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Schade, dass niemand da war, um zu lachen.

Drei Tage später fanden wir am Morgen, kurz nachdem wir aufgebrochen waren, was wir gesucht hatten. Meine Erinnerung hatte mich nicht getrogen. Auf einem Hügel, etwa einen Kilometer von einem kleinen See entfernt, lag an einer Landstraße ein großer Bauernhof.

6

Über den Nachmittag hatte sich unsere Stimmung geändert. Am Morgen, als wir den Hof entdeckt hatten, waren wir euphorisch und ausgelassen gewesen. Nach Tagen der Wanderung waren wir endlich am Ziel – und an was für einem Ziel. Das Gehöft bestand aus einer Scheune, den Ställen und einem großen Wohnhaus, dazwischen ein staubiger Hof, eine Wiese und Beete, die schon zu verwildern begonnen hatten, das Ganze umfriedet von einer fast zwei Meter hohen Mauer aus Natursteinen. Ein Teil der Scheune war zu einem Hofladen ausgebaut worden – alles in allem eher ein kleiner Gutshof als das, was ich mir unter einem Bauernhof vorstellte. Viel Platz und malerischer, als die meisten von uns es sich erträumt hatten. Direkt, als wir ankamen, war uns ein Esel entgegengekommen, der sich offenbar gut alleine gehalten hatte, nun aber froh schien, wieder Menschen zu sehen. Jemand taufte ihn spontan „Hannibal“, nach irgendeinem literarischen Esel, und es schien uns fast folgerichtig, dass dieser Traumhof uns nicht ohne Begrüßung empfing. Wir hatten begeistert angefangen, ihn zu untersuchen und in Besitz zu nehmen.

Den Hof aber in Besitz zu nehmen, ihn auch nur oberflächlich so weit vorzubereiten, dass wir das Gefühl hatten, hier länger bleiben zu können, das war harte Arbeit, und zwar von Beginn an. Die Menschen, die hier gelebt hatten, hatten offenbar die übliche Mischung aus Ackerbau und Milchwirtschaft betrieben, dazu ein paar Hühner gehalten. Die Hühner hatten das Verschwinden ihrer Herren scheinbar alle überlebt – wir fanden im Hühnerstall zumindest keine toten Tiere. Allerdings auch nur noch zwei Lebende, der Rest – und der Zahl der Boxen nach mussten es mindestens zwölf gewesen sein – war verschwunden. Später stellten wir fest, dass die wenigen, die es geschafft hatten, auch ohne ihre menschlichen Beschützer eine Weile zu überleben, wieder zu dem Leben als Waldbewohner zurückgekehrt waren, das ihre Ahnen geführt hatten. Zunächst aber wussten wir nur, dass wir nun Besitzer eines fast leeren Hühnerstalls und zweier trotziger Hennen waren.

Leer war auch der Hundezwinger. Sein Bewohner hatte es geschafft – vermutlich rasend vor Durst – die Tür aus Maschendraht zu durchbrechen und war verschwunden. Dafür gab es eine Menge Katzen, die wir aber zunächst gar nicht bemerkten. Im Laufe des Tages entdeckten wir immer mehr von ihnen, mal schlenderte eine über den Innenhof, dann begegneten wir ihnen in der Scheune und im Haus – sie waren überall und lebten vermutlich kaum anders als vor dem großen Verschwinden. Wir fanden es bemerkenswert, dass sie die beiden verbliebenen Hühner unbehelligt gelassen hatten. Aber sie konnten es sich wohl leisten, wählerisch zu sein. Wir waren froh, dass sie da waren und täuschten uns darin nicht. Auch wenn sie niemals zahme Hauskätzchen wurden – was sie als Hofkatzen vermutlich auch nie waren – sie waren zuverlässige Verbündete gegen Ratten und Mäuse, die uns sonst sicher größere Probleme gemacht hätten.

Das Problem waren die Kühe des Hofes. Zu Beginn unseres Exodus hatten wir oft in der Ferne das Gebrüll von Kühen gehört. Ich hatte mir nicht viel dabei gedacht. Trotz meiner ausgedehnten Wanderungen in den letzten Jahren war ich durch und durch ein Stadtkind, ich brachte das ferne Brüllen zwar damit in Verbindung, dass die Kühe wohl ihre Herren und die damit verbundene Routine des Melkens vermissten. Dass ich Zeuge wurde, wie rings umher Geschöpfe, die wir in eine widernatürliche Abhängigkeit gezüchtet hatten, qualvoll eingingen, war mir nicht klar. Uns allen nicht. Von daher bemerkte ich auch kaum, dass das Geschrei der Kühe nach und nach weniger wurde.

