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Die wissenschaftliche Revolution und ihre Folgen führten zu großen Fortschritten in unserer Gesellschaft. Diese Segnungen des Fortschrittes kamen aber in vielen Fällen zu einem hohen Preis: der Abnabelung und zunehmenden Entfremdung von der Natur, unserem ursprünglichen natürlichen Habitat. Dieser Abschied hinterließ bei den Menschen zunehmend ein inneres Gefühl der Leere, einen unbestimmten Zustand der Unvollständigkeit, der zunehmend in bedingungslosem Konsum, Egoismus, aber auch in Angst und Depression mündete. Es ist heute in jeder westlichen Konsumgesellschaft zu sehen: Wenn wir uns innerlich nicht vollständig fühlen, beginnen wir uns nach Dingen umzusehen, um diese tiefe Leere zu füllen. Das Missachten von tiefergehenden ursprünglichen Zusammenhängen ist, wie ich versuchen möchte darzulegen, eine wesentliche Ursache für die Entstehung vieler Krankheiten und Gesundheitsstörungen.

Die neue Aufklärung: die Welt nach »Fakten«

»Eines der wichtigsten Bücher, die ich je gelesen habe«, lautet das Urteil von Bill Gates über den Bestseller des 2017 verstorbenen schwedischen Mediziners Hans Rosling mit dem Titel: »Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist«.15

Rosling zeichnet in seinem Buch ein durch und durch optimistisches Bild der heutigen Welt und stützt sich dabei im Wesentlichen auf frei verfügbare Statistiken. Und tatsächlich ist der Anteil von Menschen in extremer Armut weltweit genauso zurückgegangen wie die Säuglingssterblichkeit, während sich Bildung und Lebensstandard vieler Menschen deutlich verbesserten. Bezogen auf die von Rosling ausgewählten Punkte, geht es den Menschen heute sicherlich bedeutend besser als noch vor wenigen Jahrzehnten. Diesen Umstand den Lesern näherzubringen, ist die gute Seite des Buches. Etwas verwunderlich ist allerdings die Argumentation Roslings: »Ich verwende gewöhnliche Statistiken, die von der Weltbank und den Vereinigten Nationen erstellt werden. Diese sind unumstritten. Diese Tatsachen stehen nicht zur Diskussion. Ich habe recht, und Sie haben unrecht.« Ein seltsamer Anspruch, zumal Rosling seine Thesen ausschließlich über Medien wie TED-Talks und unterhaltsame Fernsehauftritte verkündete und nicht über wissenschaftliche Publikationen. Seine Aussagen wurden daher auch nie von sachkundigen Kollegen auf Herz und Nieren geprüft.

Dass dieses Buch zu einem gefeierten Bestseller wurde, kann einen aber vor allem angesichts der hoch selektiven und voreingenommenen Datenquellen nur verwundern. Über die katastrophalen ökologischen Folgen der im Buch gefeierten Erfolge des technischen Fortschrittes und des steigenden Wohlstandes und des damit verbundenen Konsums erfährt man rein gar nichts. Ist das die Welt, wie sie wirklich ist?

Geht es nach Rosling, haben viel zu viele Menschen ein völlig verzerrtes, meist allzu düsteres Bild von der Welt. »Das mangelhafte Wissen über die Welt, das so häufig anzutreffen ist«, so Rosling, sei »das beunruhigendste Problem von allen

Freilich sind die Menschen durch die tägliche negative Flut von Informationen sensationsgieriger Medien (mittlerweile zum Teil auch inklusive öffentlich rechtlicher Fernsehanstalten) mit Sicherheit einem problematischen Zerrbild der Realität ausgesetzt, allerdings halte ich eine derart selektive Sicht, wie sie Rosling in seinem Buch verkündet, für das erheblich beunruhigendere Problem. Denn eine Politik, die auf einer vereinfachten Weltanschauung wie in Factfulness basiert, könnte schwerwiegende Konsequenzen haben.

