht? Komisch.“

„Sie werden einen Ausflug machen oder so. Nicht alle verbringen komplette, schöne warme Sommertage im Bett, so wie wir.“

„Nein, wir sind klüger als die. Und es gibt keine schönen warmen Sommertage. Entweder sie sind schön oder warm.“ Ich grübelte ein wenig. „Aber es ist wirklich komisch, dass Lebers nicht da sind. Sie haben eigentlich ein ziemlich eingefahrenes Leben. Feste Gewohnheiten. Sonntags wird mittags gegessen. Es ist schon ein paar Mal vorgekommen, dass sie mich einladen wollten und dann wach geklingelt haben.“

Sie sah plötzlich sehr nachdenklich aus, ging zurück ins Wohnzimmer, setzte sich aufs Sofa, zog die Beine an und starrte aus dem Fenster. Ich wartete.

„Daniel, hast du seit gestern, seit du von der Party zurück bist, jemanden gesehen?“

„Ja, dich. Von vorne, hinten, oben, unten …“

Sie griff nach einem Bleistift, der auf der Fensterbank lag, und warf ihn in meine Richtung, ohne vom Fenster wegzugucken.

„Außer mir, meine ich.“

„Ich bin nicht vor der Tür gewesen.“

„Du bist vom Bunker hier hingekommen.“

„Da habe ich auch nur dich gesehen. Vor meinem geistigen Auge.“

„Du bist sehr süß, mein Schatz, aber hör bitte für einen Moment mal auf, mit deinem Schwanz zu denken. Hast du jemanden gesehen? Es ist wichtig.“

Ich kramte in meiner Erinnerung, aber das Ergebnis war sehr unergiebig.

„Tut mir leid, Esther. Ich war müde, noch etwas betrunken, und es war mir viel zu hell. Ich glaube nicht, dass ich jemanden gesehen habe. Aber ich könnte es nicht beschwören.“

„Kam dir nichts komisch vor?“

„Genau genommen war ich froh, dass ich es in mein Bett geschafft habe und nicht auf der Treppe umgefallen bin. Eine lila Kuh in meinem Wohnzimmer wäre mir nicht komisch vorgekommen.“

„Dann will ich dir mal was erzählen. Ich wollte es dir eigentlich schon gestern Nachmittag sagen, als ich die Treppe hochkam. Und dann wollte ich es dir gestern Abend erzählen, als du am Fenster gestanden bist, aber dann war ich zu müde.“

„Und?“

„Ich bin mit dem Rad zu dir gefahren. Gestern am helllichten Nachmittag. Ich hatte es sehr eilig, okay, aber ich habe keinen einzigen Menschen gesehen. Am Samstagnachmittag.“

„Wo bist du denn hergekommen? Durch die Stadt?“

„Nein, aus Quettingen durch den Bürgerbusch.“

„Ja, siehst du, durch den Wald. Und es war sehr heiß.“

„Es sind nicht alle so lichtscheu wie du. Und noch was: Ich habe unterwegs mindestens drei Autos gesehen, die mitten auf der Straße standen. Einfach so.“

„Hm.“ Ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen. Erfolglos.

„Ich habe ein komisches Gefühl, Daniel.“

„Was für ein Gefühl?“

„Komm doch bitte mal her und sieh aus dem Fenster.“

Ich schaute aus dem Fenster und sah meine Straße. Häuser. Fenster. Ein Stück Brachland. Am Bürgersteig ein paar Autos.

„Was siehst du?“

„Ich weiß nicht, was du meinst. Ich sehe nichts.“

„Genau. Nichts. Keine Menschen.“

„Das ist eine sehr ruhige Straße, Esther. Ich weiß nicht, was du …“

„Nichts, Daniel. Keine Menschen. Keine Menschen auf der Straße, keine Menschen auf den Balkonen, niemand am Fenster, kein Auto fährt durch, nichts, gar nichts.“

Sie sprang plötzlich auf, griff an mir vorbei, öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und brüllte aus Leibeskräften: „Haaaaallooooo! Ist da jemand?!“

Ich zog sie peinlich berührt zurück. „Esther, bitte …“

Sie drehte sich heftig zu mir um. Ihre Lippen waren fest zusammengekniffen, weiß. Ihre Finger deuteten aus dem Fenster, sie schubste mich vor die Fensterbank. Ich sah hinaus.

