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Pflanzliche Ernährung: einfach gesund?

Wie wir sehen werden, sind reduktionistische Ansichten vollkommen unzulänglich, wenn es zum Beispiel um die Frage geht, welche Nahrungsmittel denn nun eindeutig gesund und daher für den menschlichen Verzehr bestimmt seien. Tatsächlich ist die einzige Nahrungsquelle, die für den Menschen praktisch a priori durch den Evolutionsprozess optimiert wurde, die menschliche Muttermilch. Alle anderen Bestandteile unserer täglichen Nahrung wurden nie einem derartig rigorosen »Optimierungsprozess« unterzogen.

Nehmen wir einmal die Pflanzen, welche einen ganz wesentlichen Anteil an unserer Ernährung haben und immer schon hatten. Sie sind gänzlich eigenständige Lebewesen, mit ihren ureigenen »Interessen«. Sie haben sich im Laufe ihrer mehrere Hundert Millionen Jahre andauernden Evolution unzählige Mechanismen angeeignet, die sie vor Krankheitserregern, Parasiten und Fressfeinden schützen. Von einigen Ausnahmen abgesehen, die sich durch den tierischen Verzehr ihrer Früchte verbreiten und daher auch einen Vorteil haben, gefressen zu werden, schützen sich die meisten Pflanzen davor, tierischen oder mikrobiellen Fressfeinden zum Opfer zu fallen, indem sie chemische Verbindungen synthetisieren und einlagern. Dies können wir im besten Fall entweder durch ihren bitteren oder unangenehmen Geschmack oder im schlimmsten Fall durch gesundheitliche Probleme nach deren Verzehr am eigenen Leib feststellen. Dazwischen ist das Spektrum für die menschliche Gesundheit relativ groß. So enthalten etwa ungekochte grüne Bohnen, wie Busch- oder Feuerbohnen, eine giftige Eiweißverbindung (Lektin) – das sogenannte Phasin. Bereits ab einer relativ geringen Verzehrmenge können Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall die Folge sein. Bei Kleinkindern reichen aufgrund ihres geringeren Körpergewichtes schon fünf bis sechs rohe Bohnen, um unangenehme Symptome hervorzurufen. Kommt es zum Verzehr größerer Mengen, sind tödliche Vergiftungen nicht auszuschließen.

Und dennoch können wir Hülsenfrüchte wie Bohnen, insbesondere wegen ihres die Darmgesundheit fördernden Ballaststoffgehaltes und als Quelle für hochwertiges pflanzliches Eiweiß, als gesunde Lebensmittel bezeichnen – vorausgesetzt, die Bohnen werden mindestens zehn Minuten gekocht, wodurch das Protein Phasin weitgehend zerstört wird. Andere Hülsenfrüchte wie Linsen oder Kichererbsen enthalten ebenfalls giftige Lektine, die erst durch Einweichen und gründliches Kochen unschädlich gemacht werden. In Hülsenfrüchten sind zudem sogenannte Proteaseinhibitoren enthalten, die unsere körpereigenen Enzyme daran hindern, Proteine zu spalten, wodurch deren Abbau blockiert wird.

Yamswurzeln und Bataten, die Lebensgrundlage vieler Menschen auf der Erde, können ebenfalls nicht roh gegessen werden, da sie beträchtliche Mengen an Blausäure enthalten, die erst durch mehrfaches Abgießen des Kochwassers verschwindet. Spinat enthält (ebenso wie Rhabarber) Oxalsäure, die ebenfalls zu der Gruppe der Antinutritiva zählt und, im Übermaß genossen, zur Bildung von Nierensteinen führen kann. Antinutritiva (auch Antinährstoffe) tragen, wie der Name schon sagt, nichts zur Nährstoffversorgung des Körpers bei, sondern verhindern sogar deren Aufnahme im Darm. Nach der richtigen Zubereitung durch Kochen oder Dämpfen gehen aber 50–80 Prozent der Oxalsäure verloren und Spinat (vor allem junger) wird zu einem gut verträglichen und gesunden Lebensmittel.

