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III

Seine Schwester biß ihn in den Rücken. Knurrend machte er eine Rolle rückwärts auf sie zu. Hell bellend hopste sie zur Seite. Gemeinsam jagten sie über die Wiese, schnell hatte er sie eingeholt, mit weit geöffnetem Maul stürzte er sich auf ihren Nacken, zog an ihrem Fell und rüttelte. Er hatte Haare im Hals, hustete und würgte. Seine Schwester fiepte unterwürfig, drehte sich auf den Rücken und streckte ihm die Beine entgegen.

Er verlor das Interesse, sah über die Wiese und trollte sich zu den Erwachsenen. Seine Mutter schlief, die anderen dösten. Sie hatten ein Reh erlegt, erst gestern, und waren alle satt und blutbesudelt. Nur der alte Rüde putzte sich, leckte sorgsam mit geschlossenen Augen seine Vorderläufe.

Er zupfte Gras, setzte sich hin, hob den Hinterlauf unentschlossen zum Ohr und kratzte sich. Ging über zur Lefze, dem Hals. Eine Fliege kam ihn zu ärgern. Er schnappte nach ihr, sprang auf, schlug Haken, hielt plötzlich inne und legte sich ins Gras.

In ihm zog es wieder. Er fiepte und legte den Kopf auf die Pfoten. Sein Herz schlug um das Ziehen herum, kreiste es ein. Er fraß etwas Gras, ein paar Gänseblümchen, kaute ausgiebig, die Blütenblättchen kitzelten ihn, das Ziehen blieb. Er stand auf und pinkelte an die nächstbeste Kiefer, neuerdings hob er das Bein. Er blickte auf seinen dampfenden Urin, kontrollierte den Geruch, bellte auffordernd, aber seine Geschwister beachteten ihn nicht.

Die sich senkende Sonne wärmte seine Nase, er nieste. Von dort rief ihn etwas. Er witterte und ließ den Kopf kreisen. Scharf, kühl und fremd schien ihm die Witterung. Er folgte ihr bis an den Rand der Wiese, bis zur Anhöhe vor dem Wald. Blieb stehen, witterte erneut, sah zurück. Seine Mutter gähnte. Sein Bruder schlug Purzelbäume, bellend verfolgt von seiner Schwester. Ein Schlag ging durch seinen Körper, er tollte den Abhang hinunter und stürzte sich auf seinen Bruder. Gemeinsam rollten sie durch das Gras.

Jakob Hagedorn sah in den Motorraum eines antiquarischen Bullis und fragte sich, wohin mit dem Schraubenzieher.

»Find’ste wenigstens den Keilriemen, Schatzi?« Grete gackerte.

Jakob grunzte und überlegte, ob er sich von einer 80jährigen in Faltenrock, Strumpfhose und Wanderstiefeln auf einem Brandenburger Waldparkplatz beleidigen ließe. »Hat der überhaupt TÜV?«

»Noch vier Wochen, kein Grund, nervös zu werden.«

Jakob tauchte aus dem Motorraum auf. »Wir brauchen eine Werkstatt.«

»Blödsinn. Seit zwanzig Jahren repariere ich dieses Auto selbst.« Sie nahm ihm den Schraubenzieher aus der Hand.

Diese verschrumpelte Schachtel mit ihren himmlisch blauen Augen machte Jakob völlig wehrlos. Erstmals begegnet waren sie sich im vergangenen Jahr, als er nachts um drei aus der Wohnung seiner frisch aufblühenden Liebe Hanna in den Hausflur gestürmt war und die heimkehrende Grete beinahe umgerannt hatte.

Am folgenden Tag war er dann während einer Geiselnahme auf den Fußboden eines Weddinger Lehrerzimmers gekracht, hatte gezappelt und gesabbelt und sein Bewußtsein erst in einem Krankenhausbett wiedergefunden. Ungute Voraussetzungen für das Werben um eine so lange wie bildschöne Ärztin. Gewisse Meinungsverschiedenheiten Hannas mit ihrem Arbeitgeber und eine Mordanklage hatten die Verhältnisse allerdings wieder gerade gerückt.

Bei einer Flasche Single Malt, die Grete, mit dem fürsorglichen Hinweis auf die von Alkohol ausgehende Gesundheitsgefahr für verpurzelte Hirne, nahezu allein geleert hatte, erfuhr Jakob später den Grund für Gretes nächtliche Heimkehr. Sie hatte in der Wohnung eines ehemaligen Schülers und Hobbycannabisgärtners der mit Durchsuchungsbeschluß anrückenden Polizei die demente Oma vorgespielt: kreischend stand sie in der Wohnungstür und forderte, man solle den Weg in den Luftschutzkeller freigeben, sie riefe sonst den Blockwart. Die peinlich berührten Polizisten ergriffen die Flucht.