Nichts.

Alles so wie vorher. Kein Kopf reckte sich aus irgendeinem Fenster, um zu sehen, welche Irre da so schrie. Keine Balkontür ging auf. Niemand schaute hoch zu uns.

Nichts.

„Daniel, da ist niemand“, sagte sie, und ich sah die mühsam unterdrückte Panik in ihren Augen.

„Das kann nicht sein.“ Aber langsam kroch in mir das Gefühl hoch, dass sie Recht haben könnte. Ein sehr, sehr kaltes Gefühl.

„Komm mit mir runter. Bitte.“

Ich nickte, zog mich schnell und wortlos um und verließ mit ihr die Wohnung. Wir traten aus dem Haus und spürten es.

Es war gespenstisch.

Alles war leer.

3

Wir gingen über viele Umwege zu ihrer Wohnung in Quettingen und es war, wie sie gesagt hatte. Wir begegneten niemandem. Auf den Straßen standen Autos herum. Wir sahen sie näher an und stellten fest, dass alle Schlüssel steckten. Ein paar Radios liefen noch, aber die meisten Batterien waren leer. Es war, als wären die Fahrer einfach während der Fahrt verschwunden. Wir klopften an Fenster und Türen. Wir schrieen. Als wir in ihrer Straße ankamen, waren wir verzweifelt dazu übergegangen, Steine in Fensterscheiben zu werfen. Wir wären glücklich gewesen, wenn uns jemand angezeigt hätte. Aber nichts regte sich. Nirgendwo.

Sie öffnete die Haustür, wir klopften bei all ihren Nachbarn, ohne Erfolg. Schließlich führte sie mich in ihre Wohnung. Als sie die Tür öffnete, kamen ihr zwei Katzen entgegen. Mit einem lauten Schluchzer nahm sie beide in den Arm und rief in die leere Wohnung.

„Andy!? Andy!?“

Richtig, sie hatte mir erzählt, dass sie mit einer Freundin zusammenwohnte. Eine von denen, mit denen sie den Hostessenservice aufgezogen hatte.

„Andy! Wo bist du?“ Sie starrte in die leere Wohnung. Und brüllte. Die Katzen sprangen erschrocken aus ihrem Arm.

„Andy, wo bist du?! Bitte, Andy, ich habe einen neuen Freund, ich möchte, dass du ihn kennen lernst, Andy, bitte, bitte!“ Sie schrie am Ende ihrer Kraft und brach weinend zusammen.

Ich kniete mich neben sie und nahm sie in den Arm. „Sie ist weg, Esther.“

„Vielleicht hat sie mir einen Zettel da gelassen. Sie lässt mir immer einen da. Sie ist wahnsinnig lieb, du musst sie kennen lernen …“ Sie konnte kaum noch atmen.

Ich konnte nichts sagen. Die Kälte lähmte mich. Ich hatte nicht gewusst, wie kalt Angst sein kann.

„Wo ist sie?“, wimmerte Esther. „Wo sind alle, Daniel?“

„Ich weiß nicht“, sagte jemand von weit her. Ich merkte erstaunt, dass ich es gewesen war. „Ich weiß es nicht.“

„Hast du Eltern, Geschwister? Hast du Freunde? Den mit den Geschichten, diesen Sven?“

„Ja.“ Oh mein Gott. Es war so kalt.

„Sind die auch alle weg? Wie meine liebste Freundin?“ Ihre Stimme kippte, sie stand kurz vor der Hysterie.

„Ja … ich glaube …“ Oh Gott, oh mein Gott.

„Ich habe Angst, Daniel“, flüsterte sie gepresst. Ich schwieg. Und hatte auch Angst. Angst!

Sie presste sich an mich und ich hielt sie so fest ich konnte. Weil mir so kalt war, begann ich, sie zu streicheln und sie streichelte mich. Ich trug sie durch die Wohnung, fand ein Bett und legte sie darauf. Sie zog mich zu sich. Es war die Art von Sex, die man nach Beerdigungen hat. Wir schliefen miteinander, um uns zu beweisen, dass wir noch da waren. Und um zu vergessen, was wir scheinbar verloren hatten.

