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Wie viele Arten existieren und wie viele davon sind Bakterienarten?

Wie viele Arten von Lebewesen insgesamt auf der Erde tatsächlich existieren, ist trotz allen Fortschritts in den Wissenschaften noch gänzlich unbekannt. Während am Anfang des 21. Jahrhunderts ca. 1,5 Millionen Arten beschrieben (also quasi katalogisiert) waren, so dürfte Schätzungen zufolge die tatsächliche Artenzahl auf der Erde zumindest acht bis zehn Millionen betragen, wobei diese Schätzung nur Arten mit einem Zellkern berücksichtigt und damit Bakterien nicht beinhaltet. Wie viele Tier- und Pflanzenarten während der letzten Hunderten Millionen Jahre auf der Erde einmal existierten, lässt sich ohnehin nur erahnen. Manche Schätzungen gehen von bis zu 1,6 Milliarden Arten aus. Auch der Artbegriff selbst ist alles andere als einfach zu definieren.

Von den ursprünglichen Versuchen, die Arten über ihr Aussehen zu klassifizieren, ging man zunehmend ab und stellte die gemeinsame Fortpflanzungsfähigkeit in den Vordergrund. Demnach ist eine Art eine Gruppe von Individuen, die sich untereinander kreuzen können und von anderen Gruppen reproduktiv isoliert sind. Doch auch über diesen biologischen Artbegriff gibt es durchwegs Kontroversen, die den Rahmen dieses Buches sprengen würden.

Gerade Bakterien lassen sich weder durch morphologische Merkmale ausreichend unterscheiden noch durch ihre nicht vorhandene Fähigkeit, miteinander Nachwuchs zeugen zu können (sie tauschen ihre genetische Information auf eine andere Weise aus). Eine Möglichkeit, Bakterien voneinander zu unterscheiden, sind biochemische Merkmale hinsichtlich ihrer Fähigkeit, bestimmte Verbindungen abbauen zu können. Dies setzt aber die Möglichkeit zur Kultur dieser Bakterien im Labor voraus.

Eine genauere Einteilung der Bakterien lässt sich durch die neueren Methoden der Molekularbiologie erzielen. Allerdings bestehen auch hier durchaus Grenzen aufgrund der Fähigkeit von Bakterien, DNA-Abschnitte untereinander durch horizontalen Gentransfer auszutauschen. Werden Bakterien, Carl Woese sei Dank, über ihre 16s rRNA in der Metagenomik analysiert, so werden sogenannte OTUs (operational taxonomic units) benutzt, um Gruppen von Bakterien mit ähnlicher DNA-Sequenz zusammenzufassen. Normalerweise wird eine OTU als eigene taxonomische Einheit definiert, wenn 97 Prozent oder mehr der 16s rRNA-Gensequenzen übereinstimmen. Eine tatsächliche Aufteilung in Arten verlangt allerdings eine Übereinstimmung von 98–99 Prozent der Sequenzen. Von einer vollständigen Inventarisierung aller auf der Erde lebenden Bakterien und Archaeen ist die Wissenschaft noch Meilen, um nicht zu sagen Lichtjahre, entfernt.

Derzeit gehen manche Schätzungen davon aus, dass weltweit zumindest eine Milliarde verschiedener Bakterienarten existieren.6

Als Wissenschaftler 1990 aus dem Oberboden eines Buchenwaldes nördlich von Bergen (Norwegen) Bakterien isolierten, fanden sie allein durch mikroskopische Beobachtung 15 Milliarden Bakterien pro Gramm Waldboden. Weniger als ein Prozent davon konnten im Labor kultiviert werden.7 Berechnungen zufolge dürften sich in 30 Gramm gesundem Waldboden gut eine Million verschiedener (!) Bakterienarten befinden. Die ökologischen Folgen einer Abnahme dieser Diversität lassen sich kaum abschätzen. Im menschlichen Körper existieren geschätzte 500 bis 1000 Bakterienarten, obwohl die Anzahl der verschiedenen Unterarten erheblich größer sein könnte.