Als wir den Hof erreicht hatten und oberflächlich zu erkunden begannen, sah ich mir vor allem den Hühnerstall und die Scheune an und kümmerte mich nicht um das große, flache Gebäude dahinter. Ich entdeckte die beiden Hühner, begegnete einigen Katzen, schaute mich in der Scheune um, fand alles, soweit ich das beurteilen konnte, stabil und gut und überlegte schon, ob und wie wir die Gebäude nutzen konnten. In diese Gedanken versunken kam ich zurück auf den Innenhof, wo ich Esther fand, die Carmens Knöchel untersuchte. Unsere Verletzte lag halb auf einer Bank vor dem Haupthaus, lehnte sich an Ben und fluchte hin und wieder leise, wenn Esther an ihrem Fuß drückte, drehte und zog.

„Autsch. Scheiße.“

„Tut mir leid“, sagte Esther automatisch.

„Kannst du das nicht irgendwie anders …“ fragte Ben.

„Ich könnte sie röntgen“, entgegnete Esther, ohne aufzuschauen. „Habe ich mal auf ’ner Fortbildung gelernt. Wenn du eben den Apparat vorbereiten würdest.“

Ben schwieg verlegen, aber Carmen lachte. „Lass mal, das geht schon …“, sie zog zischend die Luft ein.

„Bin gleich fertig“, sagte Esther, mit so etwas wie Mitleid in der Stimme. Ich trat hinzu.

„Und?“

„Immer noch dasselbe.“ Sie legte den Fuß ab, und Carmen ließ sich auf Ben sinken, was dem ziemlich recht zu sein schien. „Ich bleibe dabei – kein Bruch, kein Riss. Überdehnt vermutlich.“ Sie sah Carmen streng an. „Wenn du gestern nicht rumgelaufen wärst, hättest du sicher kaum noch Probleme.“

„Ja, aber das Pferd …“

Esther lachte und winkte ab. „Wie auch immer. Das wird wieder. Am besten, du reitest runter zum See und legst den Fuß rein. Morgen oder übermorgen sollte das Thema durch sein. Hattest du schon mal einen Bänderriss da unten? Oder ’ne Dehnung?“

„Nein.“

„Gut. Mit etwas Glück bleibt davon nichts zurück.“

In diesem Moment kamen Jan und Daniela zwischen Scheune und Haupthaus hindurch auf den Innenhof. Jan sah grün aus, Daniela weinte. Ich sprang auf.

„Was ist?“

„Die Kühe.“ Jan deutete mit dem Daumen über die Schulter, in Richtung Scheune und den dahinter liegenden Stall. „Die hat seit Tagen keiner mehr gemolken …“

Ich verstand nicht. „Kann einer von uns das? Vielleicht sollten wir sofort …“

Carmen lachte bitter. „Das wird wohl kaum was nutzen, oder? Sie sind tot, denke ich.“

Jan nickte. „Fast alle. Zwei leben noch. Aber die …“ er schüttelte den Kopf. Inzwischen waren Lars, Erkan und Christos aus der Haustür gekommen.

„Was ist denn?“, fragte Lars. Jan erzählte. Im Stall lagen elf Kühe, neun davon tot. Einige waren schon aufgedunsen, alle angefressen, vermutlich von Hunden und Vögeln. Auch an den beiden noch lebenden Tieren hatten sie gefressen, die Kühe waren offenbar schon lange zu schwach, um sich noch zu wehren. Die Lebenden blökten und keuchten nur noch leise vor sich hin.

„Was sollen wir machen?“, fragte Erkan.

