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Systemdenken

Systemdenken ist im heutigen Zeitalter der hoch spezialisierten Wissenschaften nicht bei allen beliebt, denn es erfordert, sich bis zu einem gewissen Grad auf unsicheres Terrain vorzuwagen, in dem wir nicht alles mit letzter Sicherheit vorhersagen können. Vieles entzieht sich einer exakten und einfachen experimentellen wissenschaftlichen Betrachtungsweise, denn Systeme bestehen selbst wiederum aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Einheiten und Subsystemen, die aus sich ständig verändernden Größen bestehen. Es gilt, in Prozessen zu denken und nicht in Zuständen. Ein simples Ja oder Nein, Richtig oder Falsch gibt es bei dieser Betrachtungsweise in der Regel nicht. Alle Teilaspekte und Systemgrößen existieren selbst wiederum nur als Produkt von anderen, zum Teil weitgehend unbekannten Größen. Die Vielgestaltigkeit lebendiger Systeme macht Vorhersagbarkeit nur bedingt möglich und erweckt häufig den Anschein von Chaos, denn wir haben es mit komplexen Regelkreisen, Prozesskreisläufen und in vielen Fällen noch unverstandenen Gesetzmäßigkeiten zu tun.

Dennoch können unsere herkömmlichen wissenschaftlichen Sichtweisen und Methoden bis zu einem gewissen Grad Einblicke in die Funktionsweise zumindest von Teilaspekten komplexer Lebenssysteme geben. Wir sind zu einem großen Teil auf diese eingeschränkte Sichtweise von Teilaspekten angewiesen. Auch ich werde mich in diesem Buch hauptsächlich auf derartige Erkenntnisse beziehen. Wir haben keine anderen. Das ist so lange kein Problem, solange wir nicht in den Irrglauben verfallen, diese wissenschaftlich »objektivierbaren«, mikroskopisch kleinen Ausschnitte des großen Ganzen würden uns ein eindeutiges, konkretes und vollständiges Bild der Realität liefern. Allerdings, je mehr wissenschaftliche Erkenntnisse aus unterschiedlichen Teilgebieten zusammengetragen werden, desto eher sind wir in der Lage, einen kleinen Einblick in das komplexe Netz des Lebens zu erhaschen und unsere Verflechtungen mit diesem besser zu verstehen.

Evidenzbasiert

Interessanterweise sträuben sich manche Personen in Wissenschaftskreisen, das Adjektiv »reduktionistisch« auch nur in den Mund zu nehmen. Aber nichts anderes tun wir, wenn wir, den Anforderungen der evidenzbasierten Wissenschaft und Medizin folgend, mehr oder minder simple Experimente durchführen, um statistisch signifikante Ergebnisse zu gewinnen. Jede noch so ausgeklügelte doppelblinde, randomisierte und (Placebo-)kontrollierte prospektive Studie (das wäre der wissenschaftliche Goldstandard) stellt eine Reduktion der komplexen Realität dar, die zwingend erforderlich ist, um gemäß der »guten wissenschaftlichen Praxis« die postulierten Hypothesen überprüfen zu können.

Seit Mitte der 1990er-Jahre das Konzept der Evidence Based Medicine (deutsch: »auf empirische Belege gestützte Heilkunde«) in die Medizin Einzug gehalten hat, erfolgen viele ärztliche Maßnahmen auf Basis der zunehmend verfügbaren »evidenzbasierten Leitlinien«. Das ist ohne jeden Zweifel sehr begrüßenswert. Von den »Gründungsvätern« der Evidenzbasierten Medizin (EBM) wurde diese ursprünglich aber durchaus differenziert als »gewissenhafter, ausdrücklicher und umsichtiger Gebrauch der aktuell besten Beweise für Entscheidungen in der Versorgung eines individuellen Patienten« definiert.4

Ein entsprechendes Fachwissen wird also von der Ärzteschaft gefordert, um mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung ihrem Versorgungsauftrag optimal nachzukommen. Diese »bestmögliche Evidenz« ist aber erstens mit einem zum Teil enzyklopädischen Wissen verbunden und zweitens durch die geforderten Studiendesigns der EBM nicht für alle Fragestellungen immer und zweifelsfrei zu generieren. Gerade was die schiere Komplexität der lebenslangen Umwelteinflüsse, der Ernährung und damit verbundener zellulärer Mechanismen inklusive der menschlichen Genetik betrifft, müssen wir uns in vielen Fällen mit geringeren »Evidenzgraden« zufriedengeben und uns auf nachgewiesene Mechanismen (z. B. auf zellulärer und molekularer Ebene), Beobachtungen und empirische Erfahrungen verlassen. Es wäre daher vermutlich sinnvoller, von einer »wissenschaftsbasierten Medizin« zu sprechen.

