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Читать книгу: «Täubchen alla Boscaiola», страница 5

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9. Kapitel

Am nächsten Morgen fand Raphael auf seiner Schwelle einen Brief von Pauline, den er neugierig aufriß. Es war nur eine Zeile, die sie geschrieben hatte, sie sei schon früh, mit dem ersten Bus, höher in die Berge gefahren, zum Malen. - Kein Gruß, kein Abdruck ihres Mundes auf dem Papier, mit Lippenstift nachgezeichnet, nichts! - Raphael wendete den Brief hin und her, ob nicht irgendwo noch ein Wort stünde, ein Zeichen, vergeblich!

Traurig faltete er den Brief zusammen, steckte ihn in die Hemdtasche, packte alle Unterlagen über die Erzgrube in Castellina in seine Ledertasche, ging zum Parkplatz, öffnete das Verdeck seines Wagens und fuhr nach Catania. Dort irrte er lange durch die engen Straßen der Altstadt und suchte vergeblich die Bergbaubehörde; niemand wollte sie kennen; ab und zu behauptete jemand, von ihr gehört zu haben, wies ihn in eine Gasse, die er nicht finden konnte; so vergeudete er über eine Stunde, bis er, kurz vor dem Verzweifeln und voller Wut, auf eine Station der Carabinieri ging.

Die beiden jungen Beamten, die sich angeregt hinter dem mit grünen Linoleum belegten Tisch unterhielten, sahen sich an und lachten,

„Bergbaubehörde?“ Seit Jahren hatte niemand nach einer Bergbaubehörde gefragt, - wo er denn herkäme?

„Aus Deutschland!“

„Aus Deutschland? Aha, na soetwas! Mein Onkel war auch in Deutschland, in Düsseldorf - er sprach es aus wie: 'Dudeldu' - Kennen Sie es?“

„Ja,“, sagte Raphael, „ich war oft dort.“

„Eine schöne Stadt?“

„Ja, sehr schön, reich und schön!“

„Mein Onkel hat dort gearbeitet.“

„Ja,“, sagte Raphael, „es gibt dort viele Italiener.“

„Es ist zwanzig Jahre her!“

„So,“, sagte Raphael, „ja, früher waren es noch viel mehr.“

Einer der jungen Beamten blätterte schließlich in einem zerfledderten Adreßbuch. Tatsächlich, es gab sie, die Bergbaubehörde. Die beiden sahen sich kurz an, setzten ihre Mützen auf, knöpften die Jacken zu, „Kommen Sie mit uns und fahren Sie hinter uns her, wir zeigen es Ihnen.“

Die beiden wollten Raphael offenbar auch zeigen, was sie konnten. Sie schalteten das Blaulicht ein und rasten los; Raphael immer hinterher. Es ging in Einbahnstraßen hinein, über rote Ampeln hinweg, in vollem Tempo über Kreuzungen. - Raphael hatte Mühe ihnen zu folgen, er fing schon an zu schwitzen vor Anspannung. - Plötzlich, am Ende der Altstadt, nicht weit vom Hafen, bremste der Polizeiwagen an einem kleinen Platz, der Fahrer hielt seinen Arm aus dem Fenster und wies mit einer schwungvollen Bewegung nach rechts.

„Dort!“ rief er, „Eccolo! Das ist die Behörde! Die Bergbaubehörde!“, und fort waren sie.

Raphael parkte seinen Wagen, stieg aus und sah sich um. Er war offenbar im ältesten, verstaubtesten Viertel von Catania angelangt, vor ihm erstreckte sich eine schattige Gasse, die eng war wie eine Schlucht, von beiden Seiten flankiert von heruntergekommenen, zwei- und dreistöckigen Häusern aus dem letzten Jahrhundert, und dahinter erhob sich das Castello Ursino, das alte Stauferkastell, riesig und drohend über der Stadt.