Symbiosen zum gegenseitigen Vorteil

Ich möchte mich noch einmal kurz der Frage zuwenden, was ein Tier wie uns Menschen eigentlich ausmacht. Der aktuelle Baum des Lebens hat uns eindrucksvoll vor Augen geführt, dass unsere Spezies lediglich ein kleiner Endast ist, der die Folge von mehreren Milliarden Jahren der Evolution auf der Erde darstellt, einer Co-Evolution mit vielen anderen Lebensformen. Über die lange Zeit der Entwicklung zum modernen Menschen lebten unsere unzähligen Vorfahren also bereits in enger, zum Teil symbiotischer Beziehung mit den Mikroben ihrer Umwelt.

Der Terminus »Symbiose« wurde bereits in den 1870er-Jahren von Albert Frank und Anton de Bary benutzt, um der neuen Entdeckung, dass verschiedene Arten zum gegenseitigen Vorteil zusammenleben (z. B. Pilze und Algen in Form von Flechten), einen Namen zu geben. Etwa ein Jahrhundert lang, bis zum Beginn der Molekulargenetik, konnten lediglich Symbioseformen beschrieben werden, die mit freiem Auge oder dem Mikroskop sichtbar waren.

Wohin man auch in der Biologie blickt, findet man Symbiosen. Im Folgenden möchte ich den Begriff »Symbiose« als »das Zusammenleben von Organismen zum gegenseitigen Vorteil« bezeichnen. Diese Anmerkung ist deshalb notwendig, da im englischen Sprachgebrauch der Begriff Symbiose weiter gefasst ist.

Eine der bekanntesten Symbiosen des Pflanzenreiches ist die Lebensgemeinschaft von Rhizobium-Bakterien mit den Wurzeln von Leguminosen (wie z. B. Klee, Bohnen und Linsen). Die Pflanze bietet den Bakterien in ihren sogenannten Wurzelknöllchen einen sicheren Lebensraum, während die Rhizobien, auch Knöllchenbakterien genannt, den Luftstickstoff »fixieren« und ihn auf diese Weise den Pflanzen als Nährstoff zur Verfügung stellen. In der ökologischen Landwirtschaft stellt daher das Anpflanzen von Leguminosenmischungen als Zwischenfrüchte einen wesentlichen Faktor für die Versorgung der Böden mit dem wichtigen Nährstoff Stickstoff dar.

Eine weitere Symbiose im Pflanzenreich von enorm weitreichender Bedeutung ist die Verbindung von sogenannten Mykorrhiza-Pilzen und den Wurzeln von etwa 90 Prozent der Landpflanzen. Die Pflanzen versorgen über ihre zuckerhaltigen Wurzelausscheidungen die Pilze, welche im Boden keine Photosynthese betreiben können, mit zuckerreichen Nährstoffen. Die Pilze versorgen im Gegenzug die Wurzeln mit Mineralien, insbesondere mit dem lebenswichtigen Phosphat.

Besonders extravagant ist die Lebensweise der Meeresnacktschnecke Elysia chlorotica. Dieses durchscheinende Weichtier vereint in sich Eigenschaften sowohl von Pflanzen als auch von Tieren und wurde daher zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch als »Pflanzentier« bezeichnet. Die frisch geschlüpften Larven dieser Meeresschnecke haften sich an Algen der Art Vaucheria litorea an und saugen diese leer. Dabei hat es Elysia auf die im Blattgrün der Alge verborgenen, zur Photosynthese befähigten Chloroplasten abgesehen. Chloroplasten als Organellen von Pflanzenzellen stammen selbst von eigenständigen Cyanobakterien ab und ermöglichen die Umwandlung von Sonnenlicht in chemische Energie. Genau diese Eigenschaft der Chloroplasten macht sich Elysia chlorotica zunutze, indem sie die aufgenommenen Organellen in spezialisierten Zellen verstaut und in der Folge in ihrer gesamten Haut verteilt. Ab diesem Zeitpunkt bildet sie ihren Mund zurück und betreibt den Stoffwechsel ihres Körpers ausschließlich im Solarmodus. Erstaunlich ist, dass sich in den Genen der Schnecke auch Abschnitte aus den Algen befinden, die es ihr ermöglichen, die Chloroplasten, wie in der Alge selbst, mit den regelmäßig benötigten Proteinen zu versorgen. Diese Genübertragung von der Alge auf die Schnecke ist vermutlich durch sogenannte Retroviren zustande gekommen, die sich offenbar in den Zellkernen der Schnecken aufhalten. Elysia verdankt aber nicht nur ihren extravaganten Solarantrieb diesen Retroviren, sondern auch ihr jähes Ende, nachdem sie ihre Eier abgelegt hat.8 Auf einen noch unbekannten Auslöser hin vermehren sich die Retroviren plötzlich in der Schnecke explosionsartig und töten diese. Für Biologen stellt die mysteriöse Lebensweise der Meeresnacktschnecke Elysia chlorotica jedenfalls ein Faszinosum dar.