Große randomisierte und kontrollierte Studien mit Tausenden Teilnehmern und entsprechender wissenschaftlicher Evidenz in Form von statistischen Signifikanzen liegen vor allem für pharmazeutische Produkte vor, da diese kostenintensiven Untersuchungen zu einem beträchtlichen Teil von den Herstellerfirmen finanziert werden. Das ist durchaus üblich und, solange dabei Objektivität herrscht, absolut vertretbar und begrüßenswert. Dass bei gesponserten Studien erheblich häufiger das »erhoffte« Ergebnis herauskommt als bei öffentlich finanzierten, zeigt aber, dass man sich auf die geforderte Objektivität nicht immer verlassen kann.5

Der sogenannte Publikationsbias trägt darüber hinaus dazu bei, dass Studien, bei denen keine Wirkung nachgewiesen werden konnte, seltener veröffentlicht werden.

Bei an sich einfachen und kostengünstigen Interventionen wie Ernährung und Lebensstil, bei denen keinerlei Produkt vermarktet wird, steht selten ein finanzkräftiges Unternehmen dahinter, was wiederum in vielen Fällen, verglichen zur Arzneimitteltherapie, zu einer geringeren Verfügbarkeit der geforderten evidenzbasierten Literatur führt. Darüber hinaus entzieht sich ein ganzheitliches Modell, wie etwa die »biopsychosoziale Medizin«, aufgrund des erheblich komplexeren Ansatzes in den allermeisten Fällen simplen Experimenten mit Interventions- und Kontrollgruppen. Tatsächlich aber existieren unglaubliche Mengen an wissenschaftlichen Nachweisen aus den Disziplinen der Psychoneuroimmunologie, Psychoneuroendokrinologie und Psychosomatik dafür, dass sich psychologische Prozesse wie Stress, Angst und Depression nachweislich auf körperliche Funktionen auswirken. Die Effekte sind aber mitunter stark vom Individuum, sprich vom einzelnen Patienten, abhängig und folgen selten statistischen Mittelwerten. Gleiches gilt für die Ernährungsmedizin. Menschen sind trotz aller Ähnlichkeiten, gerade was die Reaktion auf verschiedene Lebensmittel betrifft, ziemlich unterschiedlich.

Dass die ständige Forderung nach Placebo-kontrollierten, randomisierten Studien als allein seligmachende Entscheidungsgrundlage im Sinne einer Evidenzbasierten Medizin auf einer eingeschränkten Sicht der Realität fußt und wir uns auch auf Vernunft und Verstand stützen sollten, haben Gordon Smith und Jill Pell 2003 mit einer außergewöhnlichen Publikation in der angesehenen medizinischen Fachzeitschrift British Medical Journal bewiesen.6

Die Autoren von der Cambridge University und dem Department of Public Health des britischen NHS veröffentlichten ein sogenanntes »Systematic Review«, also eine Gesamtauswertung aller verfügbaren Studien als Ausdruck der höchsten Evidenzklasse der EBM. Die Studie trug den spannenden Titel: Parachute use to prevent death and major trauma related to gravitational challenge: systematic review of randomised controlled trials. (Fallschirmgebrauch zur Verhinderung von Tod und schweren Verletzungen im Zusammenhang mit der Wirkung von Schwerkraft: systematische Auswertung randomisierter kontrollierter Studien.)