Da sie, vermutlich mit Zwangsjacke und Krankenwagen für Oma, wiederkommen würden, mußte die Cannabis-Plantage weichen. Grete klingelte die nachbarschaftliche Kundschaft zusammen und verteilte Zubehör und Technik über das ganze Mietshaus. Die meisten Pflanzen landeten in der Komposttonne eines neuerbauten Townhouses zwei Straßen weiter.

Der dankbare Gärtner versprach Grete für ihre Hilfe lebenslangen Nachschub auf Kosten des Hauses, was die Alte bis zum letzten Atemzug auskosten wollte. Jakob gab etwas acht, daß sie es nicht übertrieb. Während ihre Pflegetochter Hanna bis zur Gerichtsverhandlung durch die Welt reiste, hatte er sich angeboten, für Grete zu sorgen. Hanna erzählte es der Alten, die senkte ihre blauen Augen in Jakobs, kniff ihn in die Wange und sagte, ich hab Dich auch lieb.

Mit Schraubenzieher und Stablampe bewaffnet sah sie Jakob an. »Du mußt mich hochheben und leuchten.«

Jakob seufzte, hob das Fliegengewicht auf die Stoßstange und hielt sie in der Taille fest. Er sah auf den grauen Lockenkopf und hörte es professionell klappern, als sein Handy klingelte.

»Wenn Du jetzt rangehst, bin ich verloren.« Gretes Stimme klang hohl.

Jakob löste vorsichtig die Hand von der alten Hüfte und fingerte nach seinem Handy.

»Mann, hat das lange gedauert. Liegst Du im Koma?«

»Grüß Dich, Oskar. Ich bin in Brandenburg im Wald.«

»Wie romantisch.«

»Mit Grete.«

»Sucht Ihr einen neuen Standort für ihre Kifferplantage?«

»Ich soll Dich auch lieb grüßen. Warum rufst Du an?«

»Ich habe hier eine Leiche.«

»Was geht mich das an?«

»Sei nicht gleich beleidigt, nur, weil Du suspendiert bist.«

Jakob hatte außer der Gesundheit auch seinen Beruf eingebüßt, Beamtenrecht und Corpsgeist sich, bisher erfolgreich, gegen ihn verbündet. Er war suspendiert und stand vor Gericht. Eine Serienmörderin und seine große Liebe hatte er allerdings in diesem Seuchenjahr auch gefunden, als mit den Gliedern rappelnder, kopfkranker Geisterseher nicht schlecht.

Und es war ja nicht so, daß er nichts zu tun hatte. Montag bis Freitag entstaubte er seine Bücherregale, schlich sich zwischen Schulklassen durch Museen, besuchte die neuesten Berliner Baustellen, fuhr auf dem S-Bahn-Ring im Kreis und ging jeden zweiten Tag einkaufen. Am Wochenende, wenn auch Nicht-Suspendierte Zeit hatten, pflegte er rostige Freundschaften. Und abends, wenn ihn zielloser Tatendrang ansprang, verhinderte die Geisterrunde von Martinas Opfern naturtrübe Gedanken.

Die schienen sich bestens zu verstehen, er kam sich zwischenzeitlich in seiner eigenen Wohnung wie ein Zimmerwirt vor. Hübsche junge Frauen, die Platten auflegten und sich auf Sesseln und Sofa räkelten, als sei das ein Geisterzuhause. Jakob fand das unhöflich. Er hatte ihre Geschichte aufgeklärt und verstreute Körperteile aus einer Berliner Tiefkühltruhe in ländlich idyllische Gräber verfrachtet. Na gut, nicht alle in die passenden, was konnte er für hartherzige Eltern.

Vermutlich mußte er nur endlich wieder arbeiten, dann fände er zurück in die Realität oder neue Mordopfer vertrieben die alten. Letzte Woche hatte er mit seinen Geistern ernsthaft geredet, sie sollten zu ihren Angehörigen zurückkehren, mal bei Penta und Sohn in der Mark vorbeischauen, oder ihre vermutlich schlecht gelaunte Mörderin in der Zelle besuchen. Aber sie hatten ihn nur mitfühlend angesehen. Als könnten sie ihn nicht allein lassen in seinem arbeitslosen, nutzlosen Freizeitdasein.

