Читать книгу: «Auslaufgebiet», страница 4

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Sie wurden von der Cap Anamur gerettet, dreizehn Erwachsene und fünf Kinder. Die kinderlosen Nguyens gaben das Mädchen als ihr eigenes aus und nannten sie Dao Thi. Mit Scharen anderer verängstigter Landsleute erreichten sie ein fremdes Land. Wie eine Handvoll Bauklötze warf man die Heimatlosen über Deutschland aus. Die kleine Familie Nguyen wurde vom niedersächsischem Ministerpräsidenten mit Blaskapelle und Butterkeksen begrüßt und für Oldenburg eingeteilt.

Dort wuchs Dao behütet auf. Ihre neuen Eltern waren gläubige Christen, besuchten regelmäßig den Gottesdienst, übernahmen Ehrenämter zuhauf, arbeiteten hart und lebten unauffällig. Sie hielten Dao zum Beten und Lernen an, erzählten ihr erfundene Geschichten von den unbekannten Eltern, den Düften, Klängen und Bräuchen der Heimat und sprachen niemals Vietnamesisch mit ihr.

Dao wurde eine gute Schülerin. Sauste durch das Gymnasium, lächelte höflich in alle Richtungen und schloß als Jahrgangsbeste ab. Sie landete mit Photo im Lokalblatt, alle tätschelten ihre hohen Wangen, ihr seidenschwarzes Haar, mehr stolz auf sich als die norddeutsche Asiatin. Dao hatte es satt. Wollte nicht mehr Exotin sein, gefragt werden, wie man korrekt Reisnudeln zubereitet, ob ihr deutsches Essen nicht zu schwer und Schützenfestkorn bekömmlich seien, wollte sich nicht mehr ducken, schleichen, fehlerlos leben.

Sie wollte zu den Guten gehören, für Recht, etwas Ordnung sorgen, helfen, schützen. Sich verstecken hinter einer Aufgabe, in einer Uniform, einer großen Stadt, vielleicht sogar dazugehören zu Corps oder struppiger Einwohnerschar, irgendwann. Sie nahm eine Deutschlandkarte, sah die Flecken Hamburg, Köln und München, umkreiste den dicken Flatschen Berlin und blieb hängen. Ihre Eltern bettelten, schimpften, die Mutter weinte, der Vater argumentierte. Sie hatte doch Abitur, sollte studieren, Ingenieurin werden, Brücken bauen, zurückkehren nach Saigon, erfolgreich, europäisch gebildet. Aber Dao wollte Polizistin sein, von dort zur Kripo.

Natürlich wurde sie genommen. Machte die Ausbildung im Schnelldurchlauf, landete als Streifenpolizistin und einzige Frau auf einem Ostberliner Revier. Nichts von dem, was sie in Oldenburg gelernt hatte, half ihr dort. Sie wurde zur verachteten Fidschi, im Einsatzfahrzeug neben die Besoffenen gesetzt, deren Erbrochenes in ihrem Schoß, deren wütende Fäuste in ihrem Gesicht landeten. Die Kollegen bedrängten sie in der Umkleide und schickten sie unter brüllendem Gelächter Zigaretten holen. Anders als Oskar war sie allein, konnte nicht berlinern und hätte sich nie an den Polizeipräsidenten herangetraut. Sie hatte keine Chance auf die Kripo.

Bei einer Polizeikontrolle lernte sie Jakob kennen. Oskar hatte mal wieder etliche Verkehrsregeln mißachtet, seine Kutsche keinen TÜV, er glaubte, als Kriminaler könne man das anders regeln. Dao belehrte ihn in oldenburgischem Hochdeutsch, daß er sich irre. Daos Streifenkollege erkannte den Kripokommissar, grüßte devot und stauchte die junge Asiatin mit einer Kaskade sexistischer und rassistischer Beleidigungen zusammen.

Jetzt zeigte Jakob, was er von seinem Neuköllner Freund gelernt hatte, schredderte den großmäuligen Uniformierten mit Altberliner Schimpfwörtern, daß Oskar zufrieden grunzte. Dann sah Jakob Dao in die Augen. Sie reckte das Kinn hoch, er gab ihr seine Telefonnummer.

Dao dachte, sie hatte einen Einstieg zur Kripo gefunden. Ein echter Kommissar als Fürsprecher, sie war euphorisch. Aber sie traf auf den Geisterseher. Der lud sie in seine Wohnung, hörte ihren sprudelnden Geschichten zu, wartete, bis sie sich leergeredet hatte, holte eine Flasche Wein, sagte, da ist noch was, und nahm auch die Sintflut an Tränen in Empfang. Als sie damit fertig war, füllte er zwei große Gläser und sagte, Du solltest kündigen.