Sie schlief, und ich taumelte durch die Wohnung. Ziellos. Ich kam am Telefon vorbei und fand einen großen, gelben Klebezettel an der Wand.

Andy,

endlich zu Hause?

Es ist kurz nach vier, ich fahre nochmal weg. Ich nehme das Rad. Ich habe jemanden kennen gelernt (oder wie nennt man das bei Klassentreffen – wiedergetroffen?). Er heißt Daniel und war in der Schule völlig lahm.

Ich glaube, er hat sich verändert.

Mach dir keine Sorgen, wenn ich heute Abend nicht nach Hause komme.

E.

P.S.: DRÜCK MIR DIE DAUMEN!!!!!!!!!!!!!!!!

Ich betrachtete den Zettel eine Weile, knüllte ihn zusammen und warf ihn in den Papierkorb, der neben dem Telefontischchen stand. Dann sank ich an der Wand zusammen und zitterte und heulte, bis ich vor Panik und Kopfschmerzen bewusstlos wurde.

Es war schon dunkel, als wir auf ihrem Bett saßen und versuchten, eine Erklärung zu finden. Die Angst und das Entsetzen hatten uns so betäubt, dass wir stumpf genug waren, das Ganze wie ein Rätsel zu betrachten. Ich hatte mehr Vorschläge, denn ich hatte mehr Science-Fiction gelesen. Aber nichts klang irgendwie logisch. Schließlich kam ihr eine Idee.

„Vielleicht sind wir tot.“

„Was?“ Mir war nicht sofort klar, was sie meinte.

„Ja, wäre das nicht vernünftig? Ich meine, dann sind nicht alle anderen verschwunden, sondern nur wir.“

„Hm.“ Der Gedanke breitete sich in mir aus, er war so unsagbar tröstlich, dass er mich wärmte. Zum ersten Mal seit Stunden konnte ich denken, ohne die Kälte zu spüren, von der ich gedacht hatte, dass sie mich umbringen würde. Natürlich – wenn wir tot waren, dann war eigentlich gar nichts geschehen. Die Welt, wie ich sie gekannt hatte, war gar nicht leer. Nur ich hatte sie verlassen. Gemeinsam mit dieser wunderbaren Frau. Wie schön. Esther schien die Idee ebenso zu gefallen, sie begann zu erläutern: „Es gab da mal einen Film. Da war die Welt auch plötzlich leer, ich weiß nicht mehr, irgendwas ist passiert, und danach waren nur noch die da, die in dem Moment, als es passiert ist, zufällig gerade gestorben sind.“

„Du meinst, wir sind tot?“, fragte ich, zunehmend begeistert.

„Ich meine gar nichts“, sagte sie. „Aber es wäre logisch, oder?“

„Keine Ahnung“, meinte ich aufgeräumt. „Ich war noch nie tot. Ich weiß nicht, wie das ist.“

„Vielleicht bin auch nur ich tot.“ Sie grinste. „Ich bin tot, im Himmel. Du bist mein persönlicher Engel.“

„Erbarmen“, sagte ich, zog sie zu mir und gab ihr einen langen Kuss.

Sie knuffte mich.

„Komm, trag’ zur Lösung des Problems bei.“

Ich bemühte mich. Ich wollte diesen großen Trost unbedingt logisch untermauern. „Also, wenn jemand tot ist, dann wir beide, denn ich weiß, dass ich noch lebe.“

„Das ist großer Quatsch, den du da redest“, sagte sie freundlich.

Ich hatte es gerade auch gemerkt und versuchte zu präzisieren. „Also, ich weiß, dass ich noch hier bin. Weil ich bin. Also, weil ich es weiß. Ich bin ja da …“, ich brach verwirrt ab.

Cogito ergo sum?“

„Ja, so in etwa.“

„Ich will dir mal glauben. Jedenfalls: Es ist viel angenehmer, mit dir tot zu sein als alleine.“ Sie küsste mich lange und warm.