Die Weltentwicklung wird ausschließlich anhand positiver Trends und Grafiken dargestellt. So finden wir zwar eine Darstellung zur Verringerung der Ölverschmutzung der Meere, aber weder eine Grafik noch eine kurze Erwähnung zur Problematik der starken Zunahme von Plastikabfällen und Mikroplastik in den Ozeanen und ihrer verheerenden Auswirkungen auf die Tierwelt. Die weltweite Zunahme geschützter Naturgebiete und Arten wird überschwänglich gefeiert, eine Erwähnung des drastischen Rückganges der globalen Artenvielfalt, die von der Wissenschaft aus gutem Grund als das sechste Massensterben bezeichnet wird16, sucht man hingegen vergeblich.

Es finden sich zwar Statistiken über den Rückgang von Todesfällen im Zusammenhang mit Kriegen und Naturkatastrophen, jedoch keinerlei Erwähnung, dass nach Angaben der Vereinten Nationen die Zahl der Flüchtlinge höher ist als je zuvor. Zu diesem und unzähligen anderen besorgniserregenden Trends finden wir weder Zahlen noch Grafiken. Gleiches gilt für fast alle Indikatoren, die der Wissenschaft derzeit Sorgen und Kopfzerbrechen bereiten: Kohlendioxid, Stickoxide und Methanemissionen, Ansäuerung der Weltmeere, Verlust tropischer Wälder und rapide Abnahme der biologischen Vielfalt, insbesondere in der Landwirtschaft. Jeder dieser Indikatoren scheint sich in eine negative Richtung zu beschleunigen. Doch darüber wird ein Mantel des Schweigens gebreitet.

Nimmt unsere Nutzung von Rohstoffen analog der letzten fünfzig Jahre weiter zu, führt dies noch in diesem Jahrhundert zu einem vielfachen Anstieg des Ressourcenverbrauchs und der damit einhergehenden Emissionen. Wie lange kann das gut gehen und was sind die wahrscheinlichsten Nebenwirkungen? Für Rosling und Factfulness sind das offenbar keine entscheidenden Fragen. Vielmehr bestehe, so der Autor, die zentrale Herausforderung für westliche Unternehmen darin, die neu entstehenden Märkte Asiens und Afrikas zu nutzen. Diese und viele andere Aussagen lassen das Buch zu einem unkritischen Lobgesang der erstaunlichen Geschichte des großteils technologiebasierten menschlichen Fortschrittes werden. Geht es nach Rosling, ist es unsere Unwissenheit, die uns davon abhält, diese Erfolgsgeschichte zu sehen. In dieser Hinsicht liest sich das Werk allerdings eher wie ein Selbsthilfebuch für manche Führungskräfte aus dem Silicon Valley, denen bei jeder erdenklichen Gelegenheit vermittelt werden soll, dass sie ihre Arbeit gut machen. So wundert es einen auch nicht wirklich, dass Bill Gates, ein wahrlicher Nutznießer des neoliberalen Systems, kurz nach Erscheinen des Buches bekannt gab, er wolle das Buch gratis an alle Universitätsabsolventen verteilen.

Der größte Fehler Roslings besteht jedoch zweifelsohne darin, die vorhandenen wissenschaftlichen Belege für die gegenwärtige Umweltkrise, also die Zerstörung lebenswichtiger Ökosysteme und die Abnahme der biologischen Vielfalt, zu ignorieren. Dies stellt das Wohlergehen heutiger und zukünftiger Generationen infrage. Dass er steigende Lebenserwartung mit besserer Gesundheit gleichsetzt, standhaft das reduktionistische Denken verteidigt und das Problem der an steigenden Weltbevölkerung negiert, möge man ihm angesichts dieser eingeengten Weltsicht nachsehen. Nicht nachsehen kann man ihm als Arzt hingegen die Scheuklappen hinsichtlich epidemiologischer Kenngrößen von Krankheiten. Obwohl Rosling körperliche Krankheiten erwähnt, spricht er nur über jene, die im Rückgang begriffen sind, wie z. B. Masern und Durchfallerkrankungen, jene, die unaufhaltsam auf dem Vormarsch sind und großteils mit unserem viel gepriesenen Fortschritt in Verbindung stehen, klammert er aus. Mit anderen Worten: Roslings Definition von »globaler Gesundheit« ist alles andere als vollständig.

Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt

»Mein absolutes Lieblingsbuch aller Zeiten«, lautet das Urteil von Bill Gates über … Nein, das ist kein Fehler in meinem Manuskript. Auch das 2018 erschienene Buch des bekannten US-Psychologen Steven Pinker mit dem Titel »Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt« zählt zu Bill Gates Lieblingsbüchern, ja es ist sogar sein »absolutes Lieblingsbuch aller Zeiten«. Dies ist auch keineswegs verwunderlich, schlägt es doch in exakt dieselbe Kerbe wie Roslings Factfulness. Übrigens, das sei hier angemerkt, zähle ich mich nicht zu jenen, die Bill Gates hinter jeder Weltverschwörung sehen.

Aber auch dieses Buch ist weniger ein Mutmacher für verzweifelte Neoliberale und Fortschrittsgläubige als eine brandgefährliche Verharmlosung der sich allem Anschein nach anbahnenden Probleme. Auch Pinker versucht durch selektive Statistiken der unbestreitbaren Fortschritte unserer Zivilisation während der letzten zwei Jahrhunderte ein Hohelied auf Wissenschaft und den Fortschritt zu singen. Im Unterschied zu Rosling, der die Umweltthematik überhaupt weitgehend ausblendet, versucht Pinker mithilfe dubioser Zahlen sein Fortschrittsnarrativ krampfhaft zu retten.

Pinker und Rosling, die intellektuellen Apologeten des bedingungslosen Fortschrittes, wollen die Menschheit tatsächlich um jeden Preis davon überzeugen, dass die Zivilisation in die richtige Richtung gehe und die Welt von Tag zu Tag besser würde, und blenden dabei die sich schleichend anbahnenden katastrophalen Folgen dieses Fortschrittes in neoliberaler Selbstherrlichkeit aus.

Sachliche Kritiker werden dabei gerne als Alarmisten verunglimpft. Bei sozialem Fortschritt ginge es nicht primär um Gerechtigkeit und Schutz der Umwelt, so das Narrativ, sondern darum, die gesellschaftlichen Vorteile des Wirtschaftswachstums auszubauen. Eine Aufgabe, die am besten philanthropischen Kapitalisten, den größten Nutznießern derartiger Fortschrittserzählungen, überantwortet wird. Dass die Parole »weiter wie bisher, ohne Rücksicht auf Verluste« unter Berufung auf die an sich positiven und unbestrittenen Werte der Aufklärung wie Vernunft, Wissenschaft und Humanismus offenbar auf große Zustimmung stößt, zeigt sich an den hohen Verkaufszahlen und Bewertungen dieser Bücher.

Werke mit ähnlich dubioser wie verheerender Mission sind Bjørn Lomborg’s »The Skeptical Environmentalist: Measuring the Real State of the World« und Matt Ridleys »Rational Optimist: How Prosperity Evolves«. Der studierte Politikwissenschaftler (!) Lomborg geriet wie Rosling, Pinker und Ridley vor allem wegen seines einseitigen Umgangs mit Quellen und Statistiken in die Kritik seriöser Wissenschaftler. Sein Buch »The Skeptical Environmentalist« enthielt dermaßen viele schwerwiegende Fehler und widersprach in so vielen Punkten dem derzeitigen wissenschaftlichen Konsens, dass ein ganzes Buch – »The Lomborg Deception« von Howard Friel – erforderlich war, um diese offenzulegen.17

Und jetzt raten Sie einmal, welche Medien Lomborgs Buch akribisch verteidigten: die Wirtschaftszeitungen Financial Times, Wallstreet Journal und The Economist. Der bekennende Klimaskeptiker Matt Ridley hat, übrigens wie Lomborg auch, enge Verbindungen zu konservativen und libertären Think Tanks, die die menschengemachte Klimaerwärmung entweder herunterspielen oder gänzlich leugnen. Zeit also, derartigen Skeptikern mit Skepsis zu begegnen.