Sie hatte sich gewehrt. Wütende Argumente aufgehäuft, die Beine in den Treibsand von Jakobs Augen gestemmt. Wer ändert schon gern die Richtung?

Eine Woche später kündigte sie. Jakob gab ihr Schlafplatz und Freundschaft. Sie wurde Privatdetektivin. Nach einem halben Jahr konnte sie sich ein Büro in einem Schöneberger Souterrain leisten, nach weiteren drei Monaten die kleine Wohnung darüber. Sie zog unter Tränen und Dankesreden aus Jakobs Besenkammer aus.

Jetzt schwebte sie in ihrer winzigen Detektei über dem Potsdamer Platz und besaß ein Zwergen-Penthouse drei Straßen weiter. Die stolzen Eltern hatte ihr Wohlstand versöhnt, nur selten sprachen sie vom Studium, umso häufiger von Enkeln. Aber Dao hatte keine Zeit für Familie. Sie arbeitet hart und ließ sich teuer dafür bezahlen.

Aus dem Fahrstuhl stieg ein Mann um die Vierzig. Unter seinem teuren Anzug appetitlich muskulös, ohne aufdringlich kraftstrotzend zu sein. Markantes Kinn, selbstbewußte Bräune, ein Aktenkoffer in der Linken. Er sah ihr direkt in die Augen. »Mrs Nguyen?«

Dao nickte und trat zurück.

Der Mann setzte sich vor ihren Schreibtisch.

»Hatten wir einen Termin?«, fragte Dao.

»Mein Auftraggeber möchte Ihnen ein Angebot machen.«

»Weiß er, daß ich teuer bin?« Dao stellte das Finanzielle gern an den Anfang, erst recht im Angesicht eines Maßanzugs.

»Hätten Sie denn Zeit?«

»Das hängt davon ab, worum es geht.«

»Einen Mord.«

Dao zog eine Augenbraue hoch.

»Sie sind uns von der Londoner Anwaltskanzlei Noble & Timber empfohlen worden.«

Eine Erbschaft war geringer ausgefallen als gedacht und der Berliner Kunde vermutete einen langfingrigen Treuhänder. Dao hatte recherchiert, ein Anwesen in Cornwall, rassige Gäule und Nobelkarossen auf Erbschaftskosten entdeckt. Erfolglos hatte Noble & Timber versucht, den Treuhänder rauszuwinden.

»Ihr Auftraggeber ist kein Deutscher?«

»Der Mord wurde hier verübt.«

»Die Berliner Kriminalpolizei hat eine exorbitant hohe Aufklärungsquote. Sparen Sie sich das Geld für teure Ermittlungen.«

»Mein Auftraggeber ist es nicht gewohnt, passiv zu sein. Er bestimmt gern selbst über die Qualität der Abläufe.«

Dao setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl. »Ich soll also der Kripo auf die Finger sehen?«

»Sie sollen vor allem schneller ermitteln.« Der Mann öffnete seinen Aktenkoffer und entnahm ihm einen großen und einen kleinen Umschlag. »Mein Auftraggeber wartet ungern.« Er legte eine behaarte und manikürte Hand flach auf den kleinen Umschlag. »Das hier sind zehntausend Dollar zu ihrer freien Verfügung. Zusätzlich sind soeben fünfzigtausend Dollar auf ihrem Konto eingegangen.«

»Und wenn ich den Auftrag ablehne?«

Der Mann lächelte, öffnete den zweiten Umschlag und schob ihn auf den Schreibtisch. »Unsere Juristen haben einen Vertrag aufgesetzt. Sie müßten auf der letzten Zeile unterschreiben.« Er zog einen Kugelschreiber aus dem Jackett und legte ihn auf den Umschlag.

Dao schob beides zurück. »Sind Sie fertig?«

Er zog einen wattierten Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke. »Im Erfolgsfall erhalten Sie einen Bonus. Das heißt, wenn Sie den Täter vor der Polizei finden und meinem Auftraggeber seinen Namen nennen.«

»Und dann? Will er selbst die Gerechtigkeit wiederherstellen, bevor das Recht dazwischenfunkt? Kann es sein, daß Ihr Auftraggeber Russe ist?«

Der Mann lachte knarrend. »Er ist Kanadier und Philanthrop.«

»Reich und ein guter Mensch? Das gibt es nicht«, antwortete Dao.

»In der Reihenfolge schon. Erst kommt das Geld …«

»Und dann die Moral. Altes vietnamesisches Sprichwort.« Dao lehnte sich zurück. »Warum habe ich das Gefühl, daß das alles nicht ganz koscher ist?«

»Seien Sie unbesorgt. Mein Auftraggeber geht nur den direkten Weg und bleibt dabei selbst verborgen.«

»Er will mich mit Geld zunebeln.«

Der Mann schwieg.