„Also“, sagte ich, als ich wieder sprechen konnte, „sagen wir mal, wir sind tot. Wann sind wir gestorben?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Gestern oder vorgestern.“

„Nicht später, als du zu mir gefahren bist?“, überlegte ich. „Denn da war ja schon alles leer. Wann bist du von der Party nach Hause gefahren?“

„Ganz früh. So gegen sieben.“ Sie dachte nach. „Ich habe niemanden gesehen. Aber ich glaube, es waren auch noch keine leeren Autos auf der Straße. Ich weiß es aber nicht.“ Sie zog gedankenverloren an ihrer Unterlippe. „Ich kann mich ehrlich nicht erinnern. Ich glaube aber, ich habe auch kein fahrendes Auto gesehen. Aber das kommt vor, am Samstagmorgen.“

„Also irgendwann in der Nacht oder Samstag am Morgen.“ Ich dachte nach, immer noch auf morbide Weise verliebt in den Gedanken. „Ich vermute, wenn du Recht hast, sind wir in der Nacht gestorben. Wahrscheinlich, als wir unten standen.“

„Oh, wie schade.“ Sie lächelte mich an. „Das war so schön.“

„Ja, aber ist doch logisch“, führte ich aus. „Wenn wir zusammen gestorben sind, muss es ein Unfall oder ein Verbrechen gewesen sein. Wir sind zu jung und gesund, als dass es wahrscheinlich ist, dass wir gleichzeitig einen Herzinfarkt bekommen, oder sowas.“

„Ja, du bist jung und gesund.“ Ihre Augen glitzerten.

„Jetzt denkst du mit dem Unterleib.“

„’Tschuldigung.“

„Wenn nämlich auf der Party etwas passiert wäre“, überlegte ich weiter, „dann wäre es nur logisch, dass ein paar von den anderen auch noch da sind.“

„Ja, und?“, fragte Esther erstaunt.

„Wie, und?“

„Spricht irgendwas dagegen, dass sie noch da sind?“

Ich überlegte eine Weile. „Nein, du hast Recht. Sie könnten noch da sein.“

Ich merkte, dass ich langsam schläfrig wurde, und ihre Hand, mit der sie meinen Bauch streichelte, wurde auch immer langsamer.

„Lass uns morgen nach ihnen suchen“, schlug ich vor.

„Gute Idee“, murmelte sie.

Sie küsste mich auf den Arm, der gerade in Reichweite ihrer Lippen war, und schlief ein. Ich betrachtete sie noch eine kleine Weile und glitt in die Dunkelheit.

4

Wir brauchten nicht zu suchen. Wir wurden geweckt. Ich wachte von Glockengeläut auf und dachte zuerst, was für ein irrer Traum das gewesen war. Dann sah ich, dass Esther senkrecht neben mir im Bett saß – ihrem Bett – und wusste, dass ich nicht geträumt hatte. Die Kälte kam zurück und ich rief mir den tröstlichen Gedanken von gestern Abend ins Gedächtnis zurück. Niemand war fort – außer uns.

„Daniel? Bist du wach? Was ist das?“

„Glocken“, sagte ich. „Kirchenglocken.“

„Ja, klar. Aber so komisch.“

Ich sah sie unschlüssig an. „Sollen wir hingehen?“

Sie überlegte eine lange Weile, während die Glocken nervtötend läuteten. Kein angenehmes Dong-Dong, Dong-Dong, sondern Pong, Pong, Pong, Pong. Dann nickte sie.

„Ja. Was auch immer das ist, ich will es wissen.“

„Gut, ich auch.“

Wir wuschen uns kurz und zogen uns schnell an. Zwischendurch hörten die Glocken einmal auf, aber gleich darauf ging es wieder los. Pong, Pong, Pong, Pong, es war grauenhaft. Aber es gab keine Musik, die ich in diesem Moment lieber gehört hätte. Da war jemand. Wir waren nicht ganz allein. Bevor wir die Wohnung verließen, schaute Esther die beiden Katzen lange an, nahm jede für sich auf den Arm, drückte sie an sich und öffnete mit einem schnellen Rundgang durch die Wohnung alle Fenster und die Balkontür. Dann nahm sie mich am Arm und zog mich hinter sich her, aus der Wohnung. Als wir auf der Straße waren, hörten die Glocken wieder auf, aber Esther hatte das Geräusch schon lokalisiert. Sie zeigte auf den weißen Kirchturm, der über die Häuser ragte, und begann zu rennen. Mir blieb gar nichts übrig, als hinterherzulaufen. Sie war schnell und ich konnte gerade so mithalten. Keine zehn Minuten später standen wir vor der Kirchentür, keuchend. Als sie vorging, um die Tür zu öffnen, hielt ich sie zurück.