Wir taten alle ziemlich ratlos, obwohl wir natürlich genau wussten, was zu tun war. Aber es tat wohler, ein wenig über das Für und Wider, Ob und Wie zu diskutieren, als es wirklich zu tun. Ich bemerkte, dass Carmen sich an Ben hochgezogen hatte und leise mit ihm sprach. Er nickte, griff nach dem Gewehr, das neben ihm an der Wand lehnte, stand auf und reichte Carmen die Hand. Sie stützte sich auf ihn und erhob sich. Ben gab ihr die Waffe und sie gingen, sie auf seine Schulter gestützt, in Richtung Scheune. Jan rief ihr hinterher:

„Carmen, was …“

„Na, was wohl?“, rief sie zurück. Dann verschwanden die beiden zwischen Scheune und Haus. Eine kleine Weile verstrich, dann hörten wir einen Schuss. Kurz darauf zwei weitere. Als sie zurück kamen, setzte Ben sich wieder auf die Bank, Carmen legte sich neben ihn, den Kopf auf seinen Beinen, legte den Fuß hoch und rieb sich die Ohren. „Das piept noch bis übermorgen“, murmelte sie. „Scheiße laut, das Ding.“

Die Beseitigung der Kühe nahm den Großteil des restlichen Tages in Anspruch. Wir zerrten sie aus dem Stall, in dem es bestialisch stank. Dann wurde uns klar, dass wir sie mit reiner Muskelkraft wohl kaum sehr weit vom Hof würden entfernen können, jedenfalls nicht schnell. Es gab einen Traktor, aber niemand von uns konnte ihn fahren. Es stellte sich aber heraus, dass das nicht besonders kompliziert war, und so schleiften Micha und Jan die Kühe am Nachmittag mit Traktor und Unimog vom Hof. Als sie die letzte Fuhre machten, trotteten die meisten von uns erschöpft hinterher, nur Erkan, Kathrin und Simone blieben zurück, um aus dem, was wir an Konserven und haltbaren Lebensmitteln im Haus gefunden und mitgebracht hatten, ein Abendessen für alle zu bereiten. Carmen war, von Ben begleitet, zum See hinuntergeritten, wie Esther es ihr empfohlen hatte.

Durch die Sache mit den Kühen wurde uns unsanft wieder klar, dass wir scheinbar die letzten Menschen waren. Wir hatten ein riesiges Erbe anzutreten – und zwar mit allen Konsequenzen. Aber während wir arbeiteten, die Kühe aus dem dreckigen, stinkenden Stall zerrten, den Stall säuberten, Müll und Unrat beseitigten, wurde uns auch klar, dass wir hier buchstäblich an unserer Zukunft bauten. Das war eine Erfahrung, die mir zumindest neu war, und die meine anfängliche Niedergeschlagenheit in eine erschöpfte Befriedigung verwandelte.

Jan und Micha hatten die Kühe auf eine Wiese etwa zwei Kilometer vom Hof entfernt gebracht und dort mit den Fahrzeugen zusammengeschoben. Erst als Micha sie großzügig mit Benzin besprengte, machten wir uns die Mühe, den Wind zu prüfen. Er stimmte. Ob instinktiv oder zufällig – die beiden hatten die Kadaver mit dem Wind vom Hof entfernt, so dass der Rauch nicht zu uns zurückgeblasen würde. Jan tränkte einen Lappen mit Benzin, wickelte ihn um einen großen Ast, zündete ihn an und warf die Fackel auf den Haufen der Kadaver. Die heftige Verpuffung, die folgte, überraschte uns. Jan, Mark und Christos, die ganz vorne gestanden hatten, sprangen gerade noch schnell genug zurück. Michael hatte nicht mit dem Benzin gespart. Er stand etwas weiter hinten, neben mir an den Traktor gelehnt. Auch wir spürten die Hitzewelle.

„Ups“, sagte er.

„Ja. Das war heftig.“ Ich fuhr mir unwillkürlich durchs Gesicht. Die Kühe brannten, es stank nach verbranntem Haar. Gar nicht nach Grillfest, wie ich es mir vorgestellt hatte. Eine der aufgedunsenen Kühe explodierte mit einem seltsamen, fetten Ploppen. Mein Magen zog in Betracht, sich umzudrehen und ich suchte nach einem Gedanken, um mich abzulenken. Mir fiel etwas ein. „Kann es sein, dass ich neulich von dir in der Zeitung gelesen habe?“, fragte ich Micha. „Keine Ahnung in welchem Zusammenhang, aber …“

Er nickte. „Fußball wahrscheinlich. Ich spiele … ich habe zweite Liga gespielt.“

Ich staunte ihn an. „Echt? Du bist Fußballprofi?“

„Ja.“

„Wow.“ Ich überlegte. „Ich kann mich gar nicht erinnern … hast du früher auch schon gespielt? Ich meine – als wir noch in der Schule waren?“