Mitleid von toten Frauen, denen einzelne Körperteile fehlten, hervorragend. Die kaugummilangen Tage und geistergefüllten Nächte machten ihn zu einer jammernden Mimose. Gute Voraussetzungen für eine Umschulung zum Haremseunuchen, aber schlechte für den rauhbeinigen Alltag als Kriminaler auf Berliner Straßen. Den er so vermißte, daß es ihm das Zwerchfell zusammenkrempelte, wenn er nur daran dachte. Bekäme er die Chance zurückzukehren, er schwiege über endlose Überstunden, kaputte Mitmenschen und mißgünstige Kollegen.

»Mir geht es vorzüglich ohne Arbeit, Oskar.«

»Aber sicher, deshalb turnst Du auch mit Deiner alten Kifferschachtel durch die Pampa.«

Jakob schwieg.

»Sie liegt im Auslaufgebiet.«

»Armer Oskar.«

In Gegenden ohne Straßenschilder war sein Freund verloren. Das Hundeauslaufgebiet im Grunewald war zwar nicht Nord-Kanada, aber immerhin. Ein paar Hundert Hektar Wald, Wasser am einen Ende, die S-Bahn am anderen. Ganz zu schweigen von den vielen freilaufenden Hunden und ihren landschaftserfahrenen, selbstbewußten Begleitern. Oskar mußte sich fühlen wie auf dem Mond.

»Ich kann das nicht, hier sind überall Bäume.«

Oskar schlug genau den Ton an, bei dem er alles stehen und fallen ließ. Keine Frau konnte das. Jakob seufzte. »Hat Deine Franzosenkutsche ein Abschleppseil?«

»Warum?«

»Du holst uns hier ab, und ich sehe mir Deine Leiche an.«

»Du bist ein Schatz, Alter. Und wo seid Ihr?«

»Burg Rabenstein, Gretes Bulli hat die Steigung nicht geschafft.«

»Das finde ich nie.«

»Fahr bis Belzig. Du weißt schon, Autobahn, der Spargel …«

»Und wenn die Häuser aufhören?«

»Rufst Du mich an.«

»Was Du bloß an Gegend findest.«

»Komm her, dann erkläre ich es Dir.«

Er lag auf der Anhöhe, den Wald im Rücken. Seit er nicht mit zur Jagd gedurft hatte, war das sein Platz. Als die Erwachsenen aufbrachen, wollte er sie erstmals begleiten, hatte sich mit angelegten Ohren, Kopf und Rute gesentk, zwischen sie gestellt und gebettelt. Er war doch so gut wie erwachsen. Aber die Rüden knurrten, scheuchten den Halbstarken zurück zu seinen Geschwistern.

Sie waren mit fetter Beute zurückgekehrt. Ein Frischling, genug für alle. Aber er wartete schmollend abseits. Erst, als alle satt schliefen, war er zu den Resten gegangen, hatte Knochen abgenagt und geknackt. Sein Magen war voll, aber das Ziehen blieb.

Er schlief jetzt auch am Waldrand, den Blick auf das Rudel. Ging in den Wald, um sich zu lösen und der Witterung hinzugeben. Der Wald war klein, er konnte am anderen Ende die Sonne untergehen sehen. Glutrot und dick senkte sie sich in die warme Erde, in seine Brust, füllte ihn aus.

Dieses Mal gab er nach. Mit weit ausgreifenden Schritten lief er in das Rot, immer weiter, bis es verschwand, die Nacht sich senkte, der Mond stieg, die Sterne auf seinem Weg blinkten. Er spürte Sand unter den Pfoten, die kühler werdende Luft in seiner Brust, horchte auf das Wispern und Knispern der Nacht. Tau senkte sich in sein Fell, aber ihm war warm und wohl. Er lief und lief, trank aus Pfützen, ruhte aus unter Bäumen, und lief, bis die Sonne wieder stieg. Erst als sie steil über ihm stand, suchte er Schutz vor ihrer Hitze unter einer weit ausgreifenden Fichte, grub sich eine Mulde und rollte sich ein. Steckte die lange schmale Schnauze tief unter seine Flanke, horchte auf die Geräusche des fremden Waldes, das ferne Pfeifen des Bussards, das Keckern der Elstern, den Warnruf des Eichelhähers. Sein Herzschlag wurde ruhiger und er schlief ein.

Seine Schwester war zum Waldrand hinaufgelaufen, hatte die Witterung des Bruders aufgenommen, war durch den Wald, die Nase tief am Boden, seiner Spur gefolgt. Auf der anderen Seite des Waldes sah sie über die Ebene und hielt inne. Sah sich um, fiepte ratlos. Legte den Kopf in den Nacken und heulte.