»Ich will wissen, auf wen ich mich einlasse und warum er so viel Geld in etwas Vorsprung zu investieren bereit ist.«

»Ich erhöhe auf 100.000 Dollar.«

Dao wies auf die Tür.

Der Mann zog sein Handy hervor, tippte und wischte geduldig und wandte sich schließlich wieder Dao zu. »Wenn Sie ein paar Sachen packen könnten. Unser Chauffeur fährt sie dann zum Flughafen.«

»Wie lange werde ich fort sein?«

»Achtundvierzig Stunden. Es sei denn, Sie möchten den Aufenthalt verlängern. Der Ort, an dem mein Auftraggeber lebt, ist beeindruckend. Wildnis, so weit das Auge reicht. Können Sie reiten?«

»Mit Natur bin ich nicht zu bestechen. Sagen Sie dem Chauffeur, ich erwarte ihn in zwei Stunden.«

Jakob saß in einem Schlachtenseer Biergarten und sah fasziniert auf das schuftende Gebiß von Marie, die einem Berg von Spare rips, nachdem sie sie in farbenfrohe Soßen getunkt hatte, den Garaus machte. Ihre Finger trieften vor Fett, sie schmatzte. Zu ihrer Linken dösten ein hünenhafter Ridgeback, ein bulliger Rottweiler und ein putziger Terrier in der sich senkenden Vorfrühlingssonne.

Er hatte Hektor zwischen Hauben abgeliefert, der tat MMs Untersuchungen auf körperliche Unversehrtheit als unmännlich ab, stieg auf seinen Leopardenimitatsessel und fiel nach Sekunden ins Koma. Bei Jakobs Verabschiedung bellte und zuckte er im Schlaf.

»Kenn ick«, sagte Marie mit vollem Mund, als Jakob ihr das Photo von Iris Gerber zeigte. »Joggt in den teuersten Markenklamotten, die gerade auf dem Markt sind, durch mein Rudel und als der eine oder andere sie beschnuppern will, keift sie los wie ein Waschweib. Hundehasserin Marke Ost. Streit gesucht hat sie.« Sie leckte die Finger geduldig einzeln ab. »Konnte froh sein, daß keiner sie angegriffen hat. Mittendurch, manche Leute haben wirklich eine Vollmeise.« Sie tippte sich eine Fettspur auf die Stirn.

»Und was hast Du gemacht?«, fragte Jakob.

Stirnrunzelnd sah sie ihn an. »Zurückgekeift natürlich, was denkst Du. Grober Klotz, grober Keil. Ich persönlich bin ja hinterhofgeschult. Kindheitsmäßig gesehen. Aber die Zehlendorfer Pfeifen versuchen es. Triebabfuhr, sagt ein Kunde immer. Sieht die Ein-Euro-Jobber-Hundetussi aus wie ein ungewaschenes Opfer und dann wehrt die sich.« Sie lachte mit entblößten Zähnen, ebenmäßig weiß mit Fleischresten garniert. »Die Welt war früher einfacher.«

»Hat sie klein beigegeben?«

»Mit ’nem Anwalt gedroht.« Sie winkte ab. »Aber ich pöbele nicht justinabel. Habe ich von einem Kunden. Schneckchen und Hohlwand kost nix, Schlampe ist teuer.«

»Vorderhaus hilft Hinterhof.«

»Bei gemeinsamen Interessen.« Der Ridgeback stand auf und kratzte sich umständlich. Seine Hoden baumelten im Takt. Er riskierte einen Blick auf den Rippenteller, unauffällig.

»Und gab es ein Nachspiel mit der Frau?«, fragte Jakob.

»Jede Woche haben wir uns getroffen. Wollte keine andere Strecke laufen, und so weit kommt’s noch, daß ich mein Revier aufgebe.«

»Finstere Blicke, böse Worte, oder mehr?«

»Nee, Meister, abgemurkst habe ich sie nicht. Brust raus und den längeren Atem, sonst nüscht. Diese neureichen Tussen halten nicht durch. Aber den Förster hat sie mir auf den Hals gehetzt. Und der hat das Hacke übergeben, seinem Pitbull. Schlimme Sitten, statt ’ne Niederlage hinzunehmen, klimpert man mit den teuren Wimpern und ruft nach männlichem Schutz. Den Pitbull solltet Ihr Euch übrigens mal angucken.«

Waldarbeiter Hacke hatte ihn angelogen, sieh an. Von wegen, kenn’ ich nich’. »Habe schon erlebt, daß der etwas speziell ist.«