Algen in der bereits erwähnten Symbiose mit Pilzen in Form von Flechten assimilieren ebenfalls durch Sonnenlicht Kohlenhydrate und stellen diese den Pilzen zur Verfügung. Die Pilze wiederum mobilisieren Mineralstoffe und geben der Lebensgemeinschaft strukturellen Halt und verhindern das Austrocknen. Wir finden eine unglaubliche Vielfalt von rund 25 000 beschriebenen Flechtenarten als Ausdruck dieser überaus erfolgreichen Lebensgemeinschaft an jedem nur erdenklichen Ort der Erde.

Tintenfischen ermöglicht der bakterielle Symbiont Vibrio fischeri, mit dem lichtproduzierendem Enzym Luciferase im Finsteren zu leuchten (Biolumineszenz).

Die bekannte Fähigkeit von Termiten, Holz zu verdauen, beruht ebenfalls zu einem großen Teil auf einer Symbiose mit Mikroorganismen in ihrem Darm. Ein im Termitendarm hausender begeißelter Einzeller ist mithilfe seiner enzymatischen Ausstattung in der Lage, die unverdauliche Zellulose aus dem Holz zu zerlegen. Die dabei durch Fermentation entstehende Essigsäure versorgt die Termite mit Energie. Hier endet aber diese Symbiose noch nicht, denn die begeißelten Einzeller leben selbst ebenfalls in einer Symbiose mit Archaeen, die innerhalb des Einzellers leben und atmosphärischen Stickstoff fixieren können.

Auch zahlreiche pflanzenfressende Säugetiere, wie Schafe, Rinder, Ziegen, Rotwild und viele andere, benötigen ebenfalls zwingend Mikroben in ihrem Darm, um die in der pflanzlichen Nahrung reichlich vorhandenen zellulosehaltigen Pflanzenfasern aufschließen und als Nahrung nutzen zu können. Die Bedeutung derartiger Fermentierkammern zeigt sich in deren Ausmaß. So weist der Pansen bei ausgewachsenen Rindern gut 100 Liter Fassungsvermögen auf. Und obwohl Pferde nicht zu den Wiederkäuern zählen, haben auch sie eine große Gärkammer in Form ihres Dickdarms (mit einem Volumen von bis zu 180 Litern), um Pflanzenmaterial mithilfe von mikrobiellen Bewohnern fermentieren zu können.

Bei Fleischfressern reduzierte sich im Verlauf der Evolution das Volumen dieser Darmabschnitte natürlich beträchtlich, denn sie beziehen ihre Energie nicht ausschließlich aus Pflanzennahrung. Auch bei dem Allesfresser Mensch reduzierte sich der Dickdarm deutlich. Während bei Rindern und Pferden die fermentierenden Darmabschnitte gut zwei Drittel des Darms ausmachen, sind es beim Menschen nur mehr knapp 20 Prozent. Aber auch wenn wir keinen Gärmagen besitzen, so sind wir dennoch, wie alle anderen Tiere auch, auf unsere Darmmikroben in einem großen Ausmaß angewiesen.

Bereits 1907 erkannte der russische Biologe Ilya Metchnikoff (auch Mechnikov geschrieben), dass das Zusammenleben von Mikroben und ihrem Wirt stark vom Kontext dieser Beziehung abhängig war. Faktoren wie Entwicklungsstadium, körperliche und genetische Eigenschaften des Wirtsorganismus und Umweltbedingungen waren unter anderem entscheidend dafür, ob die Mikroben mit ihrem Wirt in Eintracht und zu gegenseitigem Nutzen lebten, oder ob die Mikroben ihren Wirt krank machten oder sogar töteten.