Um also herauszufinden, ob die Benützung eines Fallschirmes eine evidenzbasierte Intervention zur Verhinderung von Tod oder schwerem »gravitationsbedingten« Trauma darstellt, werteten sie die gesamte verfügbare medizinische Literatur nach den höchsten Kriterien der Evidenzbasierten Medizin aus und fanden keinen einzigen wissenschaftlichen Beleg in Form einer Placebo-kontrollierten, randomisierten Studie, der die Empfehlung eines Fallschirmes bei Absprung aus einem Flugzeug stützen würde! Wir benutzen also beim Sprung aus einem Flugzeug eine »Maßnahme« wie den Fallschirm ohne jede wissenschaftliche Evidenz. Wir sind in diesem Fall offenbar schon allein auf Basis der allgemeinen Erfahrung bereit, den Rucksack mit gut 25 m2 Ripstop-Nylon umzuschnallen, um die fatalen Folgen des freien Falls abzuwenden. Mehr noch: Um auf Nummer sicher zu gehen, gibt es auch noch den Reservefallschirm. Alles ohne wissenschaftliche Evidenz.

Um diese Evidenzlücke zu schließen, führte 15 Jahre später Richard Yeh von der Harvard Medical School mit seinen Mitarbeitern tatsächlich eine randomisierte, kontrollierte Studie durch, welche ebenfalls im British Medical Journal veröffentlicht wurde.7

Von 92 möglichen Teilnehmern wurden schließlich 23 nach Aufklärung und Zustimmung in die Studie aufgenommen und mittels Zufallsgenerator zwei Studiengruppen (jeweils mit und ohne Fallschirm) zugeteilt. Ein ungewöhnliches Unterfangen mit spannendem Ausgang. Das zunächst einigermaßen erstaunliche Ergebnis war, dass – entgegen der auf Lebenserfahrung basierenden Einschätzung – der Gebrauch von Fallschirmen weder Tod noch schwere Verletzung signifikant verringerte. Tatsächlich fand sich überhaupt kein statistischer Unterschied zwischen den beiden Gruppen! Der Fallschirm nutzte rein gar nichts. Wie ist das möglich?

Um diesem unerwarteten Studienausgang auf die Spur zu kommen, müssen wir, wie in solchen Fällen üblich, das Kleingedruckte hinsichtlich der verwendeten »Methodik« in der Originalpublikation genauer studieren. Und siehe da, es war wieder einmal das Studiendesign, das für den unerwarteten Studienausgang verantwortlich war. Der Höhenunterschied zwischen beiden Studiengruppen betrug im Durchschnitt aufgrund des Absprunges aus einem am Boden stehenden Sportflugzeug bzw. Helikopter lediglich 0,6 Meter! Was sonst, werden Sie sagen, etwas anderes hätte mich bei dieser Versuchsanordnung auch gewundert. Tatsächlich handelt es sich bei beiden genannten Studien um nach den strengsten Kriterien der Evidenzbasierten Medizin angelegte und durchgeführte Studien (ein Systematic Review und eine randomisierte, kontrollierte Studie), die in einer hoch angesehenen medizinischen Fachzeitschrift publiziert wurden. In beiden Fällen sind Sie aber selbst in der Lage, die tiefer liegenden Ursachen für das jeweilige Ergebnis zu durchschauen. In der Realität der durchaus komplexen biomedizinischen Forschung hingegen können das in vielen Fällen auch studierte Naturwissenschaftler und Ärzte oft nur unzureichend. Abgesehen davon, zeigt uns die letztere Studie unter anderem deutlich, was passiert, wenn eine Intervention (Benutzung eines Fallschirmes) an einer Population untersucht wird, die kaum einen Benefit von der Intervention zu erwarten hat (Menschen, die aus 0,6 Metern Höhe abspringen).

Was ich mit diesen beiden wirklich lesenswerten Publikationen zeigen will, ist, dass die Interpretation von wissenschaftlichen Daten eine durchaus diffizile Sache sein kann und dass das Fehlen von bewiesenem Nutzen und das Fehlen von Nutzen nun einmal nicht das Gleiche sind. Diese Schlussfolgerung soll aber keinesfalls bedeuten, dass wir durch reduktionistische Experimente die Welt und uns nicht doch ein wenig besser verstehen lernen können. Tatsächlich haben wir in den letzten Jahrzehnten viel dazugelernt.