Nachtschattengewächse wie Kartoffeln, Auberginen (Melanzani) und Tomaten enthalten das Alkaloid Solanin, welches insbesondere bei grünen Früchten nach Rohverzehr Durchfall, Krämpfe, Erbrechen oder auch Sehstörungen auslösen kann. Weisen Zucchini oder Kürbisse einen stark bitteren Geschmack auf, ist das ein Hinweis darauf, dass sie Spuren des hitzebeständigen Giftes Cucurbitacin enthalten.

Mais, der in Mittelamerika seit mehr als 5000 Jahren als Kulturpflanze ein vollwertiges Hauptnahrungsmittel darstellt, enthält viele wertvolle Bestandteile. Allerdings kann durch einen beständig hohen Konsum von Mais ein Mangel an Nicotinsäure (auch Niacin oder Vitamin B3) entstehen. Das damit verbundene schwere Krankheitsbild heißt Pellagra und ist durch die Symptome Durchfall, Hauterkrankungen und Demenz gekennzeichnet. Die Indianer Mittelamerikas erkannten bereits, dass sie den Mais einem speziellen Prozess, der sich Nixtamalisation nennt, unterziehen müssen, um sich vor diesen unerwünschten Folgen zu schützen. Was sie nicht wussten, ist, dass das im Mais enthaltene Niacytin, das durch Phytinsäure gebundenes und dadurch vom menschlichen Körper nicht verwertbares Niacin darstellt, für diese Folgen verantwortlich zeichnet. Wie auch immer sie es anstellten, sie fanden irgendwann heraus, dass sie die ungemahlenen Maiskörner stundenlang in Wasser mit gelöschtem Kalk oder Holzasche kochen und über Nacht einweichen mussten, um ihr Grundnahrungsmittel langfristig bekömmlich zu machen. Heute wissen wir, dass durch den Prozess der Nixtamalisation das enthaltene Niacytin in verwertbares Vitamin B3 umgewandelt wird. Es handelt sich damit um eine der wichtigsten Erfindungen der mesoamerikanischen Zivilisation, ohne die ihre Entwicklung zur Hochkultur vermutlich nicht möglich gewesen wäre.

Sie sehen also, dass Kategorien wie »gut« oder »schlecht« im Zusammenhang mit unserer Ernährung nicht hilfreich sind, sondern eine differenzierte Betrachtungsweise notwendig ist. Bei den oben genannten Pflanzen bzw. deren Früchten oder Wurzelknollen handelt es sich nämlich tatsächlich um durchaus gesunde Lebensmittel – die richtige Zubereitungsform vorausgesetzt.

Es sind unsere kulturellen Errungenschaften wie das Kochen, die viele Lebensmittel erst genießbar und dadurch zu dem machen, wofür wir sie schätzen. Die Liste an pflanzlichen Lebensmitteln, die erst nach einem entsprechenden Behandlungsprozess ihre unangenehmen Eigenschaften verlieren, ist lang.

Im Endeffekt ist keine einzige Pflanze primär für den menschlichen Verzehr bestimmt, auch wenn wir viele ohne besondere Nebenwirkungen verspeisen können. Freilich hat der Mensch über einen längeren Zeitraum, mindestens jedoch seit Anbeginn der Landwirtschaft vor etwa 10 000 Jahren, auch durch künstliche Zuchtwahl Pflanzensorten herausgezüchtet, die, im Unterschied zu den ursprünglichen Wildformen, erheblich weniger dieser Abwehrstoffe enthalten und daher einerseits »besser« schmecken und zum Teil verträglicher sind, andererseits manche für unsere Gesundheit sehr zuträglichen Bitterstoffe und sekundären Pflanzeninhaltsstoffe verloren haben. So wurde das erwähnte Gift Cucurbitacin durch entsprechende Züchtung aus Zucchini und Kürbis herausgezüchtet. Durch besondere Kreuzungen kann es aber immer wieder vorkommen, dass es sich spontan bildet. Der bittere Geschmack verrät es und sollte uns vom Verzehr abhalten.

Auf der anderen Seite sind Bitterstoffe in Pflanzen (beispielsweise im Chicorée oder in Grapefruits) aber auch ein Hinweis auf deren Gehalt an Antioxidantien. Auch für die Produktion von Galle und eine funktionierende Verdauung scheinen pflanzliche Bitterstoffe eine wichtige Rolle zu spielen. In diesem Zusammenhang ist es also durchaus problematisch, dass über viele Jahrzehnte die Bitterstoffe aus unserer Nahrung zu einem großen Teil herausgezüchtet wurden, um sie geschmacklich »attraktiver« zu machen.