„Warte.“

„Was ist?“

„Lass mich zuerst. Wenn da irgendetwas Gefährliches …“

Sie schaute mich wieder mit diesem lieb-mitleidigen Blick an.

„Du bist süß und wunderbar und mein Held, aber wenn da irgendwas Gefährliches drin ist, werden wir zusammen sicher besser damit fertig als du alleine, oder?

Wir öffneten vorsichtig die Tür und gingen in das kühle Kirchschiff. Da saß jemand mit dem Rücken zum Eingang. Breite Schultern, kurze blonde Haare. Neben ihm, im Mittelgang, lag ein großer Vorschlaghammer. Daher also das komische Geräusch.

„Hallo?“ Sie war wieder schneller als ich. Mist, ich wollte doch ihr Held sein.

Er drehte sich um und ich erkannte ihn sofort. Vor zwei Nächten und einer Ewigkeit hatte ich Esther erklärt, dass seine Nase leichter zu malen sei, als sie. Es war Oberleutnant Jan Müller, der Klassenclown. Er kniff die Augen zusammen, klar, wir kamen aus der Sonne hinein.

„Wir sind’s, Esther und Daniel.“

„Ah.“ Er war etwas kurzatmig, kein Wunder, er hatte lange den Hammer geschwungen. „Hallo, Daniel, schön dich zu sehen. Richtig schön. Esther?“

„Esther Brandt“, erklärte ich. „Wir hatten auf der Schule nicht viel mit ihr zu tun. Dumm von uns.“

„Ah, Esther, ja. Entschuldige. Ich konnte mit dem Namen gerade kein Gesicht verbinden.“

„Sowas Ähnliches hat mir dieses Wochenende schon mal jemand gesagt.“ Sie knuffte mich in die Seite. „Dem hier hab ich’s ausgetrieben.“

Er schaute kurz verwirrt, erinnerte sich dann, verstand und lächelte.

„Ah ja, stimmt. Ihr wart mal kurz zusammen draußen. Genau, du hast dann später alle verrückt gemacht, weil du seine Adresse haben wolltest. Anstatt ihn einfach zu wecken.“

„Hast du?“, fragte ich.

„Ich war nicht sicher“, erklärte sie, ohne mich zu beachten, „dass er seine Adresse zu dem Zeitpunkt wusste.“

Er lachte, hustete und setzte sich. „Schön für euch, herzlichen Glückwunsch. Entschuldigt, aber ich bin etwas kaputt.“

„Schon klar“, sagte ich. „Wir haben …“

„Hallo?“

Noch ein Gesicht von der Party, der Name fiel mir nach ein paar Sekunden ein: Daniela Pracht. Sie schwebte wie ein Geist in die Kirche, den Blick starr an uns vorbei gerichtet. Schließlich drehte sie sich zu uns und lächelte. Das heißt – ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. In ihren Augen glänzte leeres Entsetzen. „Ich habe das Läuten gehört“, flüsterte sie. „Wart ihr das?“

Eine halbe Stunde später saßen wir zu neunt vor der Kirche. Außer Daniela hatten sich noch Lars Brandhorst und Eva Lupzig eingefunden, die ich beide kaum kannte, Matthias Belchart und David Renner, Mitorganisatoren der Fete, und Susi Pferch. Matthias war zu Schulzeiten ein guter Freund von mir gewesen. Lars und Eva waren, wie ich den Gesprächen entnahm, seit der Schulzeit ein Paar und wohnten schon lange in Quettingen. Susi war eine Freundin von Esther. Eigentlich wohnte sie neuerdings in München, aber die beiden waren in regelmäßigem Mail- und Facebook-Kontakt. Sie war in einer ähnlichen Verfassung wie Daniela in die Kirche gekommen, zitternd, mit verweinten Augen, aber dann hatte sie Esther gesehen und sich auf sie gestürzt, wie eine Ertrinkende auf einen Rettungsring. Und im selben Maße, in dem immer mehr Leute in die Kirche geströmt waren, hatte sie sich beruhigt. Sie war, so erfuhr ich, schon vorher ziemlich alleine gewesen, Single, neu in einer fremden Großstadt, beide Eltern schon gestorben, keine Geschwister … als sie sich dann gestern morgen im Hotel wortwörtlich alleine wiedergefunden hatte, hatte sie zuerst an einen Traum geglaubt – und dann an eine Strafe, an irgendeine große, bösartige Macht, die sich vorgenommen hatte, sie ganz persönlich zu quälen. Die offensichtliche Tatsache, dass zumindest diese Befürchtung nicht richtig war, war eine Erlösung für sie.