„Woher sollst du das auch wissen, wir haben uns doch damals kaum gekannt. Aber klar, habe ich. Erst beim SV Schlebusch. Dann in Köln.“

„FC?“

„Ja. In den Jugendmannschaften. Dann erst in Düsseldorf und bis jetzt bei Kaiserslautern.“

„Hey. Dann spielst du ja jetzt bald Bundesliga.“

Er lachte. „Nein, Daniel. Jetzt fahre ich den Trecker.“

Ich lachte mit ihm. Für einen Moment hatte ich es wirklich vergessen. „Genau. Sorry.“

„Ach, ich weiß nicht. Ich bin alt für einen Fußballer, Daniel. Und ich habe es nie wirklich ganz nach oben geschafft.“ Er schaute auf und grinste mich an. Das Grinsen hatte etwas Gespenstisches. „Und ich wollte immer einen Hof haben, nach der Karriere. Ich hatte schon einen Makler darauf angesetzt. Für mich und die Frau und die Kinder.“

Ich sah ihn erschrocken an. „Du hattest Kinder?“ Ich dachte an die, die sich umgebracht hatten. Sie hatten alle Familie gehabt. Er schüttelte den Kopf.

„Nein.“

Mein Magen gewöhnte sich an den Geruch und wir schauten noch eine Weile in die Flammen. Dann brachen wir auf. Michael und Jan fuhren mit Traktor und Unimog voraus und waren bald außer Sicht. Aber wir hörten sie die ganze Zeit – die Welt war leiser geworden. Esther und ich ließen uns ein wenig zurückfallen. Wir gingen Hand in Hand hinter dem großen Pulk und sprachen wenig. Als wir auf dem Hof ankamen, war das Essen fast fertig. Mittels eines Schwenkgrills und eines großen kupfernen Kessels, der als Dekoration im Hofladen gestanden hatte, hatten Erkan, Kathrin und Simone Nudeln gekocht und eine Soße aus Corned Beef und Zwiebeln gezaubert. Als Carmen und Ben zurückgekommen waren, hatten sie geholfen. In der Scheune hatten sie Partytische und Bänke gefunden. Müde aßen wir unser wohlverdientes Abendessen, zufrieden, die erste große Aufgabe gemeistert zu haben.

Wir fühlten uns stark.

Nach dem gemeinsamen Essen verteilten wir uns bald auf die oberen Etagen des Haupthauses. Hier waren bis vor wenigen Tagen vier Wohnungen gewesen. Die größte, auf der ersten Etage, hatte eine Familie mit zwei Kindern bewohnt. Jan und Ben hatten die Tür aufgebrochen, danach konnten wir uns auf zivilisiertere Weise umsehen – Schlüssel zu allen Räumen des Hofes hingen sauber beschriftet im Flur dieser Wohnung. Die beiden kleineren Wohnungen auf der zweiten Etage waren auf eine unpersönliche Weise gemütlich, wir vermuteten, dass sie an Feriengäste vermietet worden waren. Unter dem Dach war noch einmal eine kleine Wohnung, die Spuren deuteten auf nur einen Bewohner.

Das Erdgeschoss bestand fast zur Gänze aus einem einzigen, großen Raum, dessen genauer Zweck sich uns nicht erschloss. Der Raum war nackt, der Betonboden ohne Belag, die Wände roh verputzt ohne Tapete. Mehrere Fahrräder standen hier, mehrere Pappkartons, die Geschirr enthielten, stapelbare Stühle und ein Deckenfluter. Dennoch schien das kein einfacher Abstellraum zu sein – die drei großen Fenster waren doppelverglast, an der Decke war ein sichtbar teures Strahlersystem befestigt.

Es schien, als sei dieser Raum für den Ausbau vorgesehen gewesen und nur vorübergehend als Lager genutzt worden. An den großen Raum schlossen sich ein kleiner Abstellraum voller Reinigungsmittel und ein Vorratsraum an, in dem sich neben einem Kühlschrank und einer Gefriertruhe auch ein Regal voller Konserven, Getränke und haltbarer Lebensmittel befand. Dieses kleine Lager – verbunden mit dem, was in den Wohnungen und dem Hofladen zu finden war – gab uns eine kleine Atempause, bevor wir uns selbst um unser Essen würden kümmern müssen.