Einfache Mechanik, lineares und kategorisches Denken können nämlich durchaus hilfreich sein, empirische Einsichten in sehr kleinen Bereichen zu erlangen und diese gegebenenfalls auch auf größere Systeme zu übertragen. Dass es sich aber in vielen Fällen schlussendlich doch gänzlich anders verhält als in der Theorie, zeigen uns die lebensweltlichen Alltagserfahrungen. Sie erfüllen zwar mangels Systematik nicht immer die Forderungen nach Objektivität und Wiederholbarkeit, müssen aber gewissermaßen als subjektive Realität ebenfalls zur Kenntnis genommen werden.

Wird etwa einem schmerzgeplagten Patienten vom behandelnden Arzt eindringlich mitgeteilt, es gäbe nach allen Untersuchungen nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaften keine physiologisch oder anatomisch fassbaren Ursachen für seine Schmerzen und er sollte daher eigentlich schmerzfrei sein, so ändert das nichts an der subjektiven Tatsache, dass der Patient gegebenenfalls immer noch an seinen Schmerzen leidet. Der Fehler liegt in der vereinfachten und nicht zulässigen Annahme, wir wüssten bereits alles über Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung. »Wir finden nichts«, ist nicht das Gleiche wie »Sie haben nichts«.

Auch die in den Lebenswissenschaften alles beherrschende Genetik ist, entgegen den Behauptungen vieler sogenannter »Experten«, alles andere als eine bis in alle Einzelheiten verstandene und zu jedem Zeitpunkt beherrschbare Wissenschaft. Wer behauptet, dass die Freisetzung genetisch manipulierter Pflanzen oder die Manipulation von Erbsubstanz im Allgemeinen (z. B. durch die vielversprechende CRISPR / Cas9-Technologie) »mit Sicherheit keinerlei Gefahren« mit sich bringe, hat die komplexen Eigenschaften der Lebensmoleküle DNA und RNA noch nicht verstanden. Diese Aussage des Verfassers dieser Zeilen, der gewiss kein grundsätzlicher Gegner moderner molekularbiologischer Methoden ist, ist keineswegs fortschrittsfeindlich, sondern fußt in ebendiesen Erkenntnissen der modernen molekulargenetischen Wissenschaft.8

Die wissenschaftlich generierten Erkenntnisse müssen aber frei von finanziellen Interessen, krankhaften Ideologien und dem Geltungsbedürfnis Einzelner offen diskutiert werden. Letztendlich ist das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft von absoluter Transparenz und offener Diskussion abhängig.

Der bekannte US-amerikanische Evolutionsbiologe, Genetiker, Mathematiker und streitbare Vordenker Richard Lewontin schrieb im Vorwort seines Buches »Biology as Ideology: The doctrine of DNA« über die Wissenschaft im Allgemeinen:

»Eine einfache und dramatische Theorie, die alles erklärt, sorgt für eine gute Presse, gutes Radio, gutes Fernsehen und Buch-Bestseller. Jeder mit akademischer Autorität, einem halbwegs anständigen Schreibstil und einer einfachen und kraftvollen Idee hat einen leichten Zugang zum öffentlichen Bewusstsein.

Wenn aber die Botschaft lautet, dass die Dinge kompliziert, unsicher und chaotisch sind, dass keine einfache Regel oder Kraft die Vergangenheit erklären und die Zukunft der menschlichen Existenz vorhersagen kann, gibt es erheblich weniger Möglichkeiten, diese Botschaft zu vermitteln. Differenzierte Behauptungen über die Komplexität des Lebens und unsere Unkenntnis seiner Determinanten eignen sich nicht für das Showbusiness

Das, liebe Leser, ist Kritik von einem Biologen, der seine Polemik durch ein beachtliches Lebenswerk hoch angesehener Forschung untermauern kann. Die differenzierte Vermittlung der komplexen Lebensrealität eignet sich nun einmal nicht für sensationelle Überschriften in unserer schnellen Medienwelt mit zunehmend kürzer werdender Aufmerksamkeitsspanne des Durchschnittskonsumenten. Auch einfache Antworten auf all unsere Fragen hinsichtlich Gesundheit, Krankheit und das Leben im Allgemeinen werden angesichts dieser Komplexität nicht ohne Weiteres möglich sein.

Wir werden aber dennoch sehen, dass trotz dieser unglaublichen Komplexität die Lösung für viele unserer großen Probleme »prinzipiell« ziemlich einfach wäre, ja geradezu auf der Hand liegt. Die Antworten finden wir vor allem durch Beobachtung der natürlichen Prozesse aller lebenden Ökosysteme und ihrer Bewohner.