Es antwortete ihr Rudel im Rücken, der ferne Bruder schwieg. Da drehte sie um. Durchmaß mit hüpfenden Zwischenschritten das Wäldchen, fand den früheren Schlafplatz ihres verlorenen Bruders, kratzte mit den Hinterpfoten etwas Sand in seine Mulde, löste sich darauf, lief den Hang hinab zu ihrem Rudel und vergaß ihn.

Die Sonne hatte sich vor ihm gesenkt, ein zweites, drittes Mal. Jetzt, am vierten Tag, hatte sie die Landschaft noch nicht in rotes Licht getaucht, noch blendete sie den auf sie zulaufenden jungen Rüden. Vor ihm lag ein breiter Fluß. Das Licht tanzte auf seinen trägen Wellen. Auf dem gegenüberliegenden Ufer bewegte sich etwas, das er nicht kannte. Er witterte fremde, schwere Gerüche, die der Wind herübertrug. Verwirrende Geräusche füllten seine großen, feinen Ohren. Seine Stirn zog sich zusammen.

Er blieb in Deckung, wartete. Mit der Dämmerung wurde es ruhiger am anderen Ufer. Nur ab und an bewegte sich ein großes Wesen langsam, stinkend und röhrend von einer Seite zur anderen. Er folgte mit dem Kopf seinen zwei großen Augen, die über den Uferweg tanzten, dem kleinen Licht, das über den Fluß streifte und schließlich den zwei roten Augen an seinem Ende.

Als die Dunkelheit überall war, schlich er sich zum Fluß und trank. In ihn grub sich nagende Leere ein. Sie sprach mit dem Ziehen. Er sicherte nach allen Seiten. Außer ein paar Fledermäusen war alles leer. Er stieg in den Fluß, setzte vorsichtig Pfote für Pfote und wurde mitgerissen. Die Strömung war stark, weit zog sie ihn hinaus. Er bewegte die Beine im Wasser. Kraftvoll schwamm er durch den Strom. Nur die graue Rute und sein schmaler Kopf waren zu sehen, dicht angelegt die Ohren. Er fühlte seine Kraft, die das Wasser durchteilte. Sah Bäume am Ufer vorüberziehen, Sterne über sich.

Die Fledermäuse begleiteten ihn, stürzten auf den Schwimmenden nieder, bogen kurz vor ihm ab in den Nachthimmel. Das Wasser war kalt, unter ihm wirbelte es. Seine Beine wurden schwer, seine Züge langsamer. Der Fluß war breit und stärker als der unerfahrene Wolf auf dem Weg in ein neues Leben. Seine Rute sog sich voll Wasser, wehrlos schleuderte sie hin und her. In seine Ohren lief der Strom, er fror trotz der Anstrengung. Sein Atem ging keuchend. Immer schneller wirbelte das Ufer vorbei, immer härter attackieren ihn die Fledermäuse.

Endlich spürte er Sand. Wirbelnden, weichen Sand. Noch ein, zwei Züge mit den lahmen Beinen, dann stand er, schwankend. Stieg auf zum Ufer, zog sich mit den zitternden Vorderbeinen die Böschung empor. Das Wasser lief in Strömen an ihm hinab. Er schüttelte sich, der Nachthimmel zerstob vor Wasserfunken. Er trabte hoch auf einen grasbewachsenen Deich und sicherte ringsum. Die Fledermäuse hatten ihn verlassen. Ein Fuchs war vorbeigekommen am Abend, unter sich hörte er Nager in ihren Bauen trappeln, in der Ferne einen Kauz. Er drehte sich um und sah zurück auf den Strom. Hob den Kopf, immer höher, legte ihn in den Nacken und heulte. Er bekam keine Antwort.

IV

Als ein Kollege ihm in der Keithstraße sagte, wo er die Angehörigen der Frauenleiche aus dem Grunewald fände, hatte Oskar gehofft, er träfe auf ganz normale Berliner, die zufällig in der Platte im Osten wohnten. Man will sich ja in seinen Vorurteilen nicht einrichten. Außerdem gab es wirklich nette Ostler, die in Prenzlberg das System zu unterbuddeln versucht hatten, allerdings heute in Charlottenburg wohnten, weil Stuttgarter ihre Wohnungen aufgekauft und von den Überwachungskabeln der Stasi befreit hatten.

All seine guten Vorsätze lösten sich schon im Hausflur auf. Schichten frischer Farbe hatten diesen unnachahmlichen DDR-Duft nicht beseitigen können. Piefigkeit, Braunkohleruß und viel Süßliches klebten Oskar auf den Bronchien.

Jetzt saß er auf einer Lichtenberger Couch im siebten Stock des Arbeiter-und-Bauern-Paradieses für verdiente Kleinkader, eingekeilt zwischen plüschigen Kissen und sah in das starre Gesicht von Walter Gerber, dessen ältestes Kind Iris den Grunewalder Ratten Teile ihres Körpers geopfert hatte.