Daniela aber war ein Wrack. Sie wohnte in Opladen noch bei ihren Eltern – beziehungsweise hatte bei ihnen gewohnt, bis sie verschwunden waren. Seither war sie durch die Straßen geirrt. Sie war die Verstörteste von uns allen. Die anderen schienen, nach ihren Erzählungen, Ähnliches durchgemacht zu haben wie Esther und ich. Unglauben, Panik, Angst – und dann irgendein tröstlicher Gedanke, an den sie sich geklammert hatten, um zu überleben und geistig gesund zu bleiben. Wahrscheinlich waren diese tröstlichen Gedanken überhaupt der Grund, der es uns möglich gemacht hatte, hier zusammenzukommen, viel mehr als Jans Geläut. Irgendwo in mir pochte der dumpfe Gedanke, dass es nur zwei Gründe gab, aus denen ich noch lebte: Esther und unsere Idee vom Leben nach dem Tod. Ohne dies hätte ich mich wahrscheinlich umgebracht oder würde jetzt wahnsinnig durch die leere Stadt stolpern, bis ich von irgendeiner Brücke fallen, von der Hitze niedergestreckt oder sonst irgendwie erlöst würde. Ich hatte so eine Idee, dass Daniela nicht weit von diesem Schicksal entfernt war.

Wir waren vor die Tür gegangen, Esther, Susi und ich hielten uns etwas abseits, weil ich im Schatten bleiben wollte. Ich hatte meinen Kopf in Esthers Schoß gelegt und döste vor mich hin. Jan lehnte in der Kirchentür, gab seinen Kräften Zeit, zurückzukommen und unterhielt sich leise mit David, der neben ihm stand. Die anderen saßen in einem lockeren Halbkreis vor dem Kirchtor. Matthias, Lars und Eva diskutierten die Frage, die uns von nun an in unendlichen Gesprächen beschäftigen sollte: Was ist passiert? Lars und Eva waren zu der Annahme gelangt, wir seien in eine andere Dimension gewechselt. Matthias hatte eine komplizierte Erklärung, in der mehrere Parallelwelten vorkamen. Daniela klammerte sich wie eine Stürzende an den Gedanken, dass sie träume. Ich schlug von unserem Platz aus vor, dass wir alle tot seien. Die Idee wurde aufgenommen und diskutiert.

Susi griff in ihre Tasche, zückte ein iPhone und betrachtete es bitter. „All persons I’ve called are temporarily not available. Du übrigens auch nicht, Esther.“

Esther nickte. „Ich wollte mein Handy gestern ausprobieren. Aber der Akku war leer.“ Sie lachte gallig. „Endgültig.“

Ich sah auf. „Wann war das?“

Sie strich mir übers Haar und küsste mich. „Da hast du geschlafen, süßer Mann.“

„Ich habe alles versucht, echt“, fuhr Susi fort. „So lange es Strom gab, und dann so lange der Akku von meinem Netbook und dem iPhone noch Saft hatten. Alles. Alle Mailadressen, Facebook, Xing … Facebook war ziemlich bald unten und kam dann nie wieder hoch, Twitter war auch schnell weg, trotzdem … Ich habe wirklich Kontakte überall, in den Staaten, in Frankreich, Schweden, in Korea, Japan, Australien … Nichts. Gar nichts. Niemand hat geantwortet. Die ganze Welt …“ Sie stockte. „Die ganze Welt …“, wiederholte sie dann leise.