Selbst unsere Geschmacks- und Geruchswahrnehmung hat sich im Laufe der Evolution entwickelt, gut bewährt und verfeinert, da wir mithilfe unserer Sinne potenziell unverträgliche Pflanzen besser erkennen und daher meiden können. Wir sehen also, dass selbst eine pflanzenbasierte Ernährung nicht primär oder automatisch als gesund einzustufen ist, nur weil die Pflanzen »der Natur entstammen«.

Es wäre daher tatsächlich eine (naturalistische) Fehlannahme, dass alles »Natürliche« von vornherein gut für den Menschen sei. Wir haben es zu dem gemacht, was es ist, und im Zuge der Menschwerdung durch unsere Beobachtungsgabe und unserem im Tierreich einzigartigen Erfindungsreichtum geschafft, die vielfältigen Ressourcen der Natur für uns immer besser zu nützen. Auch wenn das so von vornherein von den Pflanzen gewissermaßen »nicht vorgesehen war«. Auf den ersten Blick einigermaßen erstaunlich ist daher der Umstand, dass viele dieser sekundären Pflanzeninhaltsstoffe, obwohl eigentlich gar nicht für uns bestimmt, zahlreiche gesundheitsförderliche Aspekte aufweisen, auf die ich später zurückkommen werde.

Dem Konzept und Verständnis von weder gut noch schlecht werden wir im Laufe dieses Buches noch öfters begegnen, liegt darin doch ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis unserer gegenwärtigen Probleme, seien diese nun gesundheitlicher, ökologischer oder gesellschaftlicher Natur. Dies betrifft das Molekül Sauerstoff in Bezug auf unsere Gesundheit genauso wie die Rolle von Mikroorganismen oder moderne medizinische Maßnahmen. Betrachtet man alle diese Punkte nur isoliert aus einem engen Blickwinkel oder generalisiert von einem Einzelfall auf das große Ganze, ergibt sich rasch eine fehlerhafte Annahme bezüglich gut oder schlecht bzw. nützlich oder schädlich. Aber so einfach ist es nicht. Leider.

Sauerstoff und freie Radikale

Nehmen wir das Beispiel der sogenannten freien Radikale. Das sind verschiedene Formen von reaktionsfreudigen Sauerstoffmolekülen, die mit den biochemischen Komponenten unserer Zellen eine zum Teil heftige und unerwünschte Reaktion eingehen. Freie Radikale und der mit ihnen verbundene »oxidative Stress« sind verantwortlich für akute wie chronische Entzündungsvorgänge, viele Krankheitsprozesse und den Prozess des Alterns ganz allgemein. Freie Radikale fallen aber auch unter normalen Bedingungen in den Mitochondrien (das sind die Zellkraftwerke) unserer Zellen im Rahmen der Energieproduktion permanent an und werden von unseren körpereigenen antioxidativen Molekülen abgefangen und weitgehend unschädlich gemacht. Aller Wahrscheinlichkeit nach geht die evolutionäre Entstehung von antioxidativen Abwehrsystemen auf einen Zeitpunkt vor über zwei Milliarden Jahren zurück, als die Vorläufer der heutigen Cyanobakterien durch Photosynthese für eine recht hohe, für viele damalige Lebewesen toxische Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre sorgten. Dieses sehr lange zurückliegende Phänomen wird in der Wissenschaft als die »Große Sauerstoffkatastrophe« bezeichnet und machte die Entwicklung antioxidativer zellulärer Systeme zu einer Lebensnotwendigkeit für Organismen. So schützen sich unsere Körperzellen vor übermäßiger Oxidation und der damit einhergehenden Schädigung von Proteinen, Lipiden und DNA durch endogene Enzyme wie Superoxiddismutase, Katalase oder Glutathion-Peroxidase. Vor allem auf Ebene unserer Erbsubstanz (DNA) können freie Radikale zu Strangbrüchen und Basenfehlpaarungen führen. Ein übermäßiger oxidativer Stress findet sich zudem bei fast allen chronischen Krankheiten, die mit einer chronischen Entzündung einhergehen, von Arteriosklerose über Diabetes, Alzheimer-Erkrankung, Parkinson-Erkrankung bis hin zu chronischer Polyarthritis.