»Mein Mann kommt nicht so zurecht in der neuen Zeit. Sie müssen schon entschuldigen«, sagte die Mutter. Seit einer halben Stunde drehte sie jetzt ihr rechtes Handgelenk zwischen Daumen und Zeigefinger der Linken.

»Was heißt das?«, fragte Oskar. Er sah sich im Wohnzimmer um. Gerüschte Gardinen über einer mit Engelchen vollgestellten Fensterbank. Porzellan, buntes Glas, Hölzernes aus dem Erzgebirge. An der Wand Dürers Karnickel, der Eiffelturm und ein kleiner Honecker. Auf einer dunkel glänzenden Kommode Photos aufgereiht wie Pokale, Iris und zwei Jungs. Das Erreichte im gerahmten Rechteck. Schultütenpräsentation eins, zwei, drei. Jugendweihe. Iris mit leichten X-Beinen in weißen Kniestrümpfen, ihre freche Stupsnase ragte noch vollständig in den Himmel.

Dann als Erwachsene. Ein Bruder in knappem Anzug inmitten businessgekleideter Klone, der andere mit Kindern am Strand. Bunte Schippen und Förmchen ringsum, eine übergewichige Frau mit Sonnencreme auf dem Nasenrücken an seiner Seite. Iris vor Skyline, mit angeknipstem Strahlen, ohne Kniestrümpfe.

Schließlich die Drei auf der elterlichen Couch. Alle in Jeans, Iris in der Mitte, lässig die Hände auf den Beinen ihrer Brüder, die sie von der Seite ansahen.

»Man hat mich aussortiert, das heißt das.« Die Lippen des Vaters bewegten sich kaum.

Oskar sah zu Iris’ Bruder, der unglücklich auf dem Sessel seiner Kindheit hing. War sicherlich damals Grund zur Freude gewesen, eine Couchgarnitur zugeteilt zu bekommen.

»Das kannst Du so nicht sagen, Vati.« Seine Frau sah ihn an. »Was hätten sie denn tun sollen, den Staatsrat gab es ja nun nicht mehr.«

»Staatsrat?« Oskars Stimme kiekste.

Die Mutter erlöste das Handgelenk und täschelte ihrem Mann den Oberschenkel. »Verwaltungsaufgaben hat er dort erfüllt«, sagte sie.

»Schließer war er«, sagte der Sohn.

Er hatte die schmalen Lippen seines Vaters, war aber schmächtiger. Kurze, breite, gepflegte Finger, die flach auf seinen Oberschenkeln lagen. Oskar vermutete feuchte Kälte, die von den Handflächen in die Hose drang. Er trug einen hellgrauen Anzug, immer noch zu eng, ein Seidenanteil ließ ihn knittern. Der Schlips war zu bunt, das Hemd hatte einen Stich Rosa.

»Diese Respektlosigkeit hätte es früher nicht gegeben.« Der Vater bleckte die Zähne.

Sein Sohn sah unbeteiligt aus dem Fenster. Am Rand seiner anthrazitfarbenen Socke war ein Fußball aufgedruckt. Westverseucht, dachte Oskar, auf sozialistischer Ostcouch, die Welt war früher schlichter. »Der Staatsrat ist aber lange beerdigt. Was haben Sie denn nach Mauerfall gemacht?«, fragte er.

Der Mann schwieg.

»Pförtner werden ja auch anderswo gebraucht.«

Der Mann schnaubte.

»Oder waren Sie IM?«

»Das könnte Euch so passen.«

Ein Neuköllner Arbeiterkind als Klassenfeind, Oskar parkte seinen Blick vorsichtshalber Richtung Kommode. An der Wand noch mehr Photos. Iris im Kostüm, etwas jünger als vor der Skyline, schmal und langbeinig, die Schultern hochgezogen. Sie lächelte gequält in die Kamera, im Hintergrund der Palast der Republik.

»Eine sehr schöne Stelle im Innenministerium hat man ihm angeboten«, sagte die Frau.

»War ihm nicht genehm«, sagte der Sohn, nahm ein Stofftaschentuch aus der seidigen Hose und wischte sich die Handflächen.

»Sehe ich aus, als liefe ich einfach so über?«

»Hast lieber Mutti schuften lassen und Arbeitslosenhilfe kassiert. Die Dir dann auch noch gekürzt wurde, als Du Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen abgelehnt hast.« Das Taschentuch verschwand zerknüllt in den Tiefen der Hosentasche.