Rechts an dem kleinen Platz stand breit und gebieterisch ein alter Palazzo, in dem sich offenbar die Bergbaubehörde befand. Energisch stieg Raphael die breite Treppe empor, die von zwei steinernen Löwen bewacht wurde, öffnete mit Mühe das schwere, schmiedeeiserne Tor und fand sich nun in einem Vestibül. An der linken Seite saß hinter einem halb hochgeschobenen, trüben Glasfenster ein magerer Pförtner in seiner engen Loge und las Zeitung. Als er Raphael kommen hörte, hob er seinen Kopf und blickte Raphael über den Rand der Zeitung hinweg skeptisch und mißmutig an und murmelte, „Was suchen Sie?“ Raphael wollte an ihm vorbei, doch da kam Leben in den kleinen Mann. Er sprang auf, kam aus seiner Loge hervorgeschossen wie ein Terrier, packte Raphael fest am Ärmel und rief, „Chiuso, tutto e chiuso! - Alles ist geschlossen!“ - Genau wie Pauline es gesagt hatte: 'Hier in Italien ist immerzu alles geschlossen!'

Raphael hielt dem Pförtner seinen Paß vor das Gesicht und ein Empfehlungsschreiben seiner Firma, sowie eine Beglaubigung des deutschen General-Konsulats in Neapel. - Der Pförtner bog Schultern und Kopf zurück und blinzelte mißtrauisch. All diese Papier schienen ihm nicht zu genügen. Schließlich legte Raphael einen ganzen Stapel Zeichnungen und Pläne der Bleigrube auf die Klappe der Pförtnerloge, fächerte sie auf, wie die Karten eines Kartenspiels; der Pförtner studierte noch einmal mißtrauisch den Paß, das Schreiben des Konsuls, die Zeichnungen, und gab Raphael schließlich das Schreiben und den Paß zurück, „Chiuso, tutto e chiuso!“, wiederholte er höhnisch, „Alles ist geschlossen!“

Wütend schob Raphael seine Unterlagen zusammen und steckte sie in die Ledertasche, stellte sich dicht vor dem Pförtner auf und begann, ihn sehr laut und auf deutsch zu beschimpfen, er würde ihn verklagen, ihn verprügeln, ihn bei seinem Chef unmöglich machen, ihn ersäufen, vergiften. „Verdammter Kerl,“, schrie er, „was bildest du dir eigentlich ein! - He?“ Der Pförtner sah ihn mit offenem Mund an. Raphael ging einfach an ihm vorbei, und der Pförtner hielt ihm sogar die Innentür auf.

Überrascht über diesen Erfolg seiner Grobheit, fand Raphael sich in einem riesigen Treppenhaus wieder, mit verstaubten Marmorskulpturen in jeder Ecke. Ein mächtiger Bronzekandelaber hing an einer Kette von der Kuppel herab, und geschwungene Treppen führten rechts und links in die oberen Stockwerke. Raphael blieb einen Moment staunend stehen, dann wählte er, wie er es immer tat, die rechte Treppe, stieg die breiten und ausgetretenen Stufen empor, vorbei an weiteren Marmorskulpturen, bis er im ersten Stock anlangte.

Hier kreuzten sich mehrere von Säulen getragene Bogengänge und ineinander verschachtelte Flure, die um einen großen Innenhof herum angeordnet waren. Das Licht aus den verschiedenen Fluchten brach sich vielfältig, und die ganze verzauberte Architektur der Spät-Renaissance und ihr Spiel mit Licht und Raum bauten sich auf vor ihm - über ihm - um ihn herum. Raphael war in eine vergessene, verstaubte Zauberburg eingedrungen.

Wie im Traum durchirrte er dann lange Korridore, öffnete ab und zu eine der vielen Türen, hinter denen verschlafene Beamte saßen, die ihn immer weiter schickten, immer wieder in ein anderes Zimmer, bis er sich vorkam, wie eine dieser Figuren in einer Geschichte Kafkas, wie im 'Schloß', - weitergeschickt und immer wieder weiter- geschickt, - sinnlos, hilflos, wütend, und gleichzeitig von der unwirklichen Atmosphäre des Baus gebannt. - Schließlich las er an einer Tür das Schild 'Registratura'.