Sie lachte wieder und tunkte die letzte Rippe in den Ketchup. »Besonders für knackige Frauenärsche im Auslaufgebiet.«

»Und für pazifistische Amseln.«

Dao haßte es zu fliegen. Aber es ging um einhunderttausend Dollar. Also schob sie das unendliche Meer unter sich in die Obhut von zwei Valium. Daß sie nach fünf Stunden schon wieder die Augen öffnete, zeigte, wie stark ihe Angst war. Immerhin erfuhr sie so, daß der Privatjet, dessen einziger Gast sie war, gen Westen flog. Als sie unter sich das Meer durch eine Wolkenlücke blinzeln sah, griff sie sofort nach der Valiumpackung und nahm drei auf einmal.

Sie war zu klein gewesen, um sich an die Nußschale zu erinnern. Aber immer wieder hatten Nguyens von den Schrecken des Südchinesischen Meeres gesprochen, von ihrer in die Fluten stürzenden Mutter und dem hinterherspringenden Vater. Jeden Sonntag hatte Dao in den kargen Kirchen Oldenburgs Kerzen entzündet und Vaterunser gebetet für ihre ersoffenen Eltern. Inzwischen erschien es ihr, als hätte sie all das gesehen bei geschlossenen Lidern.

Als Dao sich später weigerte, im örtlichen Freibad schwimmen zu lernen, hatte ihr Vater gedroht, sie ende wie ihre leiblichen Eltern. Auf ihre Frage, ob die nicht hätten schwimmen können, antwortete er, keiner von uns. Dao wurde still und verkündete am nächsten Morgen, wenn er ihr erklären könne, warum der Vater dann gesprungen sei, mache sie das Seepferdchen.

Sie blieb Nichtschwimmerin, mied sogar den Beckenrand und jede Badewanne und haßte das Meer. Für seine unendliche Größe, kalte Tiefe und weil es das Grab ihrer Eltern war.

Taumelnd verließ sie schließlich den Jet, um in eine Propellermaschine umzusteigen. Sie erkannte weder das Land noch den Flughafen. Direkt nach dem Start der zugigen Maschine fiel sie erneut in tiefen Schlaf. Irgendwann wurde sie so sanft wie nachdrücklich geweckt, man bot ihr etwas zu essen an. Sie lehnte ab, bat, als sie nicht enden wollende Waldflächen unter sich sah, um eine Flasche Wasser, und versuchte, die Macht des Valiums zurückzudrängen. Immer wieder nickte sie ein, aber als man sie schließlich in einen Hubschrauber umsteigen ließ, ging sie bereits einigermaßen sicher.

Der überflog bis zum Horizont reichende Weiden, Hänge mit Wäldern und zahllose Wasserflächen. Dao hatte keine Ahnung, wo sie gelandet war. Keine Dörfer, keine Autos, nicht einmal Straßen oder Pisten. Keine Reklametafeln, nirgendwo Sprache, nichts, woran man hätte festmachen können, wo sie war.

Der Helikopter setzte schließlich auf einer Landefläche im grünen Nichts auf, ein staubiger Jeep erwartete sie. Es ging über Sand- und Steinpisten, zwei Mal durch Wasserläufe bis an den Rand einer Ranch. Sie durchfuhren ein geöffnetes Tor, auf beiden Seiten erstreckten sich Zäune bis zum Horizont, Pferde und Rinder streiften durch die Weite. Schließlich erschien vor ihnen ein so flaches wie ausuferndes Blockhaus aus mächtigen Rotzedernstämmen. Sein Dach war mit Gräsern bewachsen, große Bäume, die Dao nicht kannte, schützten es nach Norden. Auf die weitläufige Terrasse trat ein Mann mit graumeliertem Haar, muskulös, drahtig und braungebrannt sah er dem Jeep entgegen.

Sie war am Ende der Welt, in den Fängen irgendeines Magnaten. Dao, auch wenn der Kerl schon sehr sexy aussah inmitten seiner roten Stämme und auch für einhunderttausend Euro, Du hast sie nicht alle. Der Jeep hielt, sie stieg aus und ging auf wackeligen Beinen auf den Mann zu.

VI

»Was soll an einer Selbstmörderin an der Krummen Lanke interessant sein? Weißt Du, wie viele es davon gibt jedes Jahr? Sie ertränken sich, obwohl man eigentlich meinen sollte, daß sogar Nichtschwimmer das andere Ufer erreichen. Aufhängen kommt auch gut. Nehmen sich ein Bäumchen, krabbeln rauf und lassen sich ins Seil fallen.« Der Redakteur interessierte sich deutlich mehr für den Zahnstocher, der Kantinenrouladenreste aus Ritzen pulte, als für seine kleine Praktikantin.