Es mehren sich allerdings die Hinweise, dass freie Radikale auch eine bedeutende positive Rolle in unserem Zellstoffwechsel aufweisen. Zum einen produzieren spezielle weiße Blutkörperchen diese aggressiven freien Radikale, um mit ihrer Hilfe eingedrungene Bakterien abzutöten, andererseits dürften sie in gewissen Konzentrationen auch notwendig für regulative Vorgänge in unserem Körper sein. Den meisten von uns ist der aggressive Prozess der Oxidation von rostenden Autoteilen (langsam) bis hin zu heftigen Explosionen (schnell) bekannt.

Zu den gesundheitsprotektiven Antioxidantien zählen auch verschiedene über Pflanzennahrung aufgenommene Verbindungen wie Carotinoide, Vitamin C, Vitamin E und Polyphenole wie das Resveratrol. Was läge also näher, als sich diese Substanzen in Form von konzentrierten Nahrungsergänzungsmitteln regelmäßig zuzuführen?

Der Frage, ob durch die Einnahme von Antioxidantien wie Vitamin A und E auch chronische Krankheiten oder sogar Krebs verhindert werden könnten, widmeten sich bereits einige groß angelegte Studien. Sie kamen zu einem verblüffenden Ergebnis: Die Einnahme von Vitamin-A- oder Vitamin-E-Kapseln scheint nicht nur keinerlei verhindernden Effekt auf die Entstehung von Krankheiten wie Krebs zu haben, sondern ganz im Gegenteil. Es zeigte sich, dass die Einnahme von Antioxidantien in Kapselform das Krebsrisiko (insbesondere bei Rauchern) und die Mortalität aufgrund kardiovaskulärer Ereignisse sogar erhöhen dürfte.9

Eine Studie, die die Wirkung von alpha-Tocopherol-(Vit. E)- und beta-Carotin (Provitamin A)-Supplementierung auf die Inzidenz von Schlaganfällen bei Rauchern untersuchte, führte zu dem ernüchternden Ergebnis, dass sich das Risiko, an einer Hirnblutung zu sterben, um sage und schreibe 181 Prozent erhöhte, also beinahe verdreifachte!10

Eine andere Studie untersuchte die Einnahme von antioxidativen Supplementen bei Sportlern. Bei intensiven und belastenden Sportarten kommt es in den Zellen zu einer vermehrten Bildung freier Radikale und man wollte herausfinden, ob sich durch die Gabe von Antioxidantien der Trainingseffekt steuern, sprich verbessern ließe. Auch hier war das Ergebnis wieder einigermaßen unerwartet und widersprach der Grundannahme: Jene Probanden, die Antioxidantien einnahmen, hatten einen schlechteren Trainingseffekt als diejenigen der Kontrollgruppe ohne zusätzliche Antioxidantien.11

Die Ursache hierfür, so vermuten die Forscher, dürfte in der Tatsache begründet sein, dass die Bildung einer gewissen Menge freier Radikale sogar notwendig ist, um entsprechende Trainingseffekte im Körper auszulösen. Das dahinterstehende Konzept nennt sich Mitohormesis und besagt, vereinfacht ausgedrückt, dass ein gewisses Maß an schädigenden Substanzen (wie Sauerstoffradikale) in den Körperzellen notwendig ist, um positive, adaptive Effekte auslösen zu können. Sportliche Bewegung und Kalorienreduktion wirken also offenbar als leichte, aber im Endeffekt gesundheitsförderliche Stressfaktoren, die eine geringe Produktion von reaktiven Sauerstoffverbindungen begünstigen. Bei einer Ernährung mit antioxidantienreichen Lebensmitteln (v.a. Gemüse und Nüsse) entstehen dabei keinerlei Nachteile.