Es war übrigens ebenfalls Metchnikoff, der beobachtete, dass zahlreiche Menschen in der Kaukasusregion ein beachtlich hohes Lebensalter erreichten und dabei täglich große Mengen fermentierten Joghurts zu sich nahmen. Er vermutete, dass die im Joghurt enthaltenen Laktobazillen (Lactobacillus bulgaricus) eines der Geheimnisse hinter der beobachteten Gesundheit und Langlebigkeit sein könnten.

Lange Zeit wurde von den Mikroben in und auf uns von »Kommensalen« gesprochen, was so viel wie »am gleichen Tisch essen« bedeutet. Man nahm an, dass die Mikroben zwar einen gewissen Nutzen von ihrem Wirt hatten und ihn daher nicht schädigten, aber der Wirt selbst keinerlei Benefit aus dieser Beziehung zog. Heute wissen wir, dass ein großer Teil (aber nicht alle) der Mikroorganismen in und auf unserem Körper in einer äußerst engen Beziehung mit uns steht und beiden Partnern einen erheblichen Nutzen beschert. Eine klassische Symbiose also. Durch die Nutzung des weitaus vielfältigeren genetischen Repertoires seiner bakteriellen Partner kann ein Wirt sein »Stoffwechselpotenzial« erheblich erweitern und dadurch sowohl seine ökologische Vielseitigkeit als auch seine Reaktionsfähigkeit auf Umweltveränderungen anpassen.

Während in der Vergangenheit die Bakterien in unserem Darm etwas verniedlichend als »Darmflora« bezeichnet wurden, hat uns die Wissenschaft der Metagenomik während der letzten zehn bis 20 Jahre deutlich vor Augen geführt, dass die Beziehungen unseres Körpers mit den Mikroben in und auf uns erheblich komplexer und intimer sind. Ein gesundes Leben ist für ein Tier wie den Menschen maßgeblich von dieser vielgestaltigen Beziehung abhängig. Eigentlich kein Wunder bei einer derart langen gemeinsamen Vergangenheit. Eine Frage, die mir in diesem Zusammenhang immer wieder gestellt wird, ist, ob wir nicht auch ohne Mikroben leben könnten.

Ist Leben ohne Mikroben möglich?

Louis Pasteur äußerte einst, dass ein Leben ohne Mikroben nicht lange möglich sein könnte. Kann das stimmen? Was würde in einer Welt ohne Mikroben passieren?

Wenn wir Zellorganellen wie Mitochondrien und Chloroplasten, die ursprünglich auch eigenständige Mikroben waren, im Laufe der Evolution aber zu wesentlichen Bestandteilen eukaryoter Zellen wurden, weglassen würden, dann wäre die Antwort ziemlich klar und einfach. Eukaryotisches Leben in Form von Pflanzen, Pilzen und Tieren (einschließlich uns Menschen) würde in ihrer Abwesenheit sofort aufhören zu existieren.

Aber, wenn wir von endosymbiontischen Zellorganellen einmal absehen, wie sieht es mit dem Rest der Bakterien und Archaea aus? Was wäre die Welt ohne sie? Vermutlich würde Leben auf der Erde auch ohne Mikroben bis zu einem geringen Grad möglich sein, aber sowohl Quantität als auch Qualität des irdischen Lebens wären drastisch reduziert.