»Sie hat sich nicht umgebracht, sie wurde ermordet.«

Warum mußte immer er sich um das Gemüse kümmern? Diese glatten Züge, hohen Stimmen, schlichten Ansichten kombiniert mit großen Klappen. Immerhin war sie blond, der Arsch auch ganz nett. »Woher weißt Du das?«

»Das spüre ich.«

»Na super, eine Praktikantin mit Gefühlen.«

»Hier steht, daß die Todesursache noch nicht geklärt ist, daß Fremdverschulden nicht ausgeschlossen werden kann.«

Der Redakteur winkte ab. »Das ist, damit die Angehörigen sich nicht grämen. Bei Suizid läuft immer die Schuldkiste an. Die Nachbarn sagen, Gott, wie schrecklich und denken, wird schon einen Grund gehabt haben.«

»Mein Informant sagt …«

»Eine Praktikantin mit Informanten, wie schick.«

»Er sagt, sie war in schrecklichem Zustand.«

»Was heißt das?«

»Ihr fehlte ein Ohr, der Busen und die Nase waren angeknabbert.«

Der Redakteur beugte sich vor. »Angeknabbert?«

»Fraßspuren, sagt mein Informant. Irgendwer hat sie als Futter angenommen.«

»Wer?«

»Tiere halt.«

»Hunde?«

»Das hat er nicht gesagt. Er dachte wohl eher an Ratten, Wildschweine und so.«

»Hunde.« Der Redakteur lehnte sich zurück, schnipste den Zahnstocher weg und lächelte. »Hunde töten hübsche, junge Frau und verspeisen sie. War es nicht sogar im Auslaufgebiet?«

»Ich glaube ja. Aber …«

»Nix aber. Mach Dich sachkundig über die Berliner Hundegesetze. Läuft einiges an Hundehassern rum. Fang mit den Grünen an. Gibt da eine, deren Kind hat sich mal fast den kleinen Finger abbeißen lassen. Seitdem kriegt sie Asthma, wenn sie einen Köter sieht. Also die Mutter, nicht das Gör, das befummelt längst mit allen Fingern wieder das blühende Leben. Interview die Mama, sag ihr, freilaufende Hunde haben im Wald eine Frau zerfleischt. Das gibt unkontrollierte Aussagen. War das Opfer nicht Joggerin? Wenn wir Glück haben, sogar schwanger. Und alles geht über meinen Tisch, hast Du verstanden? Wenn Du Dein eigenes Ding versuchst, bist Du ratzfatz Deine Stelle los.«

»Und wenn es eine gute Story wird?«

»Rede ich mit dem Chef. Kriegst vielleicht sogar Gehalt. Zumindest erst mal für ein halbes Jahr, dann sehen wir weiter. Also, ab mit Dir. Wir machen da draußen einen schönen Hundekrieg.«

Oskar nahm den ersten Zug von seinem zweiten Bier. »Du willst mir ernsthaft erzählen, man kann damit seinen Lebensunterhalt bestreiten, die Hunde anderer Leute auszuführen?«

In dieser durchgeknallten Stadt gab es immer wieder etwas zu lernen. Da verbrachte er seine Tage und Nächte mit den verbohrten Nummern eins bis drei, folgte Hinweisen aus der Bevölkerung auf die veröffentlichten Photos der zwei Opfer, lief sich die Hacken krumm, weil Pankower und Tegeler ihren türkischen Gemüsehändler nicht vom bulgarischen Autohändler unterscheiden konnten, war genervt, übermüdet, dankte trotzdem für Aufmerksamkeit und Unterstützung der Hilfspolizisten in Genossenschaftswohnungen, saß endlich mit einem richtigen Menschen beim Bier und mußte sich Geschichten anhören, die für ihn eher nach Schlumpfhausen, denn seiner Heimatstadt klangen. Menschen, die ihre Vormittage lieber im Wald als zwischen Nachbarn verbrachten. Geld verdienen mit Spazierengehen, alles klar. »Was ist bloß aus Berlin geworden.« Oskar schüttelte den Kopf.

»Fragt sich der Förster auch«, sagte Jakob. »Der will Betretungsgebühren von den Hundeausführern.«

Oskar lachte. »Findig, unser öffentlicher Dienst. Und hast Du schon Verdächtige? Was ist mit dem Waidmann?«

»Er hat einen Angestellten namens Hacke, der schießt auf Amseln und hat mir verschwiegen, daß er Iris Gerber kannte.« Seine triebgesteuerten Umgangsformen machten ihn auch nicht harmloser.