Während also mittlerweile klar ist, dass große Mengen reaktiver Sauerstoffverbindungen schwere Zellschäden verursachen und das Altern fördern, können niedrige Werte hingegen die systemischen Schutzmechanismen verbessern, indem sie eine adaptive Reaktion auslösen. Die Realität scheint also wieder komplexer zu sein, als erwartet und »gut« oder »schlecht« ist auch hier die falsche Betrachtungsweise. Die Einnahme von Antioxidantien, wie beispielsweise Vitamin A und E, als teure Nahrungsergänzungsmittel ist also im besten Fall sinnlos und produziert einen teuren Urin, da sie der Körper nicht aufnimmt, oder ist im schlechtesten Fall sogar gesundheitsschädlich. Werden antioxidative Moleküle hingegen in natürlicher Form kontinuierlich mit der Nahrung, vor allem durch buntes Gemüse, Beeren, Obst und Nüsse, aufgenommen, dürften sie, nach allem, was wir bisher wissen, einen gesundheitsprotektiven, prophylaktischen Effekt aufweisen.12

Noch deutlicher werden diese auf den ersten Blick gegensätzlichen oder gar widersprüchlichen Funktionsweisen komplexer Systeme (wie z.B. bei unserem Organismus), wenn wir später einen kurzen Streifzug durch die interessante Disziplin der evolutionären Medizin unternehmen.

Vielem von dem, was wir im beständigen bunten Medienstrom vorgesetzt bekommen, sollten wir also durchaus mit einem gewissen Maß an begründeter Skepsis begegnen. Manche geäußerten Ansichten und Erklärungsmodelle scheinen auf den ersten Blick zwar einleuchtend, beruhen aber bei genauerem Hinsehen auf stark vereinfachten, wenig nachvollziehbaren Erklärungen oder haben schlicht gar keine Substanz.

Je mehr Basis- und Hintergrundwissen wir uns zu einem Thema aneignen, desto einfacher gelingt eine differenzierte und unaufgeregte Zuordnung der uns täglich vorgesetzten Inhalte. Dabei ist es aber auch gerechtfertigt, dass wir im Laufe der Zeit unsere Meinungen zu gewissen Themen ändern oder schlicht zur Kenntnis nehmen müssen, dass wir die Antwort auf viele Phänomene und Fragen derzeit (noch) nicht kennen.

Es gibt allerdings einen kleinen, aber emsigen Personenkreis, der sich gewissermaßen als konservativer »Hüter der naturwissenschaftlichen Wahrheit« sieht, der technischem Fortschritt bedingungslos huldigt und sich seine professionell zur Schau getragene Skepsis zu komplexen lebenswissenschaftlichen Fragen auf seine Fahnen geheftet hat. Reichen Sachargumente nicht aus oder hat man sein eigenes Verständnislimit erreicht, wird mit zum Teil äußerst fragwürdigen, an Sekten erinnernden, aggressiven Methoden gearbeitet. Sie richten dabei nicht selten erheblichen und zum Teil auch irreparablen Schaden an. Sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Auffällig häufig entstammen diese Personen den Lebenswissenschaften fernen Bereichen.

Woher kommen ihre Sichtweisen und vereinfachten Annahmen zu komplexen Prozessen des Lebens und warum leugnen sie zum Teil jegliche gegenteilige empirische Erfahrung? Eine mögliche Antwort darauf könnten wir in der Entstehung unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes als Folge der Aufklärung im 18. Jahrhundert finden.

Von den Ursprüngen zur Aufklärung

Wenngleich Details der menschlichen Evolution unter Anthropologen immer noch durchaus kontrovers diskutiert und mit Sicherheit noch länger nicht restlos geklärt sein werden, so ist man sich doch weitgehend einig, dass die Gattung Homo seit mindestens zwei Millionen Jahren und die Art Homo sapiens, also der anatomisch moderne Mensch, vermutlich seit etwa 300 000 Jahren existiert. Während 99 Prozent ihrer Existenz mussten Menschen und ihre Vorfahren ihre eigene Nahrung finden. Sie verbrachten daher einen wesentlichen Teil des Tages damit, die Natur zu beobachten, um Pflanzen zu sammeln und Tiere zu jagen.

Vor etwa 40 000 Jahren setzte eine explosive Entwicklung unserer kulturellen Fähigkeiten ein. Dann, innerhalb der letzten 12 000 Jahre, hat unsere Spezies den Übergang vom Jäger-und-Sammler-Dasein hin zur ackerbaulichen Produktion von Lebensmitteln und zur kontinuierlichen Veränderung unserer Umwelt vollzogen. Menschen fanden heraus, dass sie das Wachstum und die Zucht bestimmter Pflanzen und Tiere kontrollieren konnten. Diese Entdeckung führte schließlich zur weltweiten Verbreitung von Ackerbau und (etwas später) Viehzucht. Aktivitäten, die die natürlichen Landschaften der Erde veränderten – zuerst lokal, dann zunehmend global.