Dass die simplen (und teilweise völlig abwegigen) Annahmen über naturwissenschaftliche Zusammenhänge und die missionarische Überzeugung von der Harmlosigkeit mancher chemischer Verbindungen in Umwelt und Lebensmitteln gleichsam wie Verschwörungstheorien oft schwer zu entzaubern sind, liegt u.a. wohl daran, dass manche Neo-Aufklärer und Pseudo-Skeptiker, ähnlich wie sektiererische Glaubensfanatiker, jedes Argument im Sinne ihres Glaubenssystems umdeuten und jeden, der anderer Auffassung ist, mit persönlichen Verunglimpfungen penetrant verfolgen.

Die skeptischen Hüter der Wissenschaft verachten Begriffe wie »Rhythmen und Zyklen der Natur« als unwissenschaftlich und esoterisch. Das Frappierende dabei ist, dass gerade die Wissenschaft selbst uns eindrücklich zeigt, dass unser Leben und das Leben auf der Erde exakt diesen Zyklen und Rhythmen unterworfen sind. Von Biorhythmen, Tages- und Jahresrhythmen über Zellzyklen, dem Zyklus von Leben und Sterben bis hin zu zellulären Eigenschaften wie Zitratzyklus, enzymatischen Systemen und Nährstoffkreisläufen. Die Muster wiederholen sich, wohin man blickt. Für die Entdeckung der molekularen Mechanismen, die den circadianen Rhythmus von Lebewesen steuern, wurde 2017 sogar der Nobelpreis für Physiologie und Medizin an Jeffrey Hall, Michael Rosbash und Michael Young verliehen! So viel zur Esoterik.

Gerade in unserer Vergangenheit war das Erkennen von zyklisch wiederkehrenden Mustern in unserer Umwelt von größter Bedeutung, gab es doch weder Uhren noch Kalender. Es ist daher nicht nachvollziehbar, warum diese Betrachtungsweisen als pseudowissenschaftlich abqualifiziert werden. Die Natur verhält sich zyklisch, beinahe alle natürlichen Systeme weisen komplexe Verbindungen auf und sind grundsätzlich zyklisch. Nichts wird zu Abfall im eigentlichen Sinne, alles wird wiederverwertet.

Evolution
Die Antwort auf viele Fragen

Der Prozess der biologischen Evolution ist nach bisheriger Ansicht, sehr vereinfacht ausgedrückt, die von Generation zu Generation stattfindende, allmähliche Häufigkeitsveränderung der vererbbaren Merkmale einer Population von Lebewesen, wobei durch Selektion von Mutationen über viele Generationen eine »Anpassung« der Organismen an vorherrschende Umweltbedingungen stattfindet. Anführungszeichen deshalb, weil sich die Organismen nicht selbst aktiv an ihre Umwelt anpassen, sondern dieser Eindruck nur rückblickend entsteht. Die Ursache hierfür ist die positive Selektion von »adaptiven Eigenschaften« an eine gegebene Umwelt. Im Verlauf vieler Generationen kann es so zu bedeutender Variation und Veränderung innerhalb einer Population kommen.

Ist eine Art mit ihrer genetischen Ausstattung einmal gut an die Gegebenheiten ihrer Umgebung »angepasst«, dauert es – je nach Merkmal – ziemlich lange bzw. viele Generationen, bis über Selektionsprozesse eine neuerliche »Anpassung« an gegebenenfalls neu auftretende geänderte Umweltbedingungen stattfindet. Bakterien haben hier einen entscheidenden Vorteil: Ihre Generationsdauer beträgt im optimalen Fall nur wenige Minuten. Aber bleiben wir zunächst bei uns Menschen.

Das wäre die einfache Sicht auf Darwins epochale Entdeckung. Seit damals sind viele, zum Teil heftige wissenschaftliche Diskussionen um das Thema Evolution geführt worden und heute wissen wir, dass Evolution und insbesondere der Prozess der Artbildung nicht ganz so »simpel« sein dürfte, wie ursprünglich gedacht.