»Und diese Hunde-Aupairs?«

»Da bin ich noch dran.« Jakob sah Maries Gebiß und den schaukelnden Hoden des Ridgebacks vor sich. »Gab einen Zickenkrieg mit unserem Opfer. Aufsteigerin rempelt Hinterhof an.«

»Den Weiberkram hast Du exklusiv. Apropos, was machen eigentlich Deine Mädchen in der Ferne?« Oskar beugte sich vor. »Die meiden doch unsere Heimatstadt nicht etwa deinetwegen?«

Jakob zeigte seinem Freund einen Vogel. »Tanja hat sich ihre Fortbildung wirklich verdient.«

Die junge Kollegin war im letzten Jahr nach Berlin gekommen, um mit Jakob, ihrem Vorbild in Sachen Anstand, zusammenzuarbeiten. Sie hatte Jakobs Absturz, Krankheit, Suspendierung und Anklage miterlebt und trotzdem auf seiner Seite gestanden. Zwar bestand sie darauf, Städterin zu sein, aber Jakob vermutete bei solch rührend sturer Treue große Brocken moorige Scholle in der Sozialisation.

Zur Zeit war sie in Amerika auf einer Fortbildung und hatte Urlaub angehängt. Die Weite dort paßte besser zu ihr, Berlin war für ihre Füße zu vollgestopft. Dreieinhalb Millionen Artgenossen und dazu unzählige Haustiere, die nicht einmal geschlachtet wurden.

»Stell Dir unser freilaufendes Landküken unter all den bekloppten Hundeleuten vor.« Oskar lachte.

»Den Hacke würde sie erschießen.«

»Blattschuß. Keine toten Amseln mehr.« Oskar beugte sich vor. »Und wo bleibt Hanna?«

»Klappert ihre weitverstreuten Schwestern ab.«

»Muß das Einzelkind Hagedorn allein ins kalte Bettchen klettern.«

»Ich habe ja mein Telefon.«

Oskar legte den Kopf schief. »Muß Liebe schön sein.«

»Bist Du neidisch?«

Er hob abwehrend die Arme. »Bloß keine Ärztin.«

Jakob lachte. »Psychologin wäre noch schlimmer.«

»Und was macht ihr Verhandlungstermin?«

»Läßt auf sich warten. Die Approbation ruht, sie haben erreicht, was sie wollten. Aber zurück zu Waldarbeiter Hacke. Der ist mir zu aggressiv. Du mußt ihn überprüfen. Gerhard heißt er vorne.«

»Wieso ich?«, fragte Oskar, »das Waldding ist Deins.«

Jakob schwieg.

Oskar lachte. »Traust Du Dich nicht in die Keithstraße?«

»Ich war schon da.« Jakob pulte das Weiche aus einer Scheibe Weißbrot und quetschte es zu kleinen Kügelchen. »Wollte mal wieder reinschnuppern. Und Hacke überprüfen, zusammen mit Dir.«

»Stinkt wie immer, nach ollem Schweiß und Frust. Sag nicht, daß Dir das fehlt.« Oskar suchte seine Augen. »Das glaube ich jetzt nicht. Schau mich an, Alter.« Er beugte sich vor. »Arbeiten wir zusammen, oder nicht?«

Jakob schaute auf seine Weißbrotarbeit.

»Sind wir das beste Team der Stadt, oder nicht?«

Jakob reihte die Weißbrotkügelchen nach Größe auf.

»Du wirst mir doch nicht in die Knie gehen, nur weil Fockemeyer, das Arschloch, Dich fertigmachen will?«

Jakob legte die Kügelchen im Kreis. Ihre unterschiedliche Größe fiel gar nicht mehr auf. Die Mitte blieb frei. »Ein Kollege hat mich vor Deiner Tür gesehen.«

»Und?«

»Als ich rauskam, waren es sechse.«

Oskar zog die Augenbrauen zusammen. »Wer? Die Namen.«

»Es hätten auch sechs andere sein können.«

»Was haben sie gemacht?«

»Mich, nun ja, rausgebracht.«

»Haben Sie Dich angefaßt?« Oskar wurde laut, am Nachbartisch drehte sich eine Frau nach ihm um.

»Beruhige Dich, ich bin ja noch am Leben.«

Oskar schlug mit der Faust auf den Tisch. Die Weißbrotkügelchen kollerten auf den Boden und verteilten sich kreuz und quer. Und kein Spatz weit und breit, der sich hätte freuen können. Oskar schwieg lange, seine Kiefer mahlten. »Und Deine Verhandlung?«, fragte er schließlich.