Als die Menschen mehr Zeit in Anbau und Herstellung von Nahrungsmitteln investierten, wurden sie sesshaft. Aus kleinen Siedlungen wurden Dörfer und aus Dörfern wurden Städte. Mit der kontinuierlichen Verfügbarkeit von kalorisch ausreichender Nahrung begann die Bevölkerung dramatisch zu wachsen. Unsere Spezies war so erfolgreich, dass sie so ganz nebenbei und unbemerkt einen Wendepunkt in der Geschichte des Lebens auf der Erde eingeläutet hat. Wir bezeichnen heute das neue geochronologische Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist, als das Anthropozän.13

Interessant ist der Umstand, dass bis zu dem Zeitpunkt unserer Sesshaftwerdung kaum wissenschaftliche Nachweise von weitverbreiteter Aggression, patriarchalischen Hierarchien und übermäßiger interpersoneller Gewalt existieren. Hingegen haben wir ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Menschen viel Zeit für künstlerische Naturdarstellungen, Rituale und ein intensives Gesellschaftsleben aufwandten. Aus den archäologischen Funden von Artefakten und Höhlenbildern erschließt sich eine offenbar sehr tiefe Verbindung der Menschen mit der Natur, hing doch ihr Wohlergehen und Überleben in hohem Maße von ihr ab. Allerdings ist hier kein Platz für eine verklärende Sicht unserer Vergangenheit. Denn ein sprichwörtliches Honiglecken war das Leben damals mit Sicherheit nicht und die eiszeitlichen Jäger trugen mit ihrem Jagdverhalten vermutlich bereits damals schon zum Verschwinden von großen Pflanzenfressern, der sogenannten Megafauna, bei. Die Beziehung zur Natur war mit Sicherheit gespalten, denn die Menschen mussten sich permanent vor der Natur und ihren Naturgewalten schützen.

Dennoch wurden der Himmel, die Sonne und der Erdboden in vielen Kulturen über lange Zeiträume hinweg verehrt. Es waren die bestimmenden Größen ihres Überlebens. Manche Wissenschaftler vertreten die keinesfalls von der Hand zu weisende These, dass diese seit unglaublich langen Zeiträumen unserer Vergangenheit bestehende Verbindung zur Natur auch heute immer noch in uns schlummert.14

Die im Zuge der Sesshaftwerdung entstandenen Städte führten auch zu einer Veränderung der Gesellschaft, mit zunehmend patriarchalischen Strukturen, der Entstehung von sozialen Schichten, der Etablierung von Armeen, einer zunehmenden Verbesserung von Waffentechnik und landwirtschaftlichen Werkzeugen, um andere Menschen oder die Natur zu beherrschen. Man könnte dies als die früheste Periode bezeichnen, während der sich der Mensch zunehmend von der Natur zu lösen begann. Mit Ausnahmen, denn durch die Anlage von sogenannten Kalenderbauten wie Kreisgrabenanlagen, Sonnentempeln und Megalithanlagen war es den nun weitgehend standorttreuen Menschen auch möglich geworden, die periodischen Bewegungen der Himmelskörper zu studieren.

Die Höhepunkte der folgenden grundlegenden Veränderungen waren das hellenistische Griechenland, das Römische Reich, das mittelalterliche Europa und die Renaissance. Während dieser tiefgreifenden kulturellen Veränderungen blieben immer noch ein gewisser Respekt und eine Verbindung zur Natur bestehen. Detaillierte Naturbeobachtungen und die daraus abgeleiteten Weisheiten waren bis vor wenigen Jahrhunderten zutiefst mit dem täglichen Leben der Menschen verbunden.