Kurzentschlossen trat er dort ein und blickte in einem gebogenen, langen, schmalen, halb um das runde Treppenhaus herumgebauten Raum. Im vorderen Drittel des Raumes stand ein Stehpult, sonst schien der Raum leer. Doch bald entdeckte Raphael an seinem Ende einen Mann unbestimmten Alters, mit weißen Ärmelschonern, wie in einem alten Film, der schief auf einem viel zu hohen Stuhl saß, in sich zusammengesunken, verkrümmt, vor sich einen Schreibtisch, bedeckt mit Stapeln von Mappen und Ordnern, hinter sich eine endlose Wand mit Ordnern, die nach einem kryptischen System angeordnet zu sein schienen. Schließlich konnte Raphael die Jahreszahlen auf den Rücken der Ordner entziffern, beginnend bei 1922 ging es bis heute, jedes Jahr nahm mehrere Meter der Regalfläche ein.

Der Beamte hob den mageren Kopf, sah Raphael, machte ein säuerliches Gesicht, wie ein Huhn, dem man einen Wurm direkt vor dem Schnabel wegstiehlt, und wies ihn an, an das Stehpult zu treten, vorher könne er keine Fragen beantworten.

Raphael trat an das Stehpult, der Beamte erhob sich ächzend, kam an das Stehpult geschlurft und hörte sich Raphaels Anliegen mit gerunzelter Stirn, doch geduldig, an.

„Sie wollen also die Bedingungen erfahren, unter denen eine Wiederaufnahme des Erzabbaus gestattet werden könnte . . . “ Raphael nickte.

„Das ist alles?“

„Ja, das ist alles!“, sagte Raphael. Der Beamte ging an das Regal und entnahm ihm ein dickes, handgeschriebenes Buch, als er darin nicht das Passende fand, ging er zu seinem Schreibtisch, tippte etwas in seinen Computer, den Raphael noch gar nicht bemerkt hatte, so versteckt stand er zwischen den Stapeln von Ordnern und Mappen.

„Nein, noch etwas!“, fiel es Raphael ein. Wer denn der Besitzer sei, und wer der letzte Betreiber der Erz-Grube gewesen sei? Der Beamte zögerte, tippte wieder etwas in den Computer, hob endlich den Kopf, sah Raphael ernst und bedenklich an, beinahe mitleidig, - als habe Raphael vor, einen Lindwurm aufzusuchen und zu besiegen,

„Signor Gustavo Botello. - Haben Sie es sich denn gut überlegt?"

„Signor Gustavo Botello?“ Das war doch der Name, den der Alte genannt hatte, an der Grube, Botello. - Es stimmte also!

„Ja, Signor Botello. - Kennen Sie ihn denn nicht?“ So, als müsse ihn jeder kennen, diesen ominösen Signore.

„Wieso um alles in der Welt sollte ich ihn kennen?“ Der Beamte zuckte mit den Schultern. Offenbar hielt er Raphael jetzt für verrückt.

„Reden Sie mit dem Direttore!“ Er führte Raphael auf den Flur zurück, und zeigte mit der Hand auf eine große zweiflügelige Tür am Ende des langen Flurs, und wies auf eine der Bänke, die davor standen, „Warten Sie dort!“

Doch Raphael hatte keine Lust, sich zu setzen, erging lieber langsam den Flur auf und ab. An den staubigen fleckigen Wänden hingen alte Schwarzweiß-Fotografien von riesigen Kränen, Fördertürmen, unterirdischen Bergwerks-Stollen und -Gängen, Fotografien von Arbeitern, die mit den Händen alte Industrieloren voller Erz schoben, oder die mit großen Hämmern etwas aus der Wand eines Stollens herausschlugen, schwitzend, verstaubt, mit kleinen entzündeten Augen, wie menschliche Maulwürfe.

Ab und zu ging Raphael zu der zweiflügeligen Tür, klopfte daran, versuchte sie zu öffnen, doch sie war abgeschlossen. Endlich, beim dritten Versuch, waren Schritte zu hören. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet. Der rundliche Kopf eines untersetzten Mannes erschien, der unfreundlich sagte: „Warten Sie!“, und wieder verschwand.

So stand Raphael wieder im Flur und wartete. Ab und zu kamen Männer an ihm vorbei, Beamte offenbar, die aus irgendwelchen Zimmern kamen und in irgendwelchen anderen Zimmern wieder verschwanden, und dabei Stöße von Akten auf ihren Händen trugen, wie Opfergaben; ein bestimmter Typ war besonders häufig vertreten, schmächtig, mit einem verschlossenen, alten Puppengesicht, umgeben von einer Gloriole staubiger Wichtigkeit.