Der Fehlschluss des »naturalistischen Fehlschlusses«

Bevor ich mit meinen Ausführungen ins Detail gehe, möchte ich noch ein paar wesentliche Punkte ansprechen und versuchen, diese zu klären, um wenig fruchtbringende Diskussionen von vornherein zu minimieren bzw. um ein paar Ausgangspunkte zu definieren, welche gewissermaßen als gemeinsame Diskussionsbasis dienen sollen.

Allzu gerne greifen sich manche – von tief verwurzelten »Wahrheiten« und undifferenziertem Fortschrittsglauben getriebene – »Kritiker« einzelne, zum Teil aus Platzmangel nur unscharf erläuterte Punkte heraus, um auf Basis ihrer Kritik zu ebendiesen Punkten dem Gesamtwerk oder gar dem Verfasser jegliche Redlichkeit und wissenschaftliche Qualifikation abzusprechen. Gerade Letzteres erfreut sich in unserer Zeit, erleichtert durch soziale Netzwerke und die damit verbundene Anonymität oder durch mehr oder weniger objektive, aber ebenso anonyme Wikipedia-Einträge, immer größerer Beliebtheit. Die durch derartige, auf Neusprech »Trolle« genannten, Unruhestifter verbreiteten Halbwahrheiten, einseitigen Sichtweisen und ad personam-Anfeindungen stellen ein ernst zu nehmendes Problem für eine demokratisch organisierte Gesellschaft, ihre Freiheit zur differenzierten Meinungsäußerung und damit schlussendlich unsere Zukunft dar.

Nachdem ich in meinem letzten Buch darlegte, warum synthetische Pestizide als überwiegend negativ für die menschliche Gesundheit und die Biodiversität von Ökosystemen zu bewerten sind, löste das offenbar bei einem (der erstaunlicherweise wenigen) Kritiker eine aggressive und undifferenzierte Hasstirade aus. Dieser Kritiker fühlte sich bemüßigt, mir jegliche Wissenschaftlichkeit angesichts dieser Behauptung abzusprechen, mich des »naturalistischen Fehlschlusses« zu bezichtigen und verstieg sich sogar dazu, seine emotionalen Ergüsse der Jury für das Wissenschaftsbuch des Jahres mitzuteilen, welches ebendieses Buch kurz zuvor als Wissenschaftsbuch des Jahres würdigte.

Der Vorwurf lautete, ich säße dem, wie er es nannte, »naturalistischen Fehlschluss« auf, dass alles, was aus der Natur komme, gut sein müsse, wohingegen alles, was künstlich wäre, schlecht und giftig sein müsse. Meine negative Einschätzung von Pestiziden und überhaupt das gesamte Buch seien fortschritts- und wissenschaftsfeindlich. Das, obwohl das Buch gänzlich auf den neuesten wissenschaftlichen Ergebnissen fußte und mit unzähligen Verweisen zu den einschlägigen Studien versehen ist. Ich war zunächst beinahe sprachlos. Bin ich tatsächlich irgendeinem »naturalistischen Fehlschluss« unterlegen?

Der auf den englischen Philosophen George Edward Moore (1873–1958) und sein Werk »Principia ethica« zurückgehende Begriff des naturalistischen Fehlschlusses (auch »Sein-Sollen-Fehlschluss« genannt) spricht im Grunde ein wissenschaftsethisches bzw. philosophisches Problem an, nämlich den irrtümlichen Versuch, nur aus der »Natur« der Dinge abzuleiten, wie diese sein sollten, und ihnen damit einen moralischen Wert zu unterstellen. Das ist dann doch etwas ganz anderes und zeigt, wie es um das wissenschaftstheoretische Verständnis derartiger Kritiker bestellt ist. Bei ausführlicher Beschäftigung mit den Aussagen manch selbst ernannter »Skeptiker« drängt sich einem das Bild von einer unerschütterlichen Fortschrittsgläubigkeit auf, das alles Althergebrachte, Bewährte und auf menschlichen Erfahrungen Beruhende ablehnt, selbst wenn diese den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen.