Während des Mittelalters und dem alles beherrschenden Diktat des aufstrebenden Christentums in Mitteleuropa entfernte sich der Mensch allerdings zusehends rascher von der Natur. Infolge der sogenannten kleinen Eiszeit (ab Anfang des 15. Jahrhunderts) mit extremen, aber regional unterschiedlichen Klimaschwankungen, langen Wintern und kühleren Sommern fielen die Ernten immer wieder gering aus. Es kam zu Missernten, Lebensmittelknappheit und Hungersnöten. Epidemien breiteten sich aus. Die damals tonangebende Kirche stellte derartige Naturkräfte als das Werk des Teufels dar. Menschen, insbesondere Frauen, die sich mit der Heilkraft der Natur (z. B. Heilpflanzen und Kräutermedizin) beschäftigten und Wissen über natürliche, zyklisch wiederkehrende Phänomene besaßen, wurden als Hexen im Bund mit dem Teufel gesehen. Die offizielle Hexenjagd wurde bereits 1485 von Papst Innozenz VIII. eröffnet und dauerte zumindest 200 Jahre. Der sogenannte »Hexenhammer« gilt als eines der verheerendsten Bücher der Weltliteratur und brachte Zigtausenden Menschen den Tod. Er erschien 1487 und war ein mächtiges Instrument der Inquisition, um die Hexenverfolgungen durch den Papst zu legitimieren. Das Buch diente quasi als Anleitung zur Überführung und Verurteilung von vermeintlichen Hexen. Mit dem Ziel, die Gesellschaft von den Mächten des Bösen zu befreien, entstand daraus, in Verbindung mit der Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg, eine Massenhysterie in Europa, die die Menschen lange Zeit lähmte, nur um schließlich ihr Heil in neuen Weltanschauungen zu finden. Protestantismus, Rationalismus und Empirismus begründeten schließlich den Beginn der wissenschaftlichen Revolution – den Ursprung unseres Wissenschaftsverständnisses.

Große Namen wie Galileo Galilei, Francis Bacon, Johannes Kepler, John Locke, Thomas Hobbes, Isaac Newton und René Descartes bestimmten das wissenschaftliche und philosophische Denken dieser Zeit (und sie tun es heute noch). Die erdrutschartigen Entwicklungen in Mathematik, Physik, Astronomie, menschlicher Anatomie, Biologie und Chemie veränderten grundlegend die Ansichten der Gesellschaft über die Natur und legten den Grundstein zur modernen Wissenschaftsmethodik. Diese wissenschaftliche Revolution fand gegen Ende der Renaissance in Europa statt, dauerte bis zum späten 18. Jahrhundert an und beeinflusste die intellektuelle und soziale Bewegung, die gemeinhin als Aufklärung bekannt ist. Es entstand eine neue Sicht der Natur und die Wissenschaft wurde zu einer autonomen Disziplin. Rationaler analytischer Reduktionismus wurde zu ihrem Kennzeichen. »Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt« zählen zu den zentralen und durchaus heute noch zeitgemäßen und keinesfalls pauschal abzulehnenden Werten. Als zentrales Motto dieser Zeit diente Kants Ausspruch »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« Dem möchte ich ausnahmslos folgen.

Die Jahrhunderte, die der wissenschaftlichen Revolution folgten, sahen das Leben und seine Bausteine allerdings zunehmend als maschinenartig, mechanistisch und vorhersagbar an. Descartes stellte sich das Universum als eine gigantische Maschine vor, die durch mathematische Modelle erklärbar sei. Grundsätzlich ein sehr bestechender Gedanke, der auch die moderne Medizin in weiten Teilen in ihrer Ansicht über das Funktionieren unseres Körpers beherrscht.

Wir werden sehen, dass zwar die Grundsätze der Thermodynamik absolut und unumschränkt ihre Gültigkeit haben, ihre vereinfachte Anwendung auf unseren Körper – bei der beliebten Rechnung von aufgenommenen und verbrauchten Kalorien – hingegen dennoch andere Ergebnisse liefert. Ein klassisches Beispiel für die fehlerhafte Anwendung reduktionistischer Tatsachen auf die Komplexität des Lebens.