Sie sahen sich alle so ähnlich, sie wirkten alle so mechanisch, wie ein eintöniges Ballett hölzerner Marionetten, das anzusehen Raphael durch irgendeinen Fluch nun verdammt war. - Oder wie bei einer modernen Theateraufführung, wo die Schauspieler wie irrsinnig gewordene Schachfiguren durcheinander laufen oder rennen, an Fäden gezogen, die ein ebenfalls irrsinnig gewordener Regisseur in der Hand hält, nach einem vergessenen, eintönigen Plan, den er selbst nicht mehr entwirren kann.

Und die ganze Zeit lief Raphael den Korridor auf und ab, wie ein gefangener Leopard, dachte an die Erzgrube, an Castellina, die unerwartete Begegnung mit Pauline und natürlich an diese selbst. Wenn er an Pauline dachte, fielen ihm zuerst ihre lebhaften braunen Augen ein, - immer wieder ihre Augen, - diese Augen, die alles zu sehen schienen. - 'Sie ist wirklich ein Augentier,' dachte er, 'und immer ist etwas an ihr in Bewegung.' Dann wanderten seine Gedanken wieder zurück in diesen alten Palazzo, an die Doppeltür, hinter der der Direttore residierte wie der Fürst eines kleinen, fast unbekannten Reiches.

Ab und zu klopfte er an die Tür zum Vorzimmer des Direttore. Eine Schlüssel drehte sich im Schloß, die Tür öffnete sich einen Spalt, ein Beamter erschien und herrschte ihn an: „Warten Sie!“

Die Stunden vergingen, aus den Büros kamen in kleinen Gruppen die Beamten, mit ganz anderen Gesichtern jetzt, erleichtert, befreit, sie schwatzten miteinander, - so, als hätten sie gerade eine Kerkerstrafe abgesessen und seien nun begnadigt worden, - und strebten dem Ausgang zu, bis schließlich der Pförtner die Treppe hochkeuchte und Raphael entdeckte,

„Was suchen Sie denn immer noch hier?“

„Den Direttore!“, erwiderte Raphael.

„Der Direttore,“, eröffnete ihm der Pförtner, „kommt immer nur mittags zwischen zwölf und ein Uhr, um Unterschriften zu leisten. Verlassen Sie endlich das Haus!“

„Warum hat mir das niemand gesagt?“

„Was gesagt? - Was sollte man Ihnen sagen?“

„Daß der Direttore nur mittags kurz im Hause ist!“

„Jeder weiß das! Verlassen Sie endlich das Haus, ich muß absperren! Beeilen Sie sich!“

Wieder auf der Straße mußte Raphael seine Augen zusammenkneifen. Er hatte in diesem alten, verschlafenen Gemäuer das Licht vergesssen, das blendende Licht des Südens. Er sah auf die Uhr, es war bereits vier Uhr nachmittags. Was sollte er noch hier? In diesem Catania? Etwa das alte Stauferkastell Ursino besichtigen, diese riesige drohende Zwingburg? Dafür war es viel zu spät!

10. Kapitel

Pauline kam mit dem Bus aus Cefalú zurück, wo sie sich, um sich zu abzulenken, ein neues leichtes Sommerkleid hatte kaufen wollen. Doch es gab nichts, was ihr gefiel. Dafür wurde es einer der heißesten Tage dieses Spätsommers. Die gleißende Sonne hatte die Dächer und Straßen von Cefalú mit barbarischer Hitze überschwemmt.