Übrigens fiel mir auf, dass eine auffallend große Zahl von Menschen die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Evolution ablehnen, diese leugnen oder gar Verschwörungstheorien dahinter vermuten und stattdessen lieber göttliche Erklärungsmodelle heranziehen. Liebe Leserinnen und Leser, dass Evolution tatsächlich existiert, ist mittlerweile eine Tatsache. Obwohl wir immer noch von einer Evolutionstheorie sprechen, ist Evolution ein Umstand, der nicht mehr bewiesen werden muss, sondern ein beobachtbares, unbestrittenes Faktum. Im Übrigen lässt sich ein Glaube an Gott mit der Akzeptanz der Evolution durchaus vereinen, wie Papst Franziskus mit seiner beachtlichen Enzyklika »Laudato si’« unter Beweis gestellt hat.

Ein im Zuge der Diskussion über Evolution oft unzureichend berücksichtigter Umstand ist die Tatsache, dass Arten ihre Umwelt natürlich auch selbst gestalten. Das hat weitreichende Folgen. So bauen etwa Biber einen Biberdamm oder Termiten einen Termitenbau und verändern damit fundamental ihre Umgebung. Pflanzen brechen mit ihren Wurzeln die Erde auf und erleichtern damit das weitere Wurzelwachstum und das Vordringen in den Boden. Aus den Wurzeln scheiden sie kohlenhydratreiche Verbindungen aus, die Pilze und Bakterien anlocken. Deren Stoffwechselprodukte wiederum ernähren die Pflanze. Die Anwesenheit nützlicher Bakterien schützt die Pflanze vor Krankheitserregern.

Und allen voran verändern auch wir Menschen unsere Lebensumwelt immer schneller in beträchtlichem Ausmaß. Auf diese Weise bestimmen alle Arten auch ihre eigene Evolution mit. In der Biologie wird dieses Phänomen als Nischenkonstruktion bezeichnet. Es ist das stetige Wechselspiel der vielfältigen Lebewesen untereinander und mit ihrer Umwelt, ohne das eine evolutionäre Entwicklung kaum vorstellbar gewesen wäre.

Seit Darwin wird auch rege darüber diskutiert, ob die Ebene der Selektion im Individuum besteht oder ob evolutionäre Selektion auch auf einer darunter- und darüberliegenden Ebene stattfinden kann (sogenannte Multilevel-Selektion). Wenn eine Gruppe von Individuen zusammenarbeitet und sich so durch Kooperation (und z. B. Teilen von Ressourcen) einen Überlebens- und Reproduktionsvorteil verschafft, kommt dieser Vorteil der gesamten Gruppe, also allen Individuen zugute. Beim Menschen war dies zunächst das kooperative Verhalten (z. B. während der Jagd und dem anschließenden Teilen der Beute oder die gegenseitige Betreuung von Nachwuchs) und in weiterer Folge der Übergang vom Jäger und Sammler zur landwirtschaftlichen Lebensweise. Durch die resultierende Arbeitsteilung entstand ein gewisser »Selektionsvorteil« für die gesamte Bevölkerung. Fraglich ist hingegen, wie in Zukunft diese Selektion im Zeitalter von Überbevölkerung, Megacities und, allem Anschein nach, zunehmendem Egoismus verlaufen wird.

Die Vergangenheit in unseren Genen: Nobody is perfect

Die natürliche Selektion im Rahmen der Evolution wirkt vermutlich im Wesentlichen auf der Ebene des Individuums. Es ist gewissermaßen die »Zielscheibe der Evolution«. Genvarianten (sogenannte Allele) vermehren sich in einer Population durch Weitergabe an die Nachkommen nur dann, wenn sie über die damit verbundenen Eigenschaften des Individuums (im Bezug zur Umwelt) zu einer ausreichend hohen oder höheren Reproduktionsrate (= Weitergabe) führen. Dadurch ergibt sich aber auch, dass die evolutionäre Kraft der natürlichen Selektion Eigenschaften wie Gesundheit und Langlebigkeit (bzw. die damit verbundenen genetischen Eigenschaften) nur so weit fördert, als damit auch ein gewisser Reproduktionserfolg verbunden ist.