Und obwohl längst nicht mehr zeitgemäß und den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechend, sind immer noch viele der Auffassung, dass ein wesentliches Merkmal der Natur ein »Kampf um das Überleben« bzw. das »Überleben des Stärkeren« sei. Dass der Begriff »Survival of the Fittest« zunächst gar nicht von Charles Darwin selbst geprägt wurde, sondern von Herbert Spencer in seiner Hypothese des Sozialdarwinismus, wissen nur die wenigsten. In unserem Unterbewusstsein verankert sind auch die Bilder von unzähligen TV-Naturdokumentationen, die vor allem, die Einschaltquoten im Auge, den brutalen Wettbewerbsaspekt der Natur in den Vordergrund kehren. Während der Wettbewerb in der Natur zwar sicher ein bedeutendes Element darstellt, gibt es noch erheblich bedeutendere Dynamiken, insbesondere über Netzwerke, Partnerschaften und Symbiosen. Tatsächlich ist ein brutaler Wettbewerb im »Kampf um das Überleben« vermutlich sogar eher die Ausnahme als die Regel. Der Begriff der »Fitness« wurde von Darwin im Zuge seiner Theorie der natürlichen Selektion für jene genetischen oder phänotypischen Eigenschaften von Organismen benutzt, die sie mit ihrer Umwelt am besten zurechtkommen ließen. Zahlreiche dieser Eigenschaften beruhen auf Symbiosen, also dem Zusammenleben von artverschiedenen Organismen mit gegenseitigen Vorteilen.

Der zentrale Punkt in der reduktionistischen wissenschaftlichen Revolution ist der Fokus auf die Einzelteile anstatt auf das Ganze. Diese Vorgangsweise hat, wie bereits erwähnt, durchaus ihre Berechtigung, so gelingt es uns, Komplexität zu reduzieren und die Dinge zu vereinfachen, um einzelne Aspekte betreffend den Zustand der Welt und des Menschen leichter zu erfassen. Allerdings sehen wir uns heute zunehmend mit dem Problem konfrontiert, die Erkenntnisse aus all diesen wissenschaftlichen Disziplinen wieder zu einem sinnvollen großen Ganzen zusammenzuführen. Die Probleme liegen nicht primär in den limitierten Möglichkeiten reduktionistischer Betrachtungsweise (diese lassen sich nicht so leicht beseitigen), sondern in der Tatsache, dass unheimlich viele hoch spezialisierte Wissenschaftler ihre Ergebnisse nur innerhalb ihres sehr reduzierten, weil hoch spezialisierten Expertenkreises diskutieren. Ein Zusammenführen der mittlerweile vorliegenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse aus den unterschiedlichsten Disziplinen auf der höheren Ebene einer systemischen Gesamtbetrachtung ist, bis auf wenige Ausnahmen, immer noch weitgehend Mangelware.

Aber ich möchte noch einmal betonen: Diesen Umstand zur Kenntnis zu nehmen, ist in keiner Weise mit Wissenschaftsfeindlichkeit gleichzusetzen, sondern zeigt lediglich die eindeutigen Grenzen unseres modernen pragmatischen wie reduktionistischen wissenschaftlichen Zuganges. Die Untersuchung komplexer, lebender und offener Systeme mit ihren kaum zu überblickenden Interaktionen, insbesondere auf molekularer Ebene, ist mit den uns derzeit zur Verfügung stehenden Möglichkeiten vollumfänglich schlicht nicht möglich. Ob sie es jemals sein wird, wage ich angesichts der zunehmend zutage tretenden Komplexität ernsthaft zu bezweifeln. Wie der gesamte Organismus ist auch jede einzelne Zelle ein komplexes mehrdimensionales Netzwerk, das sich nur abstrakt und in Einzelteile zerlegt, annähernd verständlich darstellen lässt (Abbildung 1). Wenn wir aber mit differenzierter Sachkenntnis die vielen vorhandenen Puzzleteile zusammensetzen, ergibt sich ein sehr deutliches Bild, aus dem sich dringend konkreter Handlungsbedarf ableiten lässt.

Abbildung 1: Der Autor vor einem Poster mit einer Auswahl der derzeit bekannten klassischen biochemischen Reaktionspfade einer Zelle. Allerdings handelt es sich auch hierbei um eine stark reduktionistische, zweidimensionale Darstellung. Im Unterschied zu diesem statischen und vereinfachten Schema sind die realen metabolischen Netzwerke einer Zelle komplexe dynamische, vierdimensionale Prozesse. Die Realität der Lebensprozesse einer einzigen Zelle lässt sich mit heutigem Kenntnisstand grafi sch nicht darstellen.

1 722,70 ₽
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9783701746675
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