Auch hier oben stach das Sonnenlicht mit giftigen Nadeln. Antonio, der Hauswart, klopfte gerade auf das Barometer, als er Pauline vorbeilaufen sah. „Immer weiter steigend!“, verkündete er erfreut und so triumphierend, als hätte er selbst diese Temperaturen hervorgebracht, studierte dann sorgfältig, wie ein kompliziertes wissenschaftliches Instrument, das Thermometer, „Trentadue gradi! Die Hitzewelle ist da!“, rief er ihr nach, „Heiß! Zu heiß zum Malen.“

Pauline flüchtete geschwitzt und verärgert an ihm vorbei in ihr Zimmer. Der Boiler im Bad knisterte, als sie das warme Wasser laufen ließ. Sie duschte danach kalt und bemerkte erst beim Abtrocknen, daß sie in ihrer Verwirrtheit das Badezimmerfenster offen gelassen hatte. Sie hörte, wie jemand pfiff, eine ihr inzwischen bekannte, stumpfsinnige Melodie aus sechs Tönen. Es war also Antonio, der vorbeiging. Er sah hinein zu ihr, lächelte erfreut. Ärgerlich hielt sie sich mit der Rechten ein Handtuch vor und schloß mit der Linken die Vorhänge.

Im Spiegel sah sie all die Falten und Fältchen, dieses ihr von Jahr zu Jahr fremder werdende Gesicht, - dahinter tauchten sogar schon die Züge ihrer eigenen Mutter auf. „Du werde erst einmal ein schöner Mensch!“, sagte sie zu sich selbst, doch es half nichts.

Sie wollte sich noch die Fingernägel lackieren; setzte sich dazu in ihrem Zimmer auf einen Stuhl vor dem Fenster, in einer stillen, fast feierlichen Resignation. Behutsam trug sie den Lack auf, so behutsam, als fürchtete sie, mit einer heftigen Bewegung etwas zu zerstören, - doch was?

Aber diese Farbe! - Es war eine, die sie noch nie ausprobiert hatte, ein etwas grelles Erdbeerrot, war das nicht zu auffallend? - als sie, durch die dünnen Vorhänge hindurch, auf einmal Raphael vor ihrem Fenster vorbeilaufen sah. - Das versetzte ihr einen freudigen Schock. Sie sprang auf, die Hitze und Röte stiegen ihr in das Gesicht. - Im Auf- und Abgehen fächelte sie ihre Hände hin und her, um den Lack zu trocknen; in dieser seltsamen, etwas lächerlichen und gleichzeitig weihevollen Bewegung, als wäre sie eine Priesterin.

Endlich war der Lack trocken. Pauline hielt es in dem schwülen Zimmer kaum noch aus! - Zur Begutachtung hielt sie ihre Finger gestreckt vor sich hin, um den neuen Nagellack zu begutachten und erschrak: Nein!, die Farbe war zu rot, zu grell! Sie verlieh ihren Händen etwas Wildes, als sei frisches Blut darauf getropft. Dann entdeckte sie amüsiert, daß sie, unterbrochen durch das Erscheinen Raphaels, vergessen hatte, den Nagel des kleinen Fingers der rechten Hand zu lackieren. - Ob Raphael das überhaupt bemerken würde?

Als sie vor die Tür trat, herrschte schon das sanfte Licht der Abende hier. Die von der tief stehenden Sonne seitlich beleuchteten Grasflächen lagen wie mit goldenem Sand überzuckert, und zwischen den Pinien, am westlichen Himmel, zeigten sich die ersten zarten Farben des Abendrots, gelblich, orange, gold; während oben zwischen den Kronen der Bäume noch das tiefe dunkle Blau des südlichen Himmels leuchtete. Und nun wurde auch sie selbst innerlich langsam ruhiger, in ihrem hübschen Kleid, mit den eleganten Schuhen, geschützt durch ihre Rüstung aus Schminke, Puder und Lack.

Behutsam ging sie durch den Garten; und da lag er, ihr Raphael, zwischen den Pinien, auf einem Liegestuhl. Er war also schon zurück von seiner täglichen Fahrt, und genoß offenbar den warmen, stillen Abend. Als er sie kommen sah, sprang er auf und lief ihr entgegen. Kaum wagte sie ihn anzuschauen, so verlegen war sie, und wußte nicht, wie es nun weitergehen sollte, - und sie war doch schon erwachsen!