»Computerkurs und im Archiv Akten entstauben. Wer bin ich denn?«

»Haben Sie auch gearbeitet?«, fragte Oskar die Frau.

»Kindergärtnerin war ich«, antwortete sie. »Nach Mauerfall wollte man mich aber nicht mehr. Es hieß, das waren die falschen Methoden. Alle zugleich auf den Pott, alle zusammen schlafen legen. Dabei hat das bißchen Disziplin nicht geschadet. Aber«, sie schlug die Hände zusammen, als mache sie sich an den nächsten Kuchenteig, »das muß man als Chance sehen. Habe ich mich eben verändert.«

»Kassiererin.« Der Mann schnaubte wieder.

»Ja und? Ist das vielleicht kein anständiger Beruf? Kommt man wenigstens unter Leute.«

»Denen für Unnützes Geld aus der Tasche gezogen wird.«

»Der böse Kapitalismus. Nicht schon wieder«, sagte der Sohn.

»Und unserem Kleinen konnte ich so helfen, einen Ausbildungsplatz zu finden. Habe bei meinem Chef ein gutes Wort für ihn eingelegt.« Oskar sah fragend zum Sohn, der den Kopf schüttelte, er war nicht der Kleine.

»Eine Schande für die Arbeiterklasse. So weit sind wir schon, um die Gunst des Chefs werben.« Der Vater verschränkte die Arme.

Oskar wurde das alles zu familiär. »Und Ihre Tochter?«

»Die hat es geschafft«, sagte die Mutter. »Abitur gemacht an der Polytechnischen Oberschule und dann an der HU studiert. Tolle Abschlüsse hingelegt. Betriebswirtschaft, war es nicht so?« Sie sah zum Sohn, der nickte. »Und dann hat sie sich um ein Aufbaustudium beworben, in Amerika.«

»Ausgerechnet«, sagte der Vater hinter seinem Armpanzer.

»Ja und? Sie haben sie genommen und uns hat es keinen Pfennig gekostet. Ein Stipendium hat sie bekommen für eine MBA. Heißt das so?« Der Sohn nickte. »Ihr späterer Chef hat das finanziert. Er fand es gut, daß sie aus dem Osten kam, sich hochgearbeitet hat. Wissen Sie, für die Amerikaner sind wir Exoten. Die denken, wir hätten alle in Käfigen gehaust und kommunistische Lieder gesungen.« Sie kicherte.

»Und nach dem Studium?«

»Erst mußte sie überall rumreisen. Hat nicht viel verdient, sollte alles kennenlernen. Aber das ist lange vorbei. Inzwischen betreut sie einzelne Projekte, hat völlig freie Hand. Und verdient richtig viel Geld.«

»Einen Mann hat sie nicht«, sagte der Vater.

»Was sollte sie mit dem auch anfangen bei der vielen Arbeit. Aber später will sie schon, auch Kinder, sie ist ja erst dreiunddreißig.« Die Frau strahlte stolz.

»Wissen Sie etwas über Freunde Ihrer Tochter? Menschen, die uns mehr über ihr jetziges Leben sagen können?«, fragte Oskar, bevor der Mutter bewußt wurde, daß ihre Tochter immer dreiunddreißig bleiben würde.

»Eine Klassenkameradin hatte noch Kontakt zu ihr«, sagte der Bruder. »Aber ich glaube nicht, daß die Ihnen weiterhelfen kann. Ist bei der BVG, fährt Bus, glaube ich, hat Mann, zwei Kinder, ein Häuschen hinter Oranienburg. Das waren nur Erinnerungen, nichts, was sie jetzt noch verband. Meine Schwester hatte kein Privatleben. Die hatte nur Zeit für ihren Bonzen.«

Die schmalen Lippen waren wirklich unvorteilhaft. Jetzt mahlte auch noch Juniors Kiefer.

»Und wissen Sie etwas über Feinde, Neider?«, fragte Oskar.

»Sie war nicht gerade eine Schmusekatze.«

Die Mutter schluchzte, der Traum von Zukunft war zuende.

»Ihr Auftreten hat vielen nicht gepasst. Sie ließ gern mal den Kontostand raushängen.«

»Als ob die Brüder es nicht auch zu etwas gebracht hätten«, sagte der Vater. »Mein Ältester hier ist Banker, der Kleine leitet ein Lebensmittelunternehmen.«

Alles Kapitalisten, dachte Oskar, armes Schwein. Aber so bezahlt wenigstens jemand Deine stalinistischen Flausen. »Und wissen Sie, an welchem Projekt sie gerade arbeitete?«

»Umweltschutz«, sagte die Mutter und schneuzte sich. »Das kommt noch hinzu, ihr Arbeitgeber war eine soziale Stiftung.«

Der Vater schnaubte wieder. »Ist ja wohl das mindeste, daß die ihre erbeuteten Gewinne in das Gemeinwohl zurückführen.«

Aber sicher, dachte Oskar, wie Dein Staatsrat.