Genetische und daher vererbliche Eigenschaften, die sich negativ auf den Reproduktionserfolg auswirken, verschwinden über kurz oder lang. Warum gibt es dann aber noch immer schwere Erbkrankheiten und menschliche Gene, die mit gesundheitlichen Nachteilen verbunden sind? Müsste das nicht alles im Rahmen der Evolution früher oder später verschwunden sein? Die Antwort hierauf fällt vielfältig aus.

Zum einen gibt es genetisch verursachte Krankheiten, die sich erst nach der Reproduktionsphase manifestieren und daher keinen Zusammenhang mit dem Reproduktionserfolg aufweisen. Ein klassisches Lehrbuchbeispiel hierfür ist Chorea Huntington, eine schwere, unheilbare, erbliche Erkrankung, die mit einer fortschreitenden Zerstörung des Gehirns einhergeht und sich meist um das 40. Lebensjahr durch erste Krankheitssymptome bemerkbar macht. Zu spät, um einen nennenswerten Einfluss auf die Reproduktion zu haben.

Zum anderen können manche krankheitsassoziierten genetischen Eigenschaften zu einem anderen Zeitpunkt und/oder in einem anderen Umfeld mit einem gewissen Überlebensvorteil und damit einer höheren Reproduktionsrate verbunden gewesen sein. Dies klingt zunächst zwar etwas unlogisch, dürfte aber die Ursache dafür sein, dass es (immer noch) zahlreiche Krankheiten gibt, die auf gar nicht so seltenen genetischen Varianten beruhen. Während in unserer Gegenwart diese genetische Ausstattung ausschließlich mit einem mehr oder weniger schweren Krankheitsbild verknüpft ist, könnte ebendiese Genetik in einem anderen Szenario einen gewissen Überlebensvorteil mit sich gebracht haben. Auch wenn dieser Vorteil gegenüber anderen Genvarianten noch so gering ausfällt, kommt es aufgrund entsprechend höherer Reproduktionsraten zu einer gewissen Verbreitung dieser Allele innerhalb der Population – sprich Bevölkerung. Zwei klassische Beispiele hierfür wären die Sichelzellkrankheit und die Mukoviszidose (cystische Fibrose).

Die Sichelzellkrankheit (auch Sichelzellanämie genannt) ist in manchen Regionen der Erde eine der häufigsten Erbkrankheiten und geht mit einem veränderten Hämoglobinmolekül (HbS) einher. Personen, die sowohl im mütterlichen als auch im väterlichen Allel das HbS-Gen tragen, leiden an einer schweren Blutarmut mit wiederkehrenden Gefäßverschlüssen, starken Schmerzen und Schäden in multiplen Organsystemen. In manchen sogenannten Entwicklungsländern ist die Sichelzellkrankheit daher nach wie vor mit einer hohen Sterblichkeitsrate verbunden. Obwohl die Auswirkungen diese Krankheit derart katastrophal sind, gibt es beispielsweise in Afrika Gegenden, in denen fast ein Drittel der Bevölkerung heterozygoter Träger für dieses Merkmal ist, also nur ein krankheitsverursachendes Allel besitzt. Wie lässt sich das mit der Tatsache vereinbaren, dass genetische Eigenschaften, die mit einem geringeren Reproduktionserfolg verknüpft sind, über kurz oder lang eigentlich verschwinden sollten?