Raphael brach zuerst das Schweigen,

„Ah, da bist du ja!“ Er sah sie prüfend an. - Warum sagte er nichts? - Schließlich lächelte er, „Und so schön gemacht!“ Pauline wurde es heiß, sie fühlte, wie sich ihre Wangen röteten,

„Die ewige Arbeitskleidung ist langweilig geworden . . . “, murmelte sie kaum hörbar, „Leg dich wieder hin, ich setze mich daneben!“ Doch er schüttelte den Kopf,

„Nein, nein, ich mag nicht mehr liegen!“

„Was hast du gemacht, den Tag über?“, fragte sie, „Wo warst du?“

„Ich war in Catania, bei der Bergbaubehörde.“

Und er begann, von Catania zu erzählen. Sie sah ihn immer nur an und sagte ab und zu:

„Achso! Ja, ich verstehe!“ Er blickte sie mit großen Augen an. Warum war sie in Gefahr, in die tiefen Brunnen dieser warm blickenden Augen zu fallen?

Sie lehnte sich an einen Stuhl, hielt sich dort fest, ihr war plötzlich schwindlig.

„Du bist blaß, ist dir nicht gut?“, fragte er.

„Nein, nein! Es ist alles in Ordnung!“

„Weißt du was?", sagte Raphael unvermittelt, „Wir gehen jetzt essen, aber nicht hier! Wir fahren an die Küste zum Essen. Ich kenne dort ein gutes Restaurant direkt am Meer, etwas oberhalb der Küstenstraße.“

11. Kapitel

Das Restaurant zu dem sie fuhren, war ein kreisrunder Pavillon-Bau mit einer zum Meer gewandten Front ganz aus Glas. Es war voll besetzt, und sie blieben unschlüssig an der Tür stehen. - War denn wirklich nichts frei? - Dort! Ein Paar erhob sich und ging. Und da kam auch schon der Kellner. Er begrüßte sie beide wie alte Bekannte, führte sie an das runde Tischchen, das frei geworden war, direkt vor der Fensterfront,

„Schauen Sie, extra für Sie, der Tisch in der Mitte mit der besten Aussicht!“

Vor ihnen lag weit und beruhigend das Meer, ohne Begrenzung, ohne Küste, ohne Ende. Der Himmel war klar und hell, nur am Horizont gab es einige flache graublaue Schatten. Schwärme von Seeschwalben jagten niedrig über den Wellen dahin. Vom Meer stieg das bläuliche Licht des frühen Abends zu ihnen hoch.

Der Pavillon war heiß, durch die Sonne überwärmt, doch ab und zu wurde eine Tür geöffnet und ein Luftzug wehte erfrischend herein und brachte von außen den Geruch trockenen Grases und von Kräutern und Pinien.

Der Kellner räumte den Tisch ab. Sie konnten bestellen. Raphael durchblätterte flüchtig die Karte und fragte:

„Haben Sie Täubchen alla Boscaiola?“ Der Kellner seufzte und gestand:

„Nein! Ich bedauere unendlich! Wir haben heute keine Täubchen im Haus. - Ich kann Ihnen nur Huhn anbieten, ähnlich zubereitet. Wie wäre es damit? Mit Speck und Rosmarin und Salbei gebacken. Nun?“ Doch Raphael bestand auf seinen Täubchen, und da es die nun einmal nicht gab, bestellte er Antipasti und gefüllte Calamare.

„Täubchen alla Boscaiola!“, fragte sie, „Was ist das für ein Gericht?“

„Oh, das Köstlichste, was ich je in Sizilien gegessen habe. Mit Speck und Rosmarin und Salbei gebackene Täubchen. Ich habe es ein einziges Mal vorgesetzt bekommen, bei meiner letzten Reise hierher, in einer kleinen Trattoria in einem Drecksnest irgendwo am Meer, - seitdem nie wieder. Nirgendwo sind sie zu haben, diese wundervollen würzigen Täubchen.“ Er machte dabei ein so betrübtes Gesicht, wie ein Pater, dem man diese Täubchen alla Boscaiola gerade vom Teller gestohlen hatte, und sie mußte lachen.

Die anderen Menschen im Restaurant, erst jetzt nahmen sie es wahr, verbreiteten ein leises an- und abschwellendes Gemurmel, eintönig wie an einem Strand das Klacken und Klicken der Kiesel, die von den Wellen hin und her geworden werden. Und von draußen kam ganz leise das Rauschen des wirklichen Meeres.

Der Kellner brachte das Wasser und den Wein.