»An der FU unten in Dahlem war sie. Dadurch hatte sie jetzt viel in Berlin zu tun, wir konnten uns öfter sehen.«

»Wieso weiß ich davon nichts?«, fragte der Vater.

Jetzt heulte die Mutter richtig. »Du wärst doch nie damit einverstanden gewesen, daß sie in Westberlin arbeitet. Du wolltest ja nicht mal in ihre Wohnung, dabei war die im Osten.«

Oskar wurde das alles zu eng. Da lobte er sich seine Neuköllner Kindheit. Kohleofen, Kohlrouladen, klare Ansagen und Dankbarkeit gegenüber den amerikanischen Beschützern. Jakob hätte das alles hier viel besser gekonnt, der weckte in jedem gescheiterten Arschloch den flauschig-weichen Kern. Wenn Oskar an Staatsratspapas Kern dachte, sah er nur ausgekotzten Karamellpudding vor sich. Die letzte Frage und dann nüscht wie an die Luft. »Haben Sie eine Idee, wer Ihrer Tochter das angetan haben könnte?«

»Irgendsoein Perverser aus dem Grunewald«, rief der Vater. »Joggen in knatschengen Klamotten. Da muß sie sich nicht wundern. Wußte nicht, wo sie hingehört.«

Warum gerade hier? Eine abseitige Lichtung im Wald. Jakob überstieg das Polizeiabsperrband, blieb in der Mitte des Areals stehen und drehte sich langsam im Kreis. Er übertrug, was er auf den Tatortphotos gesehen hatte.

Das Bild einer Schlacht. Verwirbelte Laubhaufen, zerwühlte Erde. In der Mitte die tote Frau, auf dem Rücken liegend. Die Arme waren ausgebreitet, ein Unterarm abgetrennt. Keine Hände. Der Kopf seitwärts, blutiges Haar in der Stirn, Teile der Nase fehlten. Blutverschmiert der offene Hals, behängt mit einer breiten goldenen Kette.

Reste eines Pullovers. Ein hochgeschobener schwarzer Minirock, Löcher in Ober- und Unterschenkeln. Eine Schleifspur führte zu dem Unterarm abseits. Die Hand war mit teuer blinkenden Ringen geschmückt, sechs an drei verbliebenen Fingern. Grell lackierte Fingernägel. Neben ihrem Bauch Pumps, leuchtend rot, mit gelber Sohle, keine Waldspritzer auf der Farbe, keine Erde am Absatz.

Wie auf einer Bühne. Wäre die Leiche aufgebahrt gewesen, er hätte an ein Bestattungsritual gedacht, eine Toteninszenierung. Gab es nicht bei Indianern die Vorstellung, Greifvögel holten die Seele ab, indem sie sie verspeisten? Vielleicht war sie auch eine Opfergabe gewesen. Ein Kniefall vor Berliner Wildschweinen und Ratten? Jakob, Du staubst zu viele Bücher ab.

Er war auf Oskars Fall gesprungen wie ein sabbernder Jagdhund. Hatte auf die Tatortphotos gestiert und war in die Leine gestiegen, wann es endlich losginge. Oskar hatte ihn besorgt angesehen. Fall mir nicht wieder hin. Keine Sorge, wenn sein Gehirn jetzt schlapp machte, reichte er unverzüglich die Scheidung ein. Sicher, das Ganze war nur ein Freundschaftsdienst, inoffiziell, versteckt, illegal. Na und? Endlich wieder Arbeit, Frischluft in jeder Windung. Durchgepustete graue Zellen, flirrende Nervenbahnen, er fühlte sich hervorragend. Etwas nervös vielleicht, geschlafen hatte er nach seiner Recherche wenig, aber so ging das wohl von der Couch hopsenden Frührentnern.

Den gestrigen Abend hatten sein aufgekratzes Hirn und er recherchierend in der Unibibliothek verbracht. Vor über 200 Jahren war der Berliner auf den Hund gekommen, 1850 gab es schon zehntausend beste Freunde des Menschen in der Stadt. Wenig später versuchte die Obrigkeit, durch Steuern, Verordnungen und Verbote vor allem die Armen von ihrer Liebe zum flohtragenden Mitgeschöpf abzubringen. Man erließ einen Maulkorbzwang, an den sich selbstverständlich niemand hielt. Alle Maßnahmen waren vergebens, selbst im hungerreichen, verfrorenen Blockadewinter 1948 spannte sich die Luftbrücke über einer ungebremst wachsenden Hundezahl im Westteil der Stadt.