Esther und ich einigten uns wortlos darauf, im ehemaligen Wohnzimmer zu schlafen. Der Gedanke, im Schlafzimmer der Verschwundenen oder gar in einem der Kinderzimmer zu nächtigen machte mir Angst. Es war seltsam – noch vor einer Woche war ich ein großer Fan von Horrorfilmen gewesen, insbesondere von japanischen Geisterfilmen und ihren amerikanischen Remakes. Mir gefielen die Ideen und die Machart – besonders beängstigend fand ich sie nicht. Nun allerdings kam mir die Vorstellung, dass dies ein von Geistern bewohntes Haus war, gar nicht so abwegig vor. Oder waren wir am Ende die Geister? Ich musste an The Others und The Sixth Sense denken. Sie wissen nicht, dass sie tot sind … Wie auch immer – ich wollte nicht in einem Zimmer schlafen, das noch vor wenigen Tagen sehr deutlich einem anderen gehört hatte. Also gingen wir ins Wohnzimmer. An der Wand hing ein großer Plasmafernseher, darunter eine Stereoanlage, ein DVD-Player und eine Wii-Konsole, in einigem Abstand die entsprechend ausgerichtete Sitzgruppe mit Couchtisch. Ein gewaltiger alter Schrank beherbergte diverse Alkoholika, Gläser, Bücher, DVDs, Wii-Spiele, CDs und Gesellschaftsspiele. Esther sah sich um.

„Wo willst du schlafen? Sofa?“

Ich überlegte kurz. „Eigentlich lieber auf dem Boden. Neben dir. Das Sofa ist zu schmal.“

„Okay.“ Sie küsste mich und begann, den Couchtisch zur Seite zu schieben. Ich half ihr – das Ding hatte eine eingelassene Marmorplatte und war verdammt schwer. Wir waren gerade fertig und breiteten unsere Schlafsäcke auf dem Boden aus, als Simone durch die Tür spähte.

„Oh – ihr seid hier?“

„Ja.“ Esther stand auf. „Aber ist kein Problem. Du kannst gerne hier rein, wenn woanders kein Platz mehr ist.“

„Platz wäre schon, aber …“, sie zuckte mit den Schultern. „Jan, Erkan und Micha sind im Esszimmer und Eva und Lars im Schlafzimmer. Eine Wohnung oben ist voll und die andere ist ganz leer und, na ja – ich wollte nicht ganz alleine sein und auch nicht in eins von den Kinderzimmern.“

Ich nickte. „Kann ich verstehen. Komm rein. Kannst das Sofa haben.“

„Echt? Super!“

Ich schaute aus dem Fenster.

„Stefan hat wieder sein Zelt aufgebaut. Will der echt noch draußen schlafen?“

Simone trat neben mich.

„Ja, hat er gesagt. Er will sich gar nicht mehr an Gebäude gewöhnen, sagt er. Da ist er wie du mit deinem Bogen.“

„Er ist Architekt.“

„Vielleicht gerade deshalb. Guck mal, er ist nicht alleine.“

Mark und Christos kamen aus dem Haus, beide mit ihren Zelten in der Hand. Sie unterhielten sich kurz mit Stefan, lachten und begannen, aufzubauen. Wir hatten uns alle mit einfachen, schnell zu errichtenden Zelten ausgerüstet und so dauerte es nicht lange, bis im Hof ein kleines Lager entstanden war.

Esther untersuchte den Inhalt des Schrankes und pfiff durch die Zähne.

„Wow.“

Ich drehte mich um. „Was ist?“

„Die haben nicht schlecht gelebt hier. Single Malt, Portwein, Cognac – alles vom Feinsten. Will jemand ’nen Schluck?“

„Ich weiß nicht … ich glaube nicht.“

„Quatsch“, sagte Simone und ging begeistert zum Schrank. „Port hast du gesagt?“

„Yep. Und Whisky … mein Gott, der Craggie hier ist sechsunddreißig Jahre alt. Und das da … willst du echt nicht, Daniel?“

„Esther …“

„Cragganmore, Liebster. Sechs-und-drei-ßig-Jah-re. Verschlossen. Fassstark.“

Simone hatte sich eine bauchige Portweinflasche genommen, las das Etikett mit Kennerblick, schnalzte mit der Zunge, zog ohne Weiteres ihren Leatherman vom Gürtel und schnitt das Siegel auf. Ich konnte mir nicht helfen – es fühlte sich falsch an.