„Salute!“, sagte Raphael, hob das Glas, und sie tranken sich zu.

Raphael erzählte von seiner Arbeit, Pauline versuchte zuzuhören, trank Wein, doch zu schnell und zu viel, strich sich ab und zu die Haare zurück und verschränkte die Finger, bis sie ihr wehtaten. Ihre Augen brannten plötzlich, doch sie konnte nicht an ihnen reiben, um die Schminke nicht zu verwischen. Raphael mußte etwas bemerkt haben,

„Bist du müde?“, fragte er, „Hast du zuviel gearbeitet heute?“

„Vielleicht.“

Raphael überlegte eine Weile. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dann wurde er wieder ernst, ergriff ihre Hand und fragte sie rundheraus:

„Sag mir einmal! Warum arbeitest du soviel? Warum bist du nicht zufrieden mit dir, so wie du bist? - Mir gefällst du jedenfalls auch ohne Zeichenstift oder Meißel.“

„Was meinst du?“, erwiderte Pauline irritiert.

„Ihr modernen Frauen seid wirklich geplagt! Ständig müßt ihr euch suchen oder finden! Warum müßtihr euch denn alle selbst verwirklichen? Und vor allem wohin? - Denn das Ziel dieser Selbstverwirklichung ist ja völlig unklar! - Nun habt ihr armen Frauen den Fluch, unter dem die Männer heutzutage leiden, auch auf euch gezogen, den Fluch der Männer, die sich ja ständig etwas beweisen müssen.“

„Es gibt nichts Wichtigeres, als die Kunst;", sagte sie, um etwas darauf zu antworten, „sie ist eine Aufgabe, die ich mir nicht ausgesucht habe!“ Raphael sah sie überrascht an und dachte eine Zeitlang nach.

„Nein! - Die Menschen sind wichtiger als jede Kunst!“, sagte er - dieser Ingenieur! „Aber ich bewundere dich wirklich!“, fuhr er fort, „Ich bewundere dich und ich mag deine Bilder und deine Skulpturen!“

„Du bist kein Künstler!“, sagte Pauline leise. Sie war plötzlich ganz erschöpft und mutlos geworden, „Du verstehst ihr Drama nicht, - du verstehst mich nicht!“

„Nein, ich bin Ingenieur, es gibt kein Drama des Ingenieurs!“ Es klang bescheiden, doch dann fügte er hinzu: „Gott sei Dank!“

„Ich kann nicht mit jemand die Ferien verbringen, der sich bloß verirrt hat zu mir.“ Diese Worte waren ihr nur herausgerutscht, und sie schämte sich, sie gesagt zu haben.

„Was meinst du?“, fragte er betroffen.

„Du lebst nicht in dieser Zeit“, sagte sie und war plötzlich erbittert, „Du hast dich hierher verirrt, du tust, als ob du ein moderner Mensch wärst, aber in Wirklichkeit lebst du in der Technik, in der Vergangenheit, in einem ganz anderen Kunstbegriff!“

„Ich lebe, wenn ich dich sehe,“, sagte er, und seine Stimme klang so ehrlich, daß sich ihr Herz vor freudigem Schreck zusammenkrampfte, „sonst lebe ich überhaupt nicht, ich habe noch nie gewußt, was das Leben ist. Ich habe immer nur das Leben gespielt. Oder gearbeitet. - Jetzt sehe ich dich; das Leben suche ich bei dir, - aber ich kann nicht daran glauben, daß du es mir geben wirst, - ich wage es nicht einmal zu hoffen!“

Erschrocken nestelte Pauline an ihrer Serviette. Wie immer, wenn sie besonders verlegen war, nahm sie den Ringfinger ihrer rechten Hand und rieb an ihm. Sie konnte Raphael nicht in die Augen sehen, sah auf das Meer und bemerkte mit einem Teil ihrer Aufmerksamkeit, wie die Sonne ganz bleich und matt irgendwo unterging, ohne den Himmel zu verbrennen. Er hatte vielleicht, dachte sie, hinter seiner Maske des offenen, unkomplizierten Mannes, Jahre gebraucht, um zu dieser Ernsthaftigkeit in ein paar einfachen Worten zu gelangen.