Esther legte einen Arm um Susi, aber in dem Blick, den sie mir zuwarf, stand dasselbe Entsetzen, das mich ergriffen hatte. Wieder. Und nicht zum letzten Mal, ich begann zu ahnen, dass es immer da sein würde, von nun an. Die ganze Welt …

Vor dem Kirchentor wurde die Diskussion über die Frage nach dem Was? und Warum? derweil immer schwungvoller, bis das kam: „Es ist mir, ehrlich gesagt, scheißegal. Deshalb habe ich euch nicht hergerufen.“

Jemand hatte Jan gefragt, was er glaube. Das war die Antwort. Sie starrten ihn verständnislos an. Matthias fing sich als erster.

„Aber wir müssen doch wissen, was passiert ist.“

„Später vielleicht. Erstmal nicht.“

Das klang interessant. Ich setzte mich auf. Jan grinste zu uns hinüber.

„Ah, auch wach?“

„Erzähl“, sagte ich, „wir sind ganz Ohr.“

Er nickte. „Gut.“

Jan setzte sich in die Tür. Wir kamen etwas nach vorne, so dass wir nun fast einen Kreis bildeten.

„Es ist offensichtlich, dass alle verschwunden sind“, begann er. „Also, fast alle. Ich denke, dass wir erstmal planen müssen, wie wir überleben. Nicht warum. Es wird hier bald sehr gefährlich werden. Wir müssen aus der Stadt raus. Und wir müssen uns zusammentun, so viele wie möglich. Deshalb die Sache mit der Glocke.“

Jan hatte länger als wir alle darüber nachgedacht. Er war etwa im selben Zustand wie ich von der Party gekommen und hatte auch erstmal geschlafen. Aber dann war niemand gekommen, um sein Leben zu bereichern, wie bei mir, sondern er hatte sich entschlossen, das Wochenende in der Kaserne zu verbringen und ein bisschen zu arbeiten, Papierkram zu erledigen. Sobald er nach draußen gegangen war, hatte er gemerkt, was passiert war. Er hatte wenig Leute gehabt, um die er hätte trauern können und niemanden, um Theorien zu besprechen. Also war er auf eine andere Überlebensstrategie verfallen – Pragmatismus. Er hatte die Situation überdacht und war zu einigen beunruhigenden Ergebnissen gekommen. Die größte Gefahr, so erklärte er uns, war Feuer. Solange noch Strom da war, mussten Kochplatten und vielleicht auch ein paar Bügeleisen an gewesen sein. Zigaretten waren auf den Boden gefallen. Flugzeuge abgestürzt.

„Ich glaube“, erklärte er, „dass schon jetzt überall in der Stadt Brände schwelen. Über kurz oder lang wird Feuer ausbrechen und solange brennen, bis es keine Nahrung mehr hat. Und denkt an das Bayer-Werk.“

Er hatte sich einen Plan ausgedacht. Und stellte ihn uns vor. Er wollte ins Bergische Land ziehen, mit so vielen Gleichgesinnten wie möglich. Weg von den Städten und ihren Gefahren. Nah an einen Fluss, am besten die Wupper oder die Düssel. Dort einen Hof suchen, ein paar Häuser darum bauen und zu überleben versuchen. Es war unfassbar, wie konkret er alles vor Augen hatte. Er dachte nur an das Wie. Es war zu viel. Das war zu schnell. Oder war es seine Form von Flucht? Radikaler Pragmatismus. Tun. Nur nicht denken. Er fragte nach unseren Berufen. Die Ausbeute war kärglich. Matthias war zum Beispiel Lehrer für Deutsch und Pädagogik, Eva Versicherungskauffrau, Daniela Finanzbeamtin, ich Fotograf.

„Schade“, sagte Jan, „nehmt es mir nicht übel, aber wirklich nützlich sind für uns jetzt nur Lars und Esther. Architekt und Krankenschwester, das ist gut. Pädagogen brauchen wir frühestens, wenn wir Kinder haben, wenn überhaupt, und mit Versicherungen, Finanzämtern und Fotografie ist es erstmal vorbei. Mit Armeen, was mich betrifft, wohl auch.“

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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ISBN:
9783942625234
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