Und wie sieht es für höhere Organismen wie Mäuse oder Menschen aus? Gibt es für sie ein Leben ohne Mikroben? Tatsächlich können Mäuse, die keimfrei, also steril, gezüchtet wurden, was bei wissenschaftlichen Experimenten manchmal recht hilfreich ist, in einer keimfreien Umgebung überleben. Derartige Versuchstiere, die gänzlich ohne Mikroben aufgezogen werden, nennt man »gnotobiotische« Tiere. Sie sind zwar lebensfähig, weisen aber erhebliche Defizite auf. So kommt es in einer bakterienfreien Umwelt aufgrund einer mangelhaften Entwicklung des Darmnervennetzwerkes zu einer verringerten Beweglichkeit ihres Darms, was zu einem stark vergrößerten Blinddarm und einem höheren Risiko für tödliche Komplikationen führt. Darüber hinaus besitzen diese Tiere kleinere Lymphknoten und ein schlecht entwickeltes Immunsystem sowie niedrige Spiegel von Serum-Immunglobulinen und weißen Blutkörperchen. Keimfreie Tiere weisen auch reduzierte Organgrößen von Herz, Lunge und Leber auf. Aufgrund der mittlerweile bekannten Wechselwirkungen zwischen Darmbakterien und der neurologischen Entwicklung kann ihr Fehlen auch unvorhergesehene Folgen für die neurophysiologische und psychische Gesundheit haben. Für gnotobiotische Mäuse in einer keimfreien Laborblase lässt sich die Frage also recht einfach beantworten: Ein Leben ohne Mikroben scheint möglich zu sein. Aber ist es ein gutes, gesundes Leben? Wohl eher nicht.

Interessant wird das Gedankenexperiment eines Lebens ohne Bakterien und Archaea aber erst, wenn wir dabei die gesamte Biosphäre betrachten. In einem Beitrag für die wissenschaftliche Fachzeitschrift PLOS Biology9 versuchten die Mikrobenforscher Jack Gilbert und Josh Neufeld diese Frage ausführlich zu beleuchten:

Keimfrei gehaltene Mäuse können im Labor vor allem deshalb überleben, weil sie alle benötigten Bausteine ihrer Ernährung von ihren menschlichen Betreuern in Form von chemisch synthetisierten Verbindungen erhalten. Ohne Betreuer mit weißem Laborkittel würden ihnen aber sehr bald die lebensnotwendigen Nahrungsbestandteile fehlen, da die Mikroorganismen, welche die essenziellen Nährstoffe im Darm synthetisieren, nicht vorhanden sind. Auch wir Menschen müssten daher zeitlebens in einer keimfreien Blase leben und dürften diese, ohne ein durch Bakterien entsprechend trainiertes Immunsystem, nie wieder verlassen. Wie in einer derartigen sterilen Blase die physiologische und psychologische Entwicklung keimfreier Menschen abläuft, ist in Ermangelung solch unethischer Experimente gänzlich unbekannt.

Würden alle Bakterien und Archaea dieser Erde auf einen Schlag verschwinden, wäre vermutlich unser erstes Problem ein Mangel an Stickstoff. Der von Pflanzen benötigte Stickstoff wird, wie bereits erwähnt, von Bakterien aus atmosphärischem Luftstickstoff fixiert. In Abwesenheit dieser bakteriellen Leistung müssten wir in einer Welt ohne Bakterien unvorstellbare Stickstoffmengen durch das sogenannte Haber-Bosch-Verfahren unter erheblichem Energieaufwand künstlich aus der Luft gewinnen, um diesem Mangel zu begegnen. Ansonsten würde die globale Photosynthese vermutlich innerhalb eines Jahres enden. Die benötigten Mengen an Stickstoff wären unermesslich und die Ausbringung in allen bewachsenen irdischen Habitaten eine kaum zu bewerkstelligende Herkulesaufgabe.

Früher oder später würde der produzierte Stickstoff aber in den Ozeanen akkumulieren und in der Atmosphäre fehlen, da wir mittels Haber-Bosch-Verfahren den Stickstoff irgendwann weitgehend aufgebraucht hätten. Der ebenfalls unausweichliche atmosphärische CO2-Anstieg durch Atmung und die Verbrennung fossiler Brennstoffe würde die globale Erwärmung massiv beschleunigen. Irgendwann würde auch der atmosphärische Sauerstoff knapp werden, da große Mengen Sauerstoff durch Photosynthese betreibende Mikroben in den Ozeanen gebildet werden. Ob dieser Prozess Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern würde, bleibt Spekulation.