Da es im vorliegenden Buch in weiten Teilen wieder um neueste Erkenntnisse und Fortschritte (!) aus dem Bereich der Lebenswissenschaften, allen voran der Biologie und Medizin, geht, möchte ich an dieser Stelle noch ein paar Worte zu dem von mir lieber als »naturalistische Fehlannahmen« bezeichneten und tatsächlich weitverbreiteten Phänomen verlieren.

In der Tat verhält es sich so, dass viele Menschen, vor allem Laien, aber auch durchaus naturwissenschaftlich geprägte Akademiker, basierend auf einer gewissen Idealvorstellung von der »Natur«, der Fehlannahme aufsitzen, alles, was aus der Natur käme, sei gut und erstrebenswert, hingegen alles »Künstliche«, insbesondere Errungenschaften unseres Fortschrittes, wie chemisch-pharmazeutische Verbindungen, seien schlecht und daher rigoros abzulehnen. Diese Ansicht wurde mir auch immer wieder in Gesprächen mit Patienten vermittelt, die als überzeugte Anhänger von Naturheilverfahren und Alternativmedizin jegliche »schulmedizinische« Intervention ablehnten. Diese Sichtweise und die zugrunde liegende Argumentation ist zwar subjektiv in vielen Fällen verständlich, kann aber, was die Gesundheit betrifft, durchaus problematisch sein, fußen sie doch häufig auf eklatanten Fehlannahmen und einer simplen wie dichotomen Weltanschauung, wonach etwas entweder »gut« sei, vor allem wenn es aus der »Natur« stammt, oder eben »schlecht« sei, weil es synthetischen Ursprunges ist. Tatsächlich aber hat uns der medizinische und pharmakologische Fortschritt zahlreiche Segnungen beschert, ohne deren Wirksamkeit (natürlich inklusive in Kauf zu nehmender unerwünschter Wirkungen) einige von uns nicht mehr am Leben wären. Eine äußerst vernünftige und zukunftsweisende Form der ärztlichen Heilkunst ist die sogenannte Integrative Medizin. Sie verbindet konventionelle Medizin und wissenschaftlich erforschte komplementärmedizinische Verfahren zu einem sinnvollen Gesamtkonzept, um die individuell beste Therapie für Patienten zu finden und gleichzeitig Nebenwirkungen so weit wie möglich zu reduzieren.

Selbst zahlreiche Eigenschaften unseres Körpers sind per se nicht als optimal und daher gut einzustufen. Sie stellen, wie ich noch erläutern werde, in vielen Fällen Kompromisslösungen dar, die ihre Ursache in unserer evolutionären Vergangenheit haben. Wir sind nicht zwingend für Gesundheit und Langlebigkeit konzipiert, auch wenn das manche glauben. Diese Fehlansicht aufzulösen, ist eine entscheidende Grundvoraussetzung zum tieferen Verständnis der später zu besprechenden Inhalte. Nur weil also etwas in der Natur existiert, heißt das noch lange nicht, dass es notwendigerweise gesund oder erstrebenswert für uns Menschen sein muss. Das ist eigentlich recht einleuchtend, denn die Natur ist immerhin auch voller Giftschlangen, krankheitsübertragender Zecken, tödlicher Infektionserreger und giftiger Pflanzen. Auch Erdöl, Schwermetalle und radioaktive Isotope entstammen schließlich der Natur.

Allerdings ist die Annahme, dass etwas, das der Natur entspringt, auch gut für uns sei, nur bis zu einem gewissen Grad als Fehlannahme zu werten. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass es sich mit unserer Biologie oder der anderer Lebewesen in Einklang bringen lässt, ist um ein Vielfaches größer als etwas, das nicht der Natur entstammt oder nicht mit ihren Prinzipien in Einklang steht. Auch hierfür liegt die Ursache wiederum in der Evolution, genauer gesagt in der Koevolution der Organismen. Die natürliche Verflechtung komplexer, seit Jahrmillionen gemeinsam entstandener Lebensformen, Prozesse und Gegebenheiten zu verleugnen, müsste man daher, analog zu dem an sich schon fehlerhaften Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses, wohl am ehesten als einen »naturalistischen Fehlschluss-Fehlschluss« bezeichnen.

1 722,70 ₽
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9783701746675
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