„Schau mich nicht so an!“, sagte sie, um nur irgendetwas zu sagen.

„Ich weiß nicht, wie ich dich anschaue. - Ich bin traurig. - Ich kann mich selbst manchmal nicht anschauen und mag mich an manchen Tagen nicht einmal rasieren, - weil ich mich erschießen könnte, wenn ich mich im Spiegel erblicke, so traurig bin ich!“

Er erzählte dann von Catania vom Castello Ursino, dieser mächtigen mittelalterlichen Burg; die riesigen Mauern fünf, sechs, sieben Stockwerke hoch . . . - Da fiel Pauline ein, mitten in seiner Erzählung, sie mußte das Deutschheft einer Schülerin, das sie unsinnigerweise mitgenommen hatte, um es zu korrigieren, nach den Ferien dem Mädchen zurückgeben. Bei diesem Gedanken lächelte sie blöde. Raphael bemerkte es und war einen Moment verunsichert, stockte beim Reden, mußte einen Schluck Wein trinken, dann fuhr er fort,

„Etwas Verrücktes,“, sagte er, „sind diese Stauferburgen, es gibt sie überall in Süditalien und Sizilien. Wie riesige steinerne Spinnen lauern sie an den schönsten Plätzen und bedrohen und beherrschen das Land.

Vor Jahren habe ich eine dieser Burgen besichtigt, eng und hochgebaute Mauern, düster und doch dem Lichte zugereckt. - Eine kleine Stadt, eine eigene Welt für sich sind diese Burgen, aber eine bedrückende. - Hinterher mußte ich mich tagelang von dem Besuch erholen. - Wie eine derartige Umgebung das Leben beeinflußt haben mußte, - wie alles in hohe steinerne Formen gepreßt war, - auch das Denken, auch die Umgangsformen, auch die Bewegungen, auch der Herzschlag, alles! - auch die Liebe!“

Pauline hatte ein wenig gelangweilt zugehört und war gerade dabei, die Lichter der Boote auf dem inzwischen dunklen Meer zu zählen und blickte erschrocken hoch, aber sie mußte an ihm vorbeisehen, sie konnte Raphael jetzt nicht ansehen. - Und da erst begriff sie. Er hatte 'Liebe' gesagt!

„Ja!“ ,wiederholte er, „Auch die Liebe. Denn auch diese Menschen damals haben natürlich geliebt.“

Es schien, als sei irgendetwas Unfaßbares, Ungreifbares geschehen. Vielleicht war ein Wort zu früh gefallen, das magische Wort 'Liebe'. - Vielleicht aber handelte es sich gar nicht um Liebe zwischen ihnen?

Pauline wurde plötzlich unruhig, „Wollen wir gehen?“, sagte sie. Er nickte, sie standen auf, standen noch eine Minute am Fenster und sahen hinaus in diese dunkle Weite des Meeres, die beim Schauen immer weiter wurde, immer endloser, wie ein endloses Verlangen und Sehnen.

Ganz leise schüttelte Pauline den Kopf. Beide lösten sich gleichzeitig, wie in geheimer Verabredung, von diesem Blick auf das dunkel lockende Meer. Raphael zahlte im Vorbeigehen an der Kasse. Der Kellner bedankte sich höflich, hielt Pauline die Tür auf beim Gehen.

Oben, im Bauernhof war sie dann doch enttäuscht, als er sie vor ihrer Tür einfach ablieferte, - wie sollte sie es sonst nennen? - ihr einen Kuß auf die Wange gab und sagte: „Ich bin müde; ich bin heute fast den ganzen Tag mit dem Auto gefahren. Jetzt muß ich ins Bett. Gute Nacht!"

„Gute Nacht!“ Ruhig stieg er seine Treppe hinauf, zu seinem Schwalbennest. Die Treppe knarrte und endlich schloß er auch die Tür. Sie lauschte noch ein paar Sekunden in die Nacht, in die schwarze, abweisende Stille. Kein Vogel, nichts war zu hören, nur das ewige Gezirpe der Grillen, auf die sie wütend wurde.

Mein Gott! Wie ungenutzt vergingen diese Nächte! Keine Seufzer, kein Liebesgeflüster!

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9783742794741
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