In einer Welt ohne Bakterien und Archaea gäbe es freilich auch keine Bakteriophagen (Viren, die in Abhängigkeit von Bakterien »leben«). Auch wenn wir diese nicht sehen, so würde das spontane Absterben von weltweit geschätzten 1x1030 (eine 1 mit 30 Nullen) Phagen durch ihren Zerfall reichlich Kohlenstoff, Phosphor und Stickstoff freisetzen. Auch der Umstand, dass etwa die Hälfte der globalen Biomasse aus prokaryotem Leben besteht, würde bei einem plötzlichen Absterben eine recht große Menge an organischem Material anfallen lassen. Wer würde diesen Berg abbauen? Während zwar Insekten, mikroskopisch kleine Lebewesen, Protisten, Schleimpilze und Pilze einen beträchtlichen Anteil an Biomasseabbau und Recycling in der Biosphäre haben, tragen vor allem Bakterien und Archaea maßgeblich zu diesem Abbau bei. Ohne Mikroorganismen würde daher abgestorbene Biomasse relativ rasch akkumulieren. Das für alle Lebewesen notwendige Recycling dieser biochemischen Verbindungen würde daher früher oder später zu einem Stillstand kommen. So würde z. B. das lebensnotwendige, nicht erneuerbare Element Phosphor aus dem Lebenskreislauf verschwinden. Auch ein weiterer Abbau von Phosphat aus Phosphorminen durch den Menschen wird irgendwann in nächster Zukunft sein Ende finden und damit einen endgültigen Phosphormangel verursachen. Dieses Szenario steht uns übrigens auch ohne den hier hypothetisierten Wegfall der Bakterien und Archaea durch den Abbau für landwirtschaftlichen Handelsdünger früher oder später ins Haus.

Viele unserer Nutztiere sind auf die enzymatische Aktivität der sie bewohnenden Darmbakterien und Archaea angewiesen. Kühe, Schafe und Ziegen könnten die zellulosereiche Nahrung nicht mehr abbauen und würden im Handumdrehen verenden. Auch Menschen sind von den mikrobiell hergestellten Vitaminen und Aminosäuren abhängig. Möglicherweise könnten wir diese industriell eine gewisse Zeit lang künstlich herstellen.

Auch die Termiten und andere Lebewesen würden ohne ihre mikrobiellen Symbionten ihren Metabolismus nicht aufrechterhalten können. Mehr als die Hälfte des Phytoplanktons benötigt das Vitamin B12 von ihren bakteriellen Partnern. In einer Welt ohne Bakterien und Archaea würden also viele eukaryote Lebewesen – vom Phytoplankton über Termiten bis hin zu den Wirbeltieren – aufgrund von Nährstoffmangel absterben. Der gesamte globale biogeochemische Nährstoffzyklus würde ohne Bakterien und Archaea recht rasch zum Erliegen kommen. Die Folge wäre ein Aussterben der meisten Arten dieser Erde.

Wie lange würde es dauern, bis wir Menschen das Fehlen von Bakterien und Archaea bemerken würden? Laut Jack Gilbert und Josh Neufeld würden wir viele erste Anzeichen dieser globalen Veränderung bereits nach ein paar Tagen oder Wochen bemerken. Anfänglich wären wir noch in der Lage, unsere Nahrung zu verdauen und unser Immunsystem würde seinen Kampf gegen Viren, Pilze und Parasiten fortsetzen. Die ersten Schlagzeilen würden vermutlich die Milchindustrie und die Rinderzucht betreffen. Bei Klärwerken und Wasseraufbereitungsanlagen würde ebenfalls innerhalb von ein bis zwei Tagen ersichtlich werden, was passiert ist. Ein kompletter zivilisatorischer Zusammenbruch in Verbindung mit einem katastrophalen Einbruch der Lebensmittelproduktion würde innerhalb des ersten Jahres eintreten. Der Auslöschung eines Großteils der Menschheit und der nichtmikroskopischen Lebensformen des Planeten würden eine lange Phase des Hungers, der Krankheiten, des Bürgerkrieges und der Anarchie und schließlich eine globale biogeochemische Erstickung folgen.

Dieses Gedankenexperiment zeigt deutlich, dass es die Mikroben in Form von Bakterien und Archaea sind, die die grundlegenden Lebensprozesse des Planeten ermöglichen. Kurzfristig wäre ein Leben ohne sie möglich, langfristig würde das meiste Leben dieser Erde, wie wir es kennen, aber nicht weiter existieren können. Die Evolution hingegen würde aller Wahrscheinlichkeit nach weiter verlaufen …

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