Vor knapp hundert Jahren richtete man aus Verzweiflung oder Verantwortungsgefühl Hundeauslaufgebiete ein. Zwölf an der Zahl auf 1250 Hektar bewaldetem Stadtgebiet. Einzigartig in Europa, so las er. Jakob vermutete, Brasilien, Neuseeland oder Saudi-Arabien hätten wohl kaum größere. Mal wieder ein Berliner Weltrekord.

Das größte Auslaufgebiet der Stadt war zugleich das beliebteste. Gelegen im Grunewald, geschmückt mit Krummer Lanke, Schlachten- und Grunewaldsee. Am Ufer des letzteren lag in prachtvoller Breite der Hundekudamm. Es gab eine Würstchenbude direkt am sandigen Badestrand für Wüstlinge und Elegante, Halbstarke und Olle. Dort trafen sich Hunderte Exemplare aller Rassen. Terrier protzten vor Doggen, Dackel liebäugelten mit Schäferhundedamen – und alles ohne Leine, Straßenverkehrsordnung und Beleuchtung.

Die entstellte Frauenleiche lag weiter draußen. Oberhalb von Krummer Lanke und Schlachtensee verteilten sich Herr und Hund weiträumig unter Eichen, Buchen und Kiefern. Hin und wieder schaute eine Rotte Wildschweine vorbei.

MM, alte Freundin und Friseurmeisterin aus seinem Kiez hatte Jakob ihren Mops in den Arm gedrückt, damit er im Auslaufgebiet nicht auffiel und Anschluß fand. Nach wüsten Drohungen, was ihm alles blühe, nähme Hektor im finsteren Wald Schaden, war Jakob mit neun Kilo Faltenwurf am Ende einer straßbesetzten violetten Leine zur U-Bahn gestiefelt, jetzt sicherte der schnaufende Knirps breitbeinig Jakob und die Lichtung.

Iris Gerber, das ehemalige Kind aus der Plattenbauwohnung im Osten der Stadt, hatte ein teures Penthouse am Potsdamer Platz bewohnt. Sie fuhr einen schneeweißen BMW-Roadster mit roten Ledersitzen, in ihrem Navigationsgerät war zwei Mal pro Woche als Ziel der Parkplatz Hüttenweg im Grunewald eingegeben. Sie war regelmäßig im Auslaufgebiet gewesen. Im Kofferraum des Wagens lag eine Sporttasche mit zwei Garnituren frisch duftender Joggingkleidung, daneben zwei Paar identische Laufschuhe, am einen hing noch das atemberaubende Preisschild.

Heute war einer der Joggingtage, die Zeit stimmte, Jakob wollte ihre Laufstrecke rekonstruieren und Zeugen finden. Falls Jakob das Finden nicht verlernt hatte. Immerhin mußte er, wenn er sich täppisch anstellte, kein hämisches Kollegenpublikum befürchten, keine Buche wußte, wie sich ein professioneller Kriminaler und wie ein auf den Kopf gefallener Exbulle benahm. Oskar hatte, als er das ungewohnte Fremdeln seines Freundes bemerkte, gefeixt, er könne ihn ja vom Wald aus anrufen, falls gar niemand vorbeikäme.

Hektor stromerte durchs Gebüsch, als sich Jakob auf dem Weg ein Rudel Wölfe näherte. Jakob rief nach dem Knirps, aber Hektor reagierte nicht. Das hier war weder sein Friseursalon noch ein Schöneberger Bürgersteig, und er eindeutig im Urlaub.

Also ging Jakob allein auf ein Dutzend freilaufende Hunde zu. Immerhin ragte ein Erziehungsberechtigter aus ihrer Mitte. Jakob erkannte Rottweiler, Terrier, Boxer, Schäferhundmischlinge und einen Labrador. Nichtsahnend brach der gut gelaunte Hektor aus dem Unterholz.

Jakob sah sich schon auf der Suche nach einer neuen Friseurin, aber der Schöneberger hielt sich tapfer. Alle beugten sich freudig zu dem drallen Zwerg hinunter, beschnupperten gedetschte Schnauze und Ringelschwanz. Das Straßgeschirr blinkte eitel und Hektor setzte sich erst einmal.

»Napoleon, nicht so aufdringlich«, sagte der Mann. Der Labrador nahm die Nase aus Hektors Hinterteil.

»Hören die alle so gut?«, fragte Jakob und behielt den Rottweiler im Auge.

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22 декабря 2023
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