„Esther, ehrlich. Das … das ist doch trotz allem nicht unseres.“

Sie schaute mich lange an – traurig.

„Doch, Daniel. Das ist jetzt unseres. Daran sollten wir uns gewöhnen. Es waren unsere toten Kühe und es ist unser Haus und unser Schnaps. Wir sind übrig. Und es ist alles unseres. Und wenn wir unsere Kuhkadaver verbrennen und unseren stinkenden Stall ausmisten, dann dürfen wir auch unseren Whisky trinken, oder?“

„Und die anderen?“

„Welche anderen? Die anderen sind weg.“ Sie schluckte, als es ihr klar wurde. Wieder einmal. Wie jedem von uns, mehrmals am Tag. „Alle sind weg.“

„Nein, ich meinte die anderen von uns.“

„Oh, die.“ Sie lachte. „Ich habe nicht vor, die ganze Flasche von unserem Cragganmore alleine zu trinken. Aber ein Glas … Also – wie ist es?“ Sie schüttelte ihre Feldflasche. „Mit echtem, klaren Wupperwasser?“

Ich kapitulierte grinsend. „Okay.“

Wir hatten beide tatsächlich nur je ein Glas getrunken – es würde bald keinen Whisky mehr geben. Und keinen Cognac. Keine Cola. Keinen Kaffee. Keine Eiscreme. Es war besser, sparsam zu sein. Simone schien etwas Ähnliches zu denken – nach zwei Gläsern Port hatte sie sich auf dem Sofa zusammengerollt und eine Decke über sich gezogen. Wir legten uns zwischen die Schlafsäcke und unterhielten uns noch eine Weile leise. Plötzlich klopfte es an die Tür.

„Hallo? Daniel, Esther? Seid ihr noch wach? Oder … äh …“

„Weder äh noch schlafend“, sagte ich. „Was ist denn?“

Jan kam rein. „Ich dachte nur … ob wir Wachen aufstellen sollen?“

„Wachen? Wieso denn?“

„Ich bin auch nicht sicher. Ich dachte nur … es wäre vielleicht besser.“

„Was soll denn passieren?“, fragte Esther.

Er wand sich ein wenig. „Keine Ahnung. Nur so ein Gefühl.“

Ich dachte an mein Gefühl in der Kaserne und sah Esther an. Sie erinnerte sich auch.

„Was sagen denn die anderen?“

„Matthias ist total dagegen. Carmen ist dafür, kann aber selbst nicht, wegen ihres Fußes. Ben ist auch dafür. Alle anderen finden die Idee albern oder es ist ihnen egal. Mit denen unten in den Zelten habe ich noch nicht gesprochen. Und Simone …“

Simone erhob sich halb auf dem Sofa. Im Zwielicht war deutlich erkennbar, dass sie schon geschlafen hatte.

„Was’n?“

„Ach, da bist du“, sagte Jan.

„Jan meint, wir sollten vielleicht Wachen aufstellen“, erklärte ich.

„Wachen? Wieso?“

„Weiß ich auch nicht so genau …“

„Brauchn keine Wachen. Aber wenn ihr meint, sagt mir Bescheid. Weiterschlafn.“ Und sie legte sich wieder hin.

„Das war wohl ein eingeschränktes Nein“, sagte Esther.

„Ja.“ Jan kratzte sich am Kopf. „Ich gehe mal runter, zu den Campern. Ich sage euch dann Bescheid.“

Wenig später kam er zurück und teilte uns mit, dass Stefan, Christos und Mark die Wachpostenidee auch eher lustig fanden. Aber sie hatten versprochen, uns zu warnen, falls irgendetwas passieren würde. Damit ging er.

„Die werden gar nichts machen – außer genauso zu schlafen wie wir“, meinte ich.

Esther schaute nachdenklich zur Decke. „Meinst du denn wirklich, dass wir uns schützen müssen?“

Ja! wollte ich schreien. „Nein“, sagte ich. „Wovor denn schon?“

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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392 стр. 5 иллюстраций
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9783942625234
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