»Samuel wäre gern unter den sechs.« Jakob erstach zielgenau mit einem Zahnstocher eine Olive. Warum nur konnte Hektors Frauchen, die wundervolle MM, Kiezkönigin mit offenem Ohr für jede gedetschte Seele, zupackend wie ein Kumpel, nicht einen besseren Sohn als Staatsanwalt Samuel Herzl haben.

Er war eifersüchtig auf Jakob und schämte sich für Mamas Friseursalon, die Bar seines in Auschwitz tätowierten Vaters und die überparfümierten Paten in der rosa Corvette, aber das hieß ja nicht, daß er MM nicht liebte. Zumindest hoffte Jakob, daß da etwas wäre, tief drinnen, unter der Arschlochspeckschicht.

»Und wenn schon«, sagte Oskar. »Hauptsache, der Richter läßt sich nicht in die Intrige reinziehen. Wer ist es denn?«

»Schneiderhahn.«

»Ach Du Scheiße, hat der nicht auch ein Problem mit seinem Hirn?«

»Danke, sehr nett.«

»Man erzählt sich, er verliert die Übersicht über die Tassen in seinem Schrank.«

»Zwischenzeitlich kommt ihm der ganze Schrank abhanden.«

»Jugendsünden und ihre Spätfolgen, der war mal Straßenkämpfer. Öfter was auf die Rübe, Tränengas und Joints.« Oskar hob sein Glas.

»Ich weiß. Hat früher große Reden geschwungen. Onkel Alzheimer beeindruckt das aber wenig. Er verliert die leitende Strippe in jedem zweiten Absatz.«

Oskar tätschelte ihm den Oberarm. »Wenn ich kommen und helfen soll, sag Bescheid.«

Jakob stieg die Rührung hoch. Er vertrug kein Bier mehr. Zeit für einen Themenwechsel. »Und was sagt Cumloosen?«

»Daß Du ein verwaistes Eichenblatt nach Hause bringst.«

Jakob lachte. Schon wieder jemand, den er vermißte aus seinem alten, dem kriminalen, richtigen Leben.

»Wird dauern, bis er was über Todesort, -art und -zeitpunkt sagen kann. Ist wohl ein Spurenfiasko. Und sie war auch noch gefroren.«

»Die arme Frau. Ihre Leiche erscheint mir schon im Schlaf.« Den Hundekram verschwieg Jakob lieber.

»Tatsächlich? Ich wüßte nachts Besseres zum Träumen, aber Du bist ja auch ein sensibler Akademiker.«

»Wenn er sie gleich nach der Tat eingefroren hat, wird es schwer, den Zeitpunkt des Todes festzulegen. Und die Medien können weiter behaupten, Hunde hätten sie getötet.«

»Das glaubt doch kein Mensch«, sagte Oskar.

»MM hat ständig Ärger wegen Hektor.«

»Ich bitte Dich, das ist ein Mops!«

»Die Leute kreischen, wenn sie ihn auf seinem Sessel sehen. Neulich hat ein Jugendlicher eine Coladose nach ihm geworfen.«

»Wenn er das mit den Bullterriern gemacht hätte, die wir neulich in einem Einsatz aufgescheucht haben …«

»Hektor hat seinem Namen Ehre gemacht und ist hinterher.«

»Fleischwunde in der Wade?«

»Der verpickelte Colasäufer konnte richtig rennen. Und MM ist schimpfend beiden gefolgt.«

Oskar lachte. »Armer Bengel.«

»Bis zur U-Bahnstation haben sie ihn getrieben. Die Treppe war Hektor zu mühsam.«

»Auch Möpse sollten ihre Grenzen kennen.«

Jakob tunkte Brot in die Schüssel mit grüngoldenem Olivenöl. Das Brot saugte sich voll. Seine neue Hundeseele brauchte Fett, die viele Bewegung. »Und hast Du schon etwas übers Umfeld?«

Oskar nahm einen großen Schluck Bier. »Ich war bei ihren Eltern. Osten. Lichtenberg.«

»Armer Ossi.«

Jakob wurde von Neuköllner Blicken erdolcht. »Wenn Du mich noch einmal Ossi nennst.«

»Nennst Du mich kopfkranker, supendierter Depp, ich weiß. Also, was war mit denen?«

»Frustrierter Möchtegern-Altkader nimmt seiner Tochter die kapitalistische Karriere übel.«

»Was hat sie denn gearbeitet?« Jakob nahm noch eine artgenössische Ladung Olivenöl in Brot und hoffte, er hätte eine ruppige Hundeverdauung.