Die Antwort darauf finden wir, wenn wir uns die geografische Verbreitung dieser Erkrankung näher ansehen. Zwar ist heute die Sichelzellerkrankung aufgrund von Migration global verbreitet, ursprünglich trat diese Krankheit aber vor allem bei Personen aus Subsahara-Afrika und deren Nachfahren auf. Bei noch genauerer Betrachtung stellte man fest, dass die auffällig hohe Frequenz des HbS-Gens mit dem Vorkommen der durch Stechmücken übertragenen Malaria in diesen Gebieten vergesellschaftet war. Die Wissenschaft ist sich heute einig, dass Träger von nur einem HbS-Allel einen geringen, aber dennoch entscheidenden Vorteil gegenüber dem Erreger von Malaria aufweisen. Aufgrund unterschiedlicher diskutierter Mechanismen haben die während eines Teiles ihres Entwicklungszyklus auf unsere roten Blutkörperchen angewiesenen Malariaerreger (Plasmodien) offenbar einen Nachteil, wenn sie auf einen HbS-tragenden Wirt stoßen. Oder umgekehrt betrachtet: Träger von nur einem HbS-Allel haben einen geringen Selektionsvorteil in Malariagebieten, weil sie deutlich seltener an Malaria erkranken. Wobei das Wort »Malariagebiete« hier von entscheidender Bedeutung ist, denn nur in dieser Umgebung besteht dieser »Vorteil« sowohl auf individueller als auch auf Populationsebene. Genetische Eigenschaften sind daher nur in Verbindung mit dem früheren evolutionären Umfeld sinnvoll zu interpretieren. Eine zentrale Erkenntnis, die uns noch mehrfach begegnen wird. In der Genetik wird ein derartiger Vorteil bei Besitz von nur einem Krankheits-Allel als »Heterozygotenvorteil« bezeichnet.

Ähnlich dürfte es sich mit der Mukoviszidose verhalten. Auch hier muss man sich die Frage stellen, warum ein Allel, das bereits in jüngeren Jahren zu einer schwerwiegenden Erkrankung führt, so weit verbreitet ist und nicht im Laufe der Evolution quasi ausselektiert wurde. Auch bei dieser Erkrankung, die auf einer Reduktion funktionsfähiger Chlorid-Kanäle in den Zellmembranen fußt, wird im Falle des Vorliegens von nur einem Allel (Heterozygotie) eine höhere Resistenz gegen bestimmte Krankheitserreger angenommen. Diese Resistenz und der damit verbundene Selektionsvorteil haben vermutlich während der letzten Jahrhunderte zur ausgesprochen häufigen Verbreitung dieses Gendefekts geführt. Im Falle der Mukoviszidose wird ein Selektionsvorteil durch Heterozygotie in Gegenwart von Vibrio cholerae (Erreger der Cholera), Salmonella typhimurium (häufigster Erreger einer schweren bakteriellen Gastroenteritis) und insbesondere von Mycobacterium tuberculosis diskutiert. Gerade bei der Tuberkulose, die vom 16. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts für über 20 Prozent der Todesfälle verantwortlich war, dürfte der Selektionsdruck in der Vergangenheit ausreichend hoch gewesen sein.

Die Liste an genetisch bedingten Erkrankungen, die aufgrund früherer (!) Gegebenheiten zu einem gewissen Selektionsvorteil geführt haben könnten, ließe sich noch länger fortsetzen, wobei die »Gegebenheiten« nicht immer so weit erforscht sind wie in den beiden genannten Beispielen.

Ich habe mich der obigen Ausführung deshalb länger gewidmet, weil das Beispiel dieser und ähnlicher Erkrankungen verdeutlicht, wie wichtig die Berücksichtigung von (prä)historisch-geografischen Kriterien für das Verständnis von, auf den ersten Blick unlogisch erscheinenden, genetischen Eigenschaften der Spezies Mensch ist. Unsere kürzere, vor allem aber längere Vergangenheit in Verbindung mit den damaligen Umwelt- und Lebensbedingungen sind einer der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Auch wenn es sich bei den meisten »modernen« Krankheiten nicht um monogenetische Erbkrankheiten wie Sichelzellerkrankung und Mukoviszidose handelt. Unsere Vergangenheit steckt jedenfalls tief verwurzelt in unseren Genen, ob uns das gefällt oder nicht.

Aber nicht alle mit negativen Gesundheitsfolgen im Laufe des Lebens verknüpfte genetischen Eigenschaften sind die Folge einer Resistenz gegenüber gewissen Krankheitserregern in unserer Vergangenheit. Manche nachteiligen Gene haben ihre heutige Häufigkeit einer unmittelbaren Auswirkung auf eine größere Nachkommenschaft zu verdanken.

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