»Irgendwas für eine kanadische Stiftung. Da habe ich angefragt, aber die rühren sich nicht. Ihnen gehört die Wohnung, in der Iris gelebt hat. Passwortgesichert.«

»Du mußt über den Atlantik betteln, sie durchsuchen zu dürfen.«

»Und die lassen mich am ausgestreckten Arm verhungern.«

»Also ist ihr Beruf eine Sackgasse.«

»Nicht unbedingt. Ihre Mutter sagt, sie hatte ein Projekt mit der FU.«

»Und jetzt soll Dein Lieblingsakademiker da mal reinschnuppern.«

»Wenn die Stiftung blockt, komme ich nicht weiter.«

»Und an den Waldleuten soll ich auch dranbleiben?«

»Dafür bist Du der beste.«

»Schmeicheln nützt nichts, das weißt Du doch.«

»Hast Du etwa was anderes zu tun?«

»Jetzt bist Du wenigstens ehrlich. Noch ein Bier?«

Das Nagen füllte ihn aus. Er lief dagegen an, immer schneller flogen seine Pfoten. Er trank Wasser, fraß Gras, Erde und lief weiter, als wäre er auf der Flucht, als hätte er ein Ziel. Mittags rastete er, abends leckte er seine schmerzenden Pfoten.

Er hatte sein Wolfsrudel verlassen, weil die Sonne ihn zog. Aber er war sehr jung, um allein zu überleben. Zu jung, als daß sein Familie ihn hätte lehren können, wie ein Wolf jagt, zu jung, um Gefahren zu erkennen. Wäre er ein Mensch gewesen, ihn hätte der Mut verlassen, er hätte Hilfe gesucht, wäre gar umgekehrt. Aber er war ein Wolf, der nur den nächsten Schritt sah, sich nach dem sehnte, was vor ihm lag.

Immer wieder witterte er andere Tiere, folgte ihrer Spur, die sich verlor. Das Nagen brüllte. Am vierten Tag wehte Aasgeruch heran. Sein Herz schlug wild und laut. Er folgte der Spur und fand eine tote Amsel. Schlang sie gierig hinunter, als wäre sie nichts.

Jetzt achtete er mehr auf den Geruch, der gegen das Nagen geholfen hatte. Fand eine Maus am folgenden Tag. Dann wieder zwei Tage nur Losung, Gras, Erde. Er horchte auf die Geräusche im Boden unter ihm, wußte nichts damit anzufangen. Saß vor Mauselöchern und verstand nicht, daß sie es waren, ihre Trippelschritte, die er hörte. Ein Gelege half ihm über den folgenden Tag. Die Amsel klagte vergebens, er fraß all ihre Eier, sogar die Schale schlang er hinunter.

Dann fand er nichts mehr.

Es wurde Tag, es wurde Nacht. Er witterte, suchte. Stöberte in Erdlöchern, horchte auf Schritte, Flügelschläge. Er war nur noch dieses Nagen. Sein Kopf war leer, er fiel in leichten Schlaf. Träumte von seiner Mutter, bellte mit seiner Schwester. Als er erwachte, war er schwach. Steif stand er auf, schüttelte sich, ging ein paar Schritte, warf den Kopf in den Nacken und heulte. Horchte. Niemand antwortete. Wieder heulte er, länger jetzt, fordernd. Da glaubte er eine Antwort zu hören. Seine Nackenhaare sträubten sich. Er kannte die Stimme nicht. Bewegte die Nase, sog die Luft ein. Horchte. Aber es wiederholte sich nicht. Wieder und wieder heulte er, aber er war allein.

Also lief er. Weiter zur Sonne, die sank. Legte sich in Pfützen, fand einen See, badete. Grub Würmer aus, fraß Käfer, kaute auf Holz herum und wurde immer dünner. Das Fell ging ihm aus, seine Augen huschten über den Horizont. Er war zu schwach zum Heulen jetzt. Immer wieder schlief er, immer seltener achtete er auf Deckung. Ließ Rehe vorüberziehen, sah mit halbgeöffneten Augen Hasen hinterher.

Das Nagen wuchs, schon lange war es größer als er.

»Können Sie nicht aufpassen?« Fockemeyer brüllte, an seinem Jackett floss der Kantinenkaffee abwärts.

Oskar hatte, im Laufen Akten studierend, die Flurkurve eng genommen und war in seinen einen Plastikbecher jonglierenden Chef gelaufen.

Oskar zog ein Taschentuch hervor und näherte sich seinem Chef.

Fockemeyer wehrte ihn ab. »Haben Sie mir wenigstens aus Diensteifer den Anzug versaut?«

Oskar hob die Akte hoch. »Die Frauenleiche aus dem Grunewald. Der Forstamtsangestellte Gerhard Hacke ist aktenkundig. Ich bin unterwegs zu dem Kollegen, der das bearbeitet hat, die Unterlagen sind unvollständig.«

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22 декабря 2023
